Signatur: BStU, MfS, ASt. I/1, Nr. 744/53, Bl. 55
Am 17. Juni 1953 geriet der 42-jährige Ernst Jennrich eher zufällig an einen Karabiner. Die zwei Schüsse, die er damit abgab, sollen einen Gefängniswärter tödlich getroffen haben. Ungeachtet der unklaren Beweislage wurde Jennrich zum Tode verurteilt. DDR-Präsident Wilhelm Pieck lehnte ein Gnadengesuch ab.
Vom 16. bis 21. Juni 1953 kam es in fast 700 Städten und Gemeinden der DDR zu Demonstrationen und Streiks. Begann der 17. Juni noch als Arbeiteraufstand, entwickelte er sich schnell zum Volksaufstand weiter. Er nahm vielerorts revolutionäre Züge an, bevor er mit Hilfe von russischen Panzern unterdrückt wurde.
Die Industriemetropole Magdeburg gehörte mit einer Zahl von etwa 50.000 Demonstranten zu den Städten, in denen sich die Volkserhebung am 17. Juni am intensivsten entwickelte. Die Elbestadt war ein Zentrum des Schwermaschinenbaus. Hier gab es mehrere große Werke mit zehntausenden Beschäftigten. Viele hatten von den Streiks und Demonstrationen in Ost-Berlin aus westlichen Radiosendern erfahren. Unter dem Ruf "Magdeburg folgt den Berlinern" zogen schließlich etwa 10.000 Arbeiterinnen und Arbeiter zum Stadtzentrum. Mehrere große Demonstrationszüge vereinigten sich im Stadtzentrum. Die Aufständischen besetzten eine Anzahl staatlicher Einrichtungen, darunter das Rathaus, die Bezirksleitungen der SED und der Freien Deutschen Jugend (FDJ) sowie den Bezirksvorstand der DDR-Einheitsgewerkschaft FDGB. Je länger die Demonstrationen andauerten, desto gewalttätiger wurden die Proteste. Immer wieder kam es bei diesen Besetzungen und Erstürmungen zu Zusammenstößen mit den Ordnungskräften.
Insgesamt wurden drei Zivilisten, zwei Polizisten und ein Stasi-Offizier getötet. Daneben gab es etliche Verletzte. Gegen Mittag trafen zwei sowjetische Panzer ein und sowjetische Soldaten begannen, den Aufstand zu unterbinden. Sowjetische Militärtribunale übernahmen die Bestrafung tatsächlicher oder vermeintlicher Rädelsführer des Aufstands.
Der Fall des 42-jährigen Gärtners Ernst Jennrich zeigt, wie willkürlich solche Todesurteile zustande kamen. Jennrich war am 17. Juni 1953 mit einem seiner vier Söhne im Stadtgebiet Magdeburgs unterwegs. Gegen Mittag trafen beide im Stadtzentrum auf die Demonstranten am Hasselbachplatz. Aus Neugier ging Ernst Jennrich dann zur Menschenmenge am nur unweit entfernten Gefängniskomplex in Magdeburg-Sudenburg. Wie er in späteren Verhören beim MfS zugab, kam er dort in den Besitz eines Karabiners der Polizei und feuerte zwei Schüsse ab. Die ihm vorgeworfene Erschießung eines Wachmanns bestritt er aber stets vehement. Schließlich habe er nach den Schüssen die Waffe zerschlagen, um sie unbrauchbar zu machen.
Ohne schlüssige Beweise, jedoch belastet durch Zeugenaussagen einiger VP-Angehöriger, wurde Ernst Jennrich am 25. August 1953 vom Bezirksgericht Magdeburg wegen Boykotthetze und Terror zu einer lebenslangen Zuchthausstrafe verurteilt. Der Magdeburger Bezirksstaatsanwalt legte dagegen Protest ein, dem sich das Oberste Gericht der DDR anschloss. Das Oberste Gericht hob das Urteil auf, weil angeblich die Aussagen der Zeugen für den Mordvorwurf an einem der Wachmänner ausreichend gewesen seien. Der Fall wurde neu verhandelt, das Bezirksgericht Magdeburg verurteilte Ernst Jennrich am 6. Oktober 1953 zum Tode.
Auf dem vorliegenden Dokument unterzeichnete der Präsident der DDR, Wilhelm Pieck, persönlich die Entscheidung, von einem Gnadenverfahren für Ernst Jennrich abzusehen.
Der Präsident
der Deutschen Demokratischen Republik
Der Staatssekretär
Berlin-Niederschönhausen
Ossietzkystrasse
den 8. Februar 1954
Entscheidung
Ich sehe davon ab, ein Gnadenverfahren für den von dem 1. Strafsenat des Bezirksgerichtes Magdeburg am 6. Oktober 1953 zum Tode verurteilten
einzuleiten.
gez. W. Pieck
Der Chef der Präsidialkanzlei
[Stempel: 6
Der Präsident
Die Präsidialkanzlei
Deutsche Demokratische Republik]
[Unterschrift]
(Opitz)
Staatssekretär.
Staatsverbrechen waren im StEG/1957 (§§ 13-27) und in Kapitel 2 des StGB/1968 (§§ 96-111) beschriebene politische Straftaten, die in die Zuständigkeit des MfS als strafrechtliches Untersuchungsorgan (HA IX) fielen, weil eine staatsfeindliche Absicht und/oder eine staatsgefährdende Wirkung unterstellt wurden.
Zu den Staatsverbrechen zählten diktaturspezifisch kodifizierte "klassische" politische Straftaten wie Hochverrat und Spionagedelikte sowie als Meinungs- und Organisationsdelikte definierte Handlungen (Staatsfeindliche Hetze, Staatsfeindliche Gruppenbildung), die in demokratischen Staaten als Ausübung von Grundrechten gelten würden, außerdem unterschiedliche Handlungen oder Unterlassungen, bei denen den Tätern eine staatsfeindlich motivierte Schädigungsabsicht unterstellt wurde (Diversion, Sabotage).
Die als Staatsverbrechen bezeichneten Straftatbestände stehen überwiegend in sowjetischer Rechtstradition und gehen letztlich auf Artikel 58 des StGB der RSFSR ("Konterrevolutionäre Verbrechen") zurück. Bis Februar 1958 wurden sie von DDR-Gerichten in Ermangelung konkreter strafrechtlicher Regelungen pauschal mit Hilfe von Artikel VI der Verfassung von 1949 ("Boykott- und Kriegshetze") geahndet.
Staatsverbrechen galten als schwere Straftaten; bei einigen Tatbeständen (Hochverrat, Spionage, Terror, Diversion, Sabotage) umfasste der Strafrahmen bis 1987 auch die Todesstrafe.
Zerschlagener Karabinerschaft als Beweismittel gegen den Beschuldigten Ernst Jennrich Dokument, 4 Seiten
Vermerk über die Ankündigung der Urteilsvollstreckung gegen Ernst Jennrich Dokument, 1 Seite
Erklärung eines Schöffen zum verordneten Todesurteil gegen Ernst Jennrich Dokument, 1 Seite
Dokumentation der Urteilsvollstreckung gegen Ernst Jennrich Dokument, 1 Seite