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Geschichten
"Unter Kontrolle halten"
Die Stasi und der Super-GAU von Tschernobyl
Am 26. April 1986 ereignete sich in Block 4 des sowjetischen Kernkraftwerks Tschernobyl ein katastrophaler Unfall. Die Besatzung verlor die Kontrolle über den Reaktor, er explodierte. Eine radioaktive Wolke zog über Europa. Für die
Stasi wurde das Unglück zur Herausforderung: sie musste die politischen und wirtschaftlichen Folgen für die
SED-Diktatur eindämmen.
Stasi-Chef Mielke gab den Befehl, die Sache "unter Kontrolle" zu halten.
"Unter Kontrolle halten"
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Einleitung
Am 26. April 1986 ereignete sich in Block 4 des sowjetischen Kernkraftwerks Tschernobyl ein katastrophaler Unfall. Während einer Übung, bei der ein Stromausfall simuliert wurde, verlor die Besatzung die Kontrolle über den Reaktor. Block 4 explodierte, große Mengen an radioaktiven Stoffen gelangten in die Atmosphäre. Sie verseuchten nicht nur die unmittelbare Umgebung des Kraftwerks. Eine Wolke mit strahlendem Material zog über ganz Europa. Tschernobyl war ein Super-GAU, eine bis dahin beispiellose Katastrophe mit Folgen, die bis heute spürbar sind.
Die Stasi erfuhr von den Vorkommnissen in Tschernobyl zunächst nichts. Die Sowjetunion versuchte, die Katastrophe geheim zu halten, und machte auch für die sozialistischen Partner keine Ausnahme. Erst als zwei Tage nach dem GAU in Schweden erhöhte Strahlungswerte gemessen wurden, sah sich Moskau zu einer Mitteilung genötigt. Schmallippig ließ man die staatliche Nachrichtenagentur einen "Unfall" in einem ukrainischen Atomkraftwerk einräumen. Die Schwere des Unglücks blieb aber zunächst unklar.
Auch die Stasi musste sich erst über das Staatliche Amt für Atomsicherheit und Strahlenschutz der DDR (SAAS) sowie westliche Medien Informationen beschaffen. Das SAAS verfügte zwar auch über keine genaueren Erkenntnisse zum Unglück, erhielt jedoch immerhin Meldungen der Internationalen Atomenergie-Organisation IAEA in Wien, die seit den verdächtigen Messwerten in Skandinavien alarmiert war.
In einem ersten Bericht fasste das Amt die spärlichen Informationen zusammen und beschrieb die in Tschernobyl eingesetzte Technik sowie die geographische Lage des Reaktors. Erste eigene Messungen der Strahlenbelastung in Ostdeutschland ergaben zunächst nichts Aufregendes. Tenor des Berichts: Kein Grund zur Panik.
Einleitung
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Bericht über die Havarie im Kernkraftwerk Tschernobyl
Bericht über die Havarie im Kernkraftwerk Tschernobyl
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Querschnitt und technische Daten des havarierten Reaktors im Kernkraftwerk Tschernobyl
Querschnitt und technische Daten des havarierten Reaktors im Kernkraftwerk Tschernobyl
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Verstrahlte Milch
Wenige Tage später, am 3. Mai 1986, änderte sich die Einschätzung des SAAS. Zu diesem Zeitpunkt zeigten Messreihen erstmals, dass die radioaktive Belastung im Biozyklus anstieg. Kühe fraßen belastete Pflanzen, wodurch zunächst in der Milch erhöhte radioaktive Konzentrationen entstanden.
Diese Kontamination der Milch überstieg an einigen Messpunkten bereits deutlich die Richtwerte, unter denen ein Verzehr für Kleinkinder als unbedenklich galt. Nach wie vor sah das SAAS jedoch keinen Anlass, die Öffentlichkeit zu alarmieren.
Verstrahlte Milch
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Bericht zur radioaktiven Strahlenbelastung in der DDR nach dem Reaktorunglück in Tschernobyl
Bericht zur radioaktiven Strahlenbelastung in der DDR nach dem Reaktorunglück in Tschernobyl
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Hilferuf aus Moskau
Das Komitee für Staatssicherheit der Sowjetunion (KGB) rückte immer noch keine Informationen zum Reaktorunglück heraus. Der Dienst fragte jedoch am 29. April 1986 beim MfS an, wie in der DDR Brände in Kernkraftwerken gelöscht werden sollten, und wie sich Rettungskräfte gegen hohe Strahlenbelastung schützen würden.
Offenbar suchte der KGB dringend nach Anregungen, wie sich die Folgen der Katastrophe bewältigen ließen. In Tschernobyl brannte unterdessen der Reaktorkern. Ein Gemisch aus Beton, Graphit und den geschmolzenen Brennstäben hatte eine lavaartige Masse gebildet. Löschversuche mit Sand, Borsäure und später Blei, wegen der hohen Strahlung aus großer Höhe abgeworfen, waren ohne Wirkung geblieben. Der geschmolzene Kern glühte mit einer Temperatur von über 1 200 Grad Celsius weiter. Bei den Löscharbeiten an den Kraftwerksgebäuden und verzweifelten Notfallmaßnahmen innerhalb des Reaktors wurden zahlreiche Einsatzkräfte schwer verstrahlt, 28 von ihnen starben zwischen einer Woche und weniger Monate nach dem Unglück.
Das MfS lieferte pflichtschuldig die angefragten Informationen. Man konnte dem KGB jedoch wenig Handfestes bieten: Am 9. Mai sandte die Stasi eine Sammlung wissenschaftlicher Artikel und eine einschlägige Publikation aus der Bundesrepublik, ein Bulletin und allgemeine Informationen der IAEA, die Promotion eines Mitarbeiters des SAAS sowie "Lösungsvorschläge und Ideen" zweier Experten.
Hilferuf aus Moskau
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Übergabe von Materialien an den KGB wegen der Havarie in Tschernobyl
Übergabe von Materialien an den KGB wegen der Havarie in Tschernobyl
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Inoffizielle Informationen
Genaueres über den tatsächlichen Hergang der Katastrophe erfuhr das MfS jedoch erst sechs Wochen nach dem Super-GAU. Am 5. Juni informierten der sowjetische Energieminister Anatoli Majorez und der Vorsitzende des staatlichen Komitees für die Nutzung der Atomenergie der UdSSR Andronik Petrosjanz den Energieminister der DDR Wolfgang Mitzinger über die Havarie in Tschernobyl. IMS "Werner Lorenz" nahm an dem Gespräch teil und berichtete der Stasi ausführlich.
Nach sowjetischer Darstellung war es vor allem menschliches Versagen, das zu dem Unglück geführt hatte. Heute weiß man, dass ein Zusammenspiel von Konstruktionsmängeln und Fehlreaktionen des Personals die Kernschmelze verursacht hatten.
In jedem Fall war es im Reaktor zu einem unkontrollierten Anstieg der Leistung gekommen. Die resultierende Explosion hob den gut tausend Tonnen schweren Deckel des Reaktors ab und legte den schmelzenden Kern frei. Im Reaktorkern selbst fingen 250 Tonnen Graphit, ein Bestandteil des Reaktoraufbaus, beim Kontakt mit der Luft Feuer. Durch die immense Hitze dieses Brandes wurde radioaktives Material nicht nur in die unmittelbare Umgebung geschleudert, sondern gelangte als Staub und Gas in große Höhen. Von dort trieb es als Wolke unter anderem Richtung Westen.
Inoffizielle Informationen
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Gespräch der Energieminister der DDR und Sowjetunion über das Reaktorunglück von Tschernobyl
Gespräch der Energieminister der DDR und Sowjetunion über das Reaktorunglück von Tschernobyl
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Sorge um die Wirtschaft
Neben der Gefahr durch die radioaktive Kontamination befürchtete die Stasi die Bedrohung für die Wirtschaft der DDR durch Tschernobyl. Der Außenhandel war für die DDR von großer Bedeutung. Nur durch den Verkauf von Waren ins westliche Ausland ließen sich dringend benötigte Devisen erwirtschaften. In der Bundesrepublik, einem der wichtigsten Handelspartner der DDR, reagierte man jedoch geschockt auf das Reaktorunglück – und mied Waren aus dem Osteuropa. Vor allem Lebensmittel aus der DDR, die zuvor gerne importiert worden waren, galten nun als gefährlich.
Die Stasi verzeichnete die Folgen genau. So verweigerte nun eine West-Berliner Molkerei die für den gesamten Monat Mai 1986 vereinbarte Abnahme von Frischmilch. Der DDR entgingen allein dadurch knapp 325 000 Valutaeinheiten. Das wären heute inflationsbereinigt etwa 286 000 Euro.
Gleichzeitig ließen auch die Bürger der DDR die Finger von frischen Lebensmitteln. Gemüse und Milch verkamen zu Ladenhütern. Milchpulver hingegen war mehr als üblich gefragt, so dass aus der verschmähten Frischmilch rasch Nachschub an Trockenmilch produziert wurde. So verbesserte Tschernobyl absurderweise die Versorgungslage in der DDR: Die Tage und Wochen bis Ende Mai 1986 waren vielleicht der einzige Zeitraum ihres Bestehens, in denen die Staatssicherheit von einem Überangebot in den Kaufhallen berichten konnte.
Sorge um die Wirtschaft
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Maßnahmen zur Sicherung der Versorgung der Bevölkerung trotz radioaktiver Belastung
Maßnahmen zur Sicherung der Versorgung der Bevölkerung trotz radioaktiver Belastung
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Schäden in der Produktion von Röntgenfilmen wegen des Reaktorunglückes in Tschernobyl
Schäden in der Produktion von Röntgenfilmen wegen des Reaktorunglückes in Tschernobyl
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Dekontamination
Schon kurz nach Bekanntwerden des Unglücks im Westen beschloss die Bundesregierung Grenzwerte für die radioaktive Belastung von Fahrzeugen an den Grenzen. PKW, LKW und Schienenfahrzeuge, bei denen höhere Belastungen gemessen wurden, durften die Grenze nicht passieren. Das erschwerte den ohnehin schon belasteten Außenhandel der DDR zusätzlich – weswegen die Stasi auf den Plan trat.
Innerhalb kürzester Zeit wurden vor der Grenze Kontrollpunkte eingerichtet, an denen die Strahlenbelastung der Fahrzeuge auf ihrem Weg in die Bundesrepublik gemessen wurde. Wenn nötig wurden die Fahrzeuge dekontaminiert, also gewaschen. Daran beteiligten sich auch Offiziere der Staatssicherheit. Die verstrahlten Abwässer wurden oftmals nicht sachgerecht entsorgt, sondern flossen ohne weitere Behandlung ab. An den eingerichteten Waschplätzen dokumentierte die Geheimpolizei noch Jahre später deutlich erhöhte Strahlenwerte.
Dekontamination
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Ausbildung von MfS-Angehörigen für den atomaren Ernstfall
Ausbildung von MfS-Angehörigen für den atomaren Ernstfall
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Information über zurückgewiesene Autos und Züge an der Grenze zur Bundesrepublik
Information über zurückgewiesene Autos und Züge an der Grenze zur Bundesrepublik
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"Unter Kontrolle halten"
Genau beobachtete die Stasi, wie die Bevölkerung der DDR auf das Unglück reagierte. Eine Woche nach Bekanntwerden der Katastrophe fasste die Zentrale Informations- und Auswertungsgruppe (ZAIG) der Stasi die Stimmung zusammen. Pflichtschuldig notiert der Bericht zunächst ganz im Sinne der Staatsführung Mitleidsbekundungen und dass unter den Bürgerinnen und Bürgern "Beruhigung und Befriedigung" eingetreten seien.
Jedoch kam die Stasi nicht umhin, den Unmut der Bevölkerung zur Kenntnis zu nehmen. Gerade die verharmlosende und unzureichende Berichterstattung in den Medien der DDR sorgte für Ärger. Denn durch das "Westfernsehen" waren die Bürger über das wahre Ausmaß des Unglücks durchaus im Bilde, und der Kontrast zur Berichterstattung der staatlichen Medien war offensichtlich.
Bei der Belegschaft des Kernkraftwerks "Bruno Leuschner" bei Greifswald bemerkte die Stasi Besorgnis. Die Ingenieure und Techniker des Kraftwerks stellten Fragen zu den Ursachen und Auswirkungen von Tschernobyl, einige von ihnen zweifelten an der Sicherheit der Kernkraftwerke sowjetischer Bauart in der DDR.
Der Stasi war es wichtig, die Ängste der Bürger vor der Zukunftstechnologie Atomkraft nicht aus dem Ruder laufen zu lassen. Proteste gegen die Kernkraft wie im Westen waren unbedingt zu verhindern. Zu einem Vermerk über ein Gespräch mit dem Präsidenten des SAAS, Georg Sitzlack, notierte Stasi-Chef Mielke handschriftlich, was die Arbeit der Stasi im Umgang mit Tschernobyl fortan prägen sollte: "unter Kontrolle halten".
"Unter Kontrolle halten"
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Reaktionen der DDR-Bevölkerung auf die Havarie im Kernkraftwerk Tschernobyl
Reaktionen der DDR-Bevölkerung auf die Havarie im Kernkraftwerk Tschernobyl
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Stimmungen und Reaktionen auf die Havarie im Kernkraftwerk Tschernobyl
Stimmungen und Reaktionen auf die Havarie im Kernkraftwerk Tschernobyl
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Bericht über die Beobachtung eines Rentners, dass der Verzehr von Salat und Milch abgelehnt wird
Bericht über die Beobachtung eines Rentners, dass der Verzehr von Salat und Milch abgelehnt wird
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Gespräch mit dem Präsidenten des Staatlichen Amtes für Atomsicherheit und Strahlenschutz (SAAS)
Gespräch mit dem Präsidenten des Staatlichen Amtes für Atomsicherheit und Strahlenschutz (SAAS)
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"Tschernobyl wirkt überall!"
Die tiefe Beunruhigung der Bürger nach dem Super-GAU von Tschernobyl ließ sich jedoch nicht einfach bei Seite wischen. Das Reaktorunglück mit seinen unabsehbaren Folgen für die Natur war ein wichtiger Impuls für die Umweltbewegung der DDR. Bereits Anfang Juni 1986 musste die Stasi registrieren, dass die Umwelt- und Friedensgruppen in der DDR zahlreiche Aktionen zu Tschernobyl organisierten.
Besondere Aufmerksamkeit der Stasi weckte der Appell "Tschernobyl wirkt überall". Mitglieder und Sympathisanten der Friedens- und Umweltbewegung richteten den Aufruf an Regierung und Bevölkerung. Am 5. Juni 1986 – dem Weltumwelttag – wurde der Aufruf dem Vorsitzenden des DDR-Ministerrates und der staatlichen Nachrichtenagentur ADN übergeben. Der Appell richtet sich nicht nur gegen die zivile Nutzung der Kernenergie, sondern geißelt auch die verschleiernde Informationspolitik der DDR.
Die Stasi reagierte sofort. Mielke-Stellvertreter Rudi Mittig wies alle Bezirksverwaltungen der Staatssicherheit an, "politisch-operative Maßnahmen" gegen die Unterzeichner des Appells einzuleiten, weitere Pläne der Organisatoren aufzudecken und diese frühzeitig zu verhindern. Insbesondere sollte die weitere Verbreitung des Appells verhindert werden.
"Tschernobyl wirkt überall!"
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Befehl zum Vorgehen gegen die Initiatoren des Appells "Tschernobyl wirkt überall"
Befehl zum Vorgehen gegen die Initiatoren des Appells "Tschernobyl wirkt überall"
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"Tschernobyl wirkt überall!" - Appell von Mitgliedern der Friedens- und Umweltbewegung in der DDR
"Tschernobyl wirkt überall!" - Appell von Mitgliedern der Friedens- und Umweltbewegung in der DDR
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Kampf gegen die Anti-Kernkraftwerksbewegung
Die Stasi hatte mit ihrer repressiven Linie teilweise Erfolg. Die ostdeutsche Anti-KKW-Bewegung konnte sich in der DDR-Diktatur weit weniger entfalten als jene in der Bundesrepublik. Dennoch zeigte sich die Staatssicherheit regelmäßig nervös und befürchtete zu jedem Jahrestag der Tschernobyl-Katastrophe öffentliche Proteste und Aktionen.
Tatsächlich engagierten sich viele Kernkraftgegner fortan für die Stilllegung der ostdeutschen Kernkraftwerke. Dieses Engagement ermutigte viele Mitglieder der Umweltbewegung 1989, in der Friedlichen Revolution aktiv zu sein.
Kampf gegen die Anti-Kernkraftwerksbewegung
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Aufnäher "Schlechte Aussichten für die Ostsee / KKW Nord"
Aufnäher "Schlechte Aussichten für die Ostsee / KKW Nord"
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Information des KGB über Aktivitäten der Umweltbewegung in der Umgebung von Kernkraftwerken
Information des KGB über Aktivitäten der Umweltbewegung in der Umgebung von Kernkraftwerken
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"Kernenergie für eine friedliche Zukunft"
Innerhalb des Apparates der Stasi blieb der Fortschrittsglaube an die Kernenergie ungebrochen. Ein Beispiel dafür ist ein Film, der 1987 entstand und den Betrieb und Ausbau des Kernkraftwerks bei Greifswald zeigt. Hier arbeiteten vier Reaktorblöcke, bis 1989 sollten vier weitere Blöcke ans Netz gehen. Dazu kam es nicht mehr. Das Kraftwerk wurde 1990 abgeschaltet, zeitgleich mit dem zweiten ostdeutschen Kernkraftwerk in Rheinsberg. So endete schon kurz nach der Friedlichen Revolution auch die Zeit der Atomkraft auf dem Gebiet der DDR.
"Kernenergie für eine friedliche Zukunft"
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"Kernenergie für eine friedliche Zukunft"
"Kernenergie für eine friedliche Zukunft"
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Weiterführende Literatur
- Swetlana Alexijewitsch: Tschernobyl. Eine Chronik der Zukunft, München 2015.
- Melanie Arndt: Auswirkungen des Reaktorunfalls auf die Bundesrepublik Deutschland und die DDR, Erfurt 2011.
- Melanie Arndt (Hrsg.): Politik und Gesellschaft nach Tschernobyl. (Ost-)Europäische Perspektiven, Berlin 2016.
- Ilko-Sascha Kowalczuk: Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR, München 2009.
- Joachim Radkau; Lothar Hahn: Aufstieg und Fall der deutschen Atomwirtschaft, München 2013.
- Christa Wolf: Störfall. Nachrichten eines Tages, Frankfurt am Main 2009.
Weiterführende Literatur