Signatur: BStU, MfS, HA XXII, Nr. 5847, Bd. 2, Bl. 442-447
Wenige Tage nach Abschluss der KSZE-Konferenz in Helsinki 1975 wies Stasi-Minister Erich Mielke seine Mitarbeiter an, die Folgen der Unterzeichnung abzuschätzen.
Im August 1975 unterzeichnete die DDR die Schlussakte der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE). Auf dem Papier verpflichtete sie sich damit zur Wahrung der Menschenrechte und Grundfreiheiten im Land. Nach der Unterschrift unter das Vertragswerk beauftragte jedoch die SED ihre Geheimpolizei, unerwünschte Nebenwirkungen, wie das Beharren der Menschen auf Ausreise oder zunehmende Westkontakte, zu bekämpfen – den Bürgern der DDR also weiterhin ihre Menschenrechte vorzuenthalten.
Schon wenige Tage nach Abschluss der Konferenz wies der Minister für Staatssicherheit, Erich Mielke, alle Diensteinheiten an, die Folgen der Unterzeichnung für die ostdeutsche Geheimpolizei abzuschätzen. Die Mitarbeiter der Staatssicherheit sollten sich gründlich mit der Schlussakte von Helsinki und den Reden Honeckers und Breschnews zum Thema vertraut machen.
Für das MfS definierte Mielke die Aufgabe, frühzeitig zu erkennen, welche Gefahren sich aus den veränderten Rahmenbedingungen ergeben könnten. Von den einzelnen Diensteinheiten forderte er Informationen aus den "nichtsozialistischen Staaten" über das weitere Vorgehen in der Deutschlandpolitik, die Unterbindung von Forderungen nach Umsetzung der Beschlüsse im eigenen Land und Berichte über die Reaktionen in der Bevölkerung auf Helsinki.
Das MfS steht vor der Aufgabe, alle Versuche der Entspannungsgegner und anderer imperialistischer Kreise, die Konferenzergebnisse für ihre gegen die DDR und andere sozialistische Staaten gerichte ten Ziele auszunutzen und zu mißbrauchen sowie feindlich-negative und politisch schwankende Personen in der DDR zu feindlich-negativen Handlungen zu aktivieren, rechtzeitig mit allen zur Verfügung stehenden geeigneten Kräften sowie Mitteln und Methoden aufzuklären und zu verhindern.
Zur Realisierung dieser verantwortungsvollen Aufgaben weise ich an:
1. Die HVA, alle operativen Hauptabteilungen / selbst. Abteilungen, Bezirksverwaltungen / Verwaltungen haben alle Möglichkeiten zu nutzen zur Beschaffung von Informationen, vor allem über
- Einschätzungen der Regierungen nichtsozialistischer Staaten, multilateraler Gremien (NATO, EG, Sozialistische Internationale) sowie weiterer führender politischer und wirtschaftlicher Kreise dieser Staaten über das Schlußdokument der KSZE, die während der KSZE in Helsinki stattgefundenen bilateralen Gespräche zwischen den Delegationen aus sozialistischen und nichtsozialistischen Staaten und die von den führenden Repräsentanten der sozialistischen Staaten abgegebenen Erklärungen;
- Pläne, Absichten und Maßnahmen der Regierungen nichtsozialistischer Staaten und anderer staatlicher Organe (besonders der USA und BRD);
zur weiteren Koordinierung bzw, Modifizierung ihrer "Ost-und Deutschlandpolitik" besonders im Rahmen der NATO und der "Europäischen Politischen Zusammenarbeit" (EPZ) sowie daraus resultierender Hauptangriffsrichtungen,
unter Bezugnahme auf das Schlußdokument der KSZE (besonders die Abschnitte "Zusammenarbeit in den Bereichen der Wirtschaft, der.Wissenschaft und der Technik sowie der Umwelt" und "Zusammenarbeit in humanitären und anderen Bereichen"), bei künftigen Verhandlungen mit der DDR und anderen sozialistischen Staaten entsprechende Forderungen zur Verwirklichung der darin enthaltenen Konferenzergebnisse zu stellen bzw. diesbezügliche Vorschläge bei bi- und multilateralen Verhandlungen zu unterbreiten,
zur Fortsetzung der Wiener Verhandlungen über die Reduzierung von Streitkräften und Rüstungen in Mitteleuropa, der SALT-Gespräche, der Genfer Abrüstungskonferenz sowie weiterer anstehender Verhandlungen nach Abschluß der KSZE;
- Pläne, Absichten und Maßnahmen der Entspannungsgegner hinsicht lieh ihrer weiteren Sammlung und Formierung für den Kampf gegen die Ergebnisse der KSZE, gegen realistischere Kräfte im eigenen Lager sowie
auftretende Widersprüche und Differenzen im imperialistischen Lager zur Ausnutzung für die politisch-operative Arbeit;
Im Zusammenhang mit der Verwaltungsreform der DDR vom Sommer 1952 wurden die fünf Länderverwaltungen für Staatssicherheit (LVfS) in 14 Bezirksverwaltungen umgebildet. Daneben bestanden die Verwaltung für Staatssicherheit Groß-Berlin und die Objektverwaltung "W" (Wismut) mit den Befugnissen einer BV. Letztere wurde 1982 als zusätzlicher Stellvertreterbereich "W" in die Struktur der BV Karl-Marx-Stadt eingegliedert.
Der Apparat der Zentrale des MfS Berlin und der der BV waren analog strukturiert und nach dem Linienprinzip organisiert. So waren die Hauptabteilung II in der Zentrale bzw. die Abteilungen II der BV für die Schwerpunkte der Spionageabwehr zuständig usw. Auf der Linie der Hauptverwaltung A waren die Abteilung XV der BV aktiv. Einige Zuständigkeiten behielt sich die Zentrale vor: so die Militärabwehr (Hauptabteilung I) und die internationalen Verbindungen (Abteilung X) oder die Arbeit des Büros für Besuchs- und Reiseangelegenheiten in Westberlin (Abteilung XVII). Für einige Aufgabenstellungen wurde die Bildung bezirklicher Struktureinheiten für unnötig erachtet. So gab es in den 60er und 70er Jahren für die Abteilung XXI und das Büro der Leitung II Referenten für Koordinierung (RfK) bzw. Offiziere BdL II. Für spezifische Aufgaben gab es territorial bedingte Diensteinheiten bei einigen BV, z. B. in Leipzig ein selbständiges Referat (sR) Messe, in Rostock die Abt. Hafen.
An der Spitze der BV standen der Leiter (Chef) und zwei Stellv. Operativ. Der Stellv. für Aufklärung fungierte zugleich als Leiter der Abt. XV. Die Schaffung des Stellvertreterbereichs Operative Technik im MfS Berlin im Jahre 1986 führte in den BV zur Bildung von Stellv. für Operative Technik/Sicherstellung.
Die in der DDR herrschende diffuse Furcht vor dem Staatssicherheitsdienst hatte verschiedene Gründe. Die Angst, einfach abgeholt werden zu können und dann für unbestimmte Zeit zu verschwinden, spielte dabei eine nicht geringe Rolle. Reale Grundlage für diese Angst war das zwar geheime, aber zumindest durch Gerüchte und Vermutungen sehr präsente Haftsystem des MfS.
Schwerpunkt dieses Haftsystems waren 15 Untersuchungshaftanstalten (UHA) auf der Ebene der MfS-Bezirksverwaltungen. Außerdem gab es noch zwei UHA auf Ministeriumsebene in Ostberlin: in der Genslerstraße in Hohenschönhausen (UHA I) und in der Magdalenenstraße in Lichtenberg (UHA II). Das bekannteste MfS-Gefängnis war jedoch die Strafvollzugsanstalt Bautzen II, ein altes Gerichtsgefängnis in Bautzens Innenstadt. Formal betrachtet, unterstand dieses häufig als MfS-Sonderhaftanstalt bezeichnete Gefängnis jedoch der Verwaltung Strafvollzug des DDR-Innenministeriums (MdI); faktisch entschied hier jedoch das MfS über alle wichtigen Fragen, von der Auswahl der Angestellten bis zur Einweisung der Häftlinge.
Das größte MfS-Gefängnis war gleichzeitig das unbekannteste: In Berlin-Hohenschönhausen befand sich unmittelbar neben der Untersuchungshaftanstalt das sog. Lager X, ein Haftarbeitslager für bis zu 900 männliche Strafgefangene. Es existierte von Anfang der 50er bis Mitte der 70er Jahre. Weiterhin gab es in allen Untersuchungshaftanstalten des MfS eigene Strafgefangenenarbeitskommandos (SGAK).
Es gilt also zu unterscheiden zwischen Untersuchungshaft und Strafvollzug. Nur ein kleiner Teil der MfS-Untersuchungshäftlinge kam nach einer rechtskräftigen Verurteilung auch in den Strafvollzug des MfS. In Bautzen II wurden bekannte politische Häftlinge untergebracht, aber auch Gefangene, die wegen schwerwiegender Spionagevorwürfe verurteilt worden waren. Ins Lager X und in die SGAK der Untersuchungshaftanstalten wurden nur verhältnismäßig wenige politische Gefangene überstellt; hier wurden die Gefangenen vor allem für die Verrichtung von Arbeiten für das MfS eingesetzt und daher auch unter dem Gesichtspunkt beruflicher Qualifikation ausgewählt.
Dennoch wurden diese beiden Möglichkeiten wegen der - im Vergleich zum normalen Strafvollzug - besseren Haftbedingungen auch als Belohnung für besonders kooperative Häftlinge genutzt, gleichermaßen wegen der besonderen Geheimhaltung, aber auch zur Isolierung von straffällig gewordenen MfS-Mitarbeitern oder Funktionären aus Politik und Wirtschaft.
Das Hauptinteresse des MfS richtete sich auf die Untersuchungshaft. Hier führte das MfS in eigener Zuständigkeit strafprozessuale Ermittlungsverfahren durch und brachte die Beschuldigten in den eigenen Untersuchungshaftanstalten unter. Parallel zur normalen Untersuchungshaft, für die in der DDR seit 1952 nicht mehr die Justizverwaltung, sondern die Verwaltung Strafvollzug des MdI zuständig war, existierte hier ein paralleles Haftsystem für Beschuldigte, die vom MfS als Feinde eingestuft worden waren. Das gesonderte System umfasste nicht nur die Haftanstalten und die für die Ermittlungen zuständigen MfS-Mitarbeiter, sondern es erstreckte sich auch auf die Staatsanwaltschaften und Gerichte.
Für die Aufsicht in den vom MfS geführten Ermittlungsverfahren waren allein Staatsanwälte der Abteilungen I bzw. I A der General- bzw. Bezirksstaatsanwaltschaften zuständig, die vom MfS "bestätigt" worden waren. Das Gleiche galt für die für MfS-Fälle zuständigen Haftrichter. Formal wurden die Anforderungen der Strafprozessordnung zwar gewahrt, faktisch war jedoch das dort normierte System der Unterordnung der Ermittler unter die Staatsanwaltschaft sowie die Unabhängigkeit der Gerichte auf den Kopf gestellt (Justiz, Verhältnis des MfS zur).
Die Zuständigkeit für den Vollzug der Untersuchungshaft und den Strafvollzug lag im MfS bei der Abteilung XIV des Ministeriums sowie den ihr nachgeordneten Abteilungen XIV der Bezirksverwaltungen (Linie XIV). Für die Durchführung des Ermittlungsverfahrens waren die Hauptabteilung IX des Ministeriums sowie die ihr nachgeordneten Abteilungen IX der Bezirksverwaltungen (Linie IX), die im Außenkontakt als MfS-Untersuchungsabteilung firmierten, zuständig. Die Linien IX und XIV lagen im unmittelbaren Anleitungsbereich des Ministers für Staatssicherheit.
Die Haftbedingungen wandelten sich im Laufe der Zeit. Herrschten in den frühen 50er Jahren sehr einfache, an sowjetischen Verhältnissen orientierte, mitunter brutale Unterbringungs- und Umgangsformen vor - erinnert sei hier an das Kellergefängnis in Berlin-Hohenschönhausen, das sog. U-Boot -, besserten sich die materiellen Bedingungen danach langsam, aber kontinuierlich.
Von Häftlingen, die sowohl MfS- als auch MdI-Untersuchungshaftanstalten kennengelernt haben, werden die materiellen Unterbringungsbedingungen, also Zellenausstattung, Hygiene, Verpflegung etc. beim MfS regelmäßig als deutlich besser bezeichnet; innerhalb des MfS gab es ein Gefälle von der Ministeriumsebene zu den UHA der Bezirksverwaltungen. Umgekehrt wurden jedoch die Umgangsregeln beim MfS als unmenschlicher als beim MdI bezeichnet.
Beim MfS galt ein absolutes Primat der Sicherheit: Häftlinge wurden strikt voneinander getrennt; zwar gab es nicht nur Einzelhaft, aber es kam zu keinen zufälligen Begegnungen von Häftlingen untereinander. Sämtliche Kontakte wurden von der Untersuchungsabteilung gesteuert.
Die Häftlinge wurden außerhalb der Vernehmungen nicht mehr mit ihrem Namen, sondern nur mit einer Nummer angesprochen. MfS-Mitarbeitern war jede Kommunikation mit Häftlingen, die über das unbedingt dienstlich Erforderliche hinausging, streng verboten - schließlich hätten so Informationen vom MfS an die als Feinde betrachteten Häftlinge abfließen können. Alle eigentlich normalen Rechte von Inhaftierten, wie Besuchs-, Schreib-, Lese- oder Einkaufserlaubnis, Freigang, Versorgung mit Zigaretten, Kaffee oder Ähnliches, wurden als besondere Belohnung behandelt und von den Vernehmungsoffizieren zur gezielten Steuerung der Aussagebereitschaft eingesetzt.
Häftlinge fühlten sich so meist sehr schnell einem übermächtigen, weder durchschau- noch berechenbaren Apparat ohnmächtig ausgeliefert. Spezielle Methoden, wie die konspirative und überraschende Festnahme, die Einlieferung in geschlossenen Fahrzeugen, die Vermeidung jeglichen Sichtkontakts zu Orientierungspunkten außerhalb des Gefängnisses, die Wegnahme von Uhren und das Verbot von Schreibzeug und Aufzeichnungen in den Zellen, führten bei den Häftlingen oft zu einem Gefühl der räumlichen und zeitlichen Desorientierung.
Hinzu kam ein ausgeklügeltes Spitzelsystem unter den Häftlingen. Die Untersuchungsabteilungen sammelten gezielt Informationen unter den Häftlingen mit Hilfe angeworbener Zuträger, die zunächst als Kammeragenten (KA), später als Zelleninformatoren (ZI) bezeichnet wurden. Sie sollten von ihren Mithäftlingen jene Informationen erlangen, die diese in den Vernehmungen nicht preisgegeben hatten. Insbesondere in den 70er und 80er Jahren sollten sie Häftlinge oft aber auch nur in Gespräche zu bestimmten Themen oder Zusammenhängen verwickeln, die dann von der Untersuchungsabteilung mittels versteckter Abhöreinrichtungen in den Zellen aufgezeichnet und ausgewertet wurden.
Bei den Häftlingen führten diese Bedingungen häufig zu einem Gefühl psychischer Einkreisung, des Ausgeliefertseins und dem Schwinden jeglichen Widerstandsgeistes. Ohnehin hatten die meisten Häftlinge das berechtigte Empfinden einer extrem ungerechten Behandlung. Schließlich war seit Anfang der 60er Jahre die überwiegende Zahl Gefangener lediglich wegen ihrer Bestrebungen, die DDR in Richtung Westen zu verlassen, inhaftiert worden. Sie fühlten sich in ihrem Handeln im Einklang mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und diversen auch von der DDR unterzeichneten völkerrechtlichen Abkommen.
Eine weitere Häftlingsgruppe bildeten Menschen, die durch unerschrockene Wahrnehmung von oder Forderung nach politischen Rechten in den Augen der herrschenden Partei zu einer Gefahr für das Ansehen oder die Existenz der DDR geworden waren. Nur einem sehr kleinen Teil der Häftlinge wurden tatsächliche Staatsverbrechen zur Last gelegt.
Außerdem gab es neben den politischen Gefangenen auch noch Beschuldigte, denen gewöhnliche unpolitische Delikte angelastet wurden, die aber unter besonderer Geheimhaltung ermittelt und verhandelt werden sollten. Eine Rechtsgrundlage für den Betrieb von Untersuchungshaftanstalten durch das MfS gab es nicht. Der Strafvollzug des MfS widersprach seit Inkrafttreten des Strafvollzugsgesetzes 1968 ausdrücklich der geltenden Rechtslage. Die strafprozessuale Ermittlungstätigkeit des MfS war erst seit 1968 in der Strafprozessordnung explizit geregelt, fand aber auch vorher statt.
Eine besondere Bedeutung hatten die MfS-Haftanstalten auch für die Praxis des Häftlingsfreikaufs durch die Bundesrepublik. Seitens der DDR wurden die konkreten Freikaufaktionen vom MfS koordiniert und durchgeführt. Sämtliche freigekauften Häftlinge durchliefen kurz vor ihrer Entlassung in die Bundesrepublik daher noch die MfS-Untersuchungshaftanstalt Karl-Marx-Stadt, in der die letzten Formalitäten erledigt wurden und von wo aus die Busse in die Bundesrepublik abfuhren.
Organisationsstruktur in der MfS-Zentrale, die durch den Minister oder einen seiner Stellvertreter direkt angeleitet wurde. Die zuletzt 13 Hauptabteilungen wurden durch Einzelleiter geführt. Die weiter untergliederten und nach dem Linienprinzip tätigen HA waren für komplexe, abgegrenzte Bereiche operativ zuständig und federführend verantwortlich. Der Zuschnitt der Zuständigkeitsbereiche war an Ressorts oder geheimdienstlichen Praktiken (z. B. Verkehrswesen, Beobachtung, Funkspionage) orientiert.
Hauptverwaltung (HV) war eine Organisationseinheit in der MfS-Zentrale, die bereits ausdifferenzierte Aufgabenkomplexe in einer hierarchisch gegliederten Einheit zusammenfasst. Überwiegend durch Stellvertreter des Ministers direkt geleitet. Über das Gründungsjahrzehnt des MfS hinweg hatte nur die HV A als echte HV Bestand. Daneben war Hauptverwaltung eine Bezeichnung für Diensteinheiten im MfS ohne strukturell berechtigenden Hintergrund.
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Signatur: BStU, MfS, HA XXII, Nr. 5847, Bd. 2, Bl. 442-447
Wenige Tage nach Abschluss der KSZE-Konferenz in Helsinki 1975 wies Stasi-Minister Erich Mielke seine Mitarbeiter an, die Folgen der Unterzeichnung abzuschätzen.
Im August 1975 unterzeichnete die DDR die Schlussakte der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE). Auf dem Papier verpflichtete sie sich damit zur Wahrung der Menschenrechte und Grundfreiheiten im Land. Nach der Unterschrift unter das Vertragswerk beauftragte jedoch die SED ihre Geheimpolizei, unerwünschte Nebenwirkungen, wie das Beharren der Menschen auf Ausreise oder zunehmende Westkontakte, zu bekämpfen – den Bürgern der DDR also weiterhin ihre Menschenrechte vorzuenthalten.
Schon wenige Tage nach Abschluss der Konferenz wies der Minister für Staatssicherheit, Erich Mielke, alle Diensteinheiten an, die Folgen der Unterzeichnung für die ostdeutsche Geheimpolizei abzuschätzen. Die Mitarbeiter der Staatssicherheit sollten sich gründlich mit der Schlussakte von Helsinki und den Reden Honeckers und Breschnews zum Thema vertraut machen.
Für das MfS definierte Mielke die Aufgabe, frühzeitig zu erkennen, welche Gefahren sich aus den veränderten Rahmenbedingungen ergeben könnten. Von den einzelnen Diensteinheiten forderte er Informationen aus den "nichtsozialistischen Staaten" über das weitere Vorgehen in der Deutschlandpolitik, die Unterbindung von Forderungen nach Umsetzung der Beschlüsse im eigenen Land und Berichte über die Reaktionen in der Bevölkerung auf Helsinki.
- Pläne nichtsozialistischer Staaten sowie von führenden Wirtschaftskreisen, Konzernen, Unternehmerverbänden u. ä. dieser Staaten, die im Abschnitt "Zusammenarbeit in den Bereichen der Wirtschaft, der Wissenschaft und der Technik sowie der Umwelt" des KSZE-Schlußdokumentfes enthaltenen Ergebnisse für den Ausbau der Wirtschaftsbeziehungen mit den sozialistischen Staaten nach ihren Vorstellungen zu nutzen;
- Pläne, Absichten und Maßnahmen der imperialistischen Geheimdienste, der Zentren der politisch-ideologischen Diversion, Einrichtungen der "DDR--/Ostforschung" und ähnlicher Einrichtungen, unter mißbräuchlicher Ausnutzung des Schlußdokumentes die subversiven Aktivitäten zu verstärken;
- Pläne, Absichten und Naßnahmen rechtskonservativer Parteien, rechtsradikaler und linksextremistischer, maoistischer Kreise sowie Emigrantenorganisationen, besonders hinsichtlich der Organisierung politischer Provokationen, subversiver Aktivitäten u.ä. (besonders auch zu beachten im Hinblick auf geplante Störaktionen und politische Provokationen anläßlich des 14. Jahrestages der Errichtung des antifaschistischen Schutzwalles am 13.8.1975).
2. Die Leiter der operativen Diensteinheiten haben in ihren Verantwortungsbereichen zu gewährleisten, daß durch eine verstärkte vorbeugende politisch-operative Arbeit geplante feindlich-negative Handlungen im Zusammenhang mit den Ergebnissen der KSZE rechtzeitig festgestellt, aufgeklärt und wirksam unterbunden werden, insbesondere
- Versuche der Ausnutzung des grenzüberschreitenden Reiseverkehrs und des Transitverkehrs für feindliche Handlungen, insbesondere für den Mißbrauch zur Organisierung und Durchführung von Schleusungen seitens krimineller Menschenhändlerbanden, für Handlungen der staatsfeindlichen Hetze, der politisch-ideologischen Diversion u.a.
(Die von mir erlassenen und Ihnen in nächster Zeit zugehenden drei
"Dienstanweisung(en) über die politisch-operative Sicherung
der Einreisen von Personen aus nichtsozialistischen Staaten und Westberlin und ihres Aufenthaltes in der DDR";
(mit 1, Durchführungsbestimmung)
"... des Reiseverkehrs von Bürgern der DDR nach nichtsozialistischen Staaten und Westberlin";
(mit 1. Durchführungsbestimmung)
"... des Transitverkehrs durch das Staatsgebiet der DDR"
sowie die
"Dienstanweisung - Einleitung und Realisierung von Fahndungen im Reiseverkehr über die Staatsgrenze der DDR"
sind in diesem Zusammenhang konkret und sachbezogen anzuwenden.)
Organisationsstruktur in der MfS-Zentrale, die durch den Minister oder einen seiner Stellvertreter direkt angeleitet wurde. Die zuletzt 13 Hauptabteilungen wurden durch Einzelleiter geführt. Die weiter untergliederten und nach dem Linienprinzip tätigen HA waren für komplexe, abgegrenzte Bereiche operativ zuständig und federführend verantwortlich. Der Zuschnitt der Zuständigkeitsbereiche war an Ressorts oder geheimdienstlichen Praktiken (z. B. Verkehrswesen, Beobachtung, Funkspionage) orientiert.
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Signatur: BStU, MfS, HA XXII, Nr. 5847, Bd. 2, Bl. 442-447
Wenige Tage nach Abschluss der KSZE-Konferenz in Helsinki 1975 wies Stasi-Minister Erich Mielke seine Mitarbeiter an, die Folgen der Unterzeichnung abzuschätzen.
Im August 1975 unterzeichnete die DDR die Schlussakte der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE). Auf dem Papier verpflichtete sie sich damit zur Wahrung der Menschenrechte und Grundfreiheiten im Land. Nach der Unterschrift unter das Vertragswerk beauftragte jedoch die SED ihre Geheimpolizei, unerwünschte Nebenwirkungen, wie das Beharren der Menschen auf Ausreise oder zunehmende Westkontakte, zu bekämpfen – den Bürgern der DDR also weiterhin ihre Menschenrechte vorzuenthalten.
Schon wenige Tage nach Abschluss der Konferenz wies der Minister für Staatssicherheit, Erich Mielke, alle Diensteinheiten an, die Folgen der Unterzeichnung für die ostdeutsche Geheimpolizei abzuschätzen. Die Mitarbeiter der Staatssicherheit sollten sich gründlich mit der Schlussakte von Helsinki und den Reden Honeckers und Breschnews zum Thema vertraut machen.
Für das MfS definierte Mielke die Aufgabe, frühzeitig zu erkennen, welche Gefahren sich aus den veränderten Rahmenbedingungen ergeben könnten. Von den einzelnen Diensteinheiten forderte er Informationen aus den "nichtsozialistischen Staaten" über das weitere Vorgehen in der Deutschlandpolitik, die Unterbindung von Forderungen nach Umsetzung der Beschlüsse im eigenen Land und Berichte über die Reaktionen in der Bevölkerung auf Helsinki.
- Versuche der Einschleusung von Druckerzeugnissen, in denen die Ergebnisse der KSZE nach westlicher Terminologie interpretiert bzw. verfälscht werden und die geeignet sind, bestimmte Personenkreise in der DDR zu feindlich-negativen Handlungen zu aktivieren;
- staatsfeindliche Hetze in mündlicher und schriftlicher Form, anonyme und pseudonyme mündliche oder schriftliche Drohungen, Auftreten von Personen mit demonstrativen und anderen provokatorischen Handlungen unter Bezugnahme auf die Ergebnisse der KSZE;
- politisch-operativ bedeutsame Aktivitäten von bevorrechteten Personen und Korrespondenten nichtsozialistischer Staaten gegenüber staatlichen und wirtschaftsleitenden Organen, Betrieben, Kombinaten und Einrichtungen sowie gesellschaftlichen Organisationen;
- verstärkte Versuche, unter Berufung auf die Ergebnisse der KSZE Anträge auf Übersiedlung in nichtsozialistische Staaten und nach Westberlin (u.a. zum Zwecke der Familienzusammenführung), auf Eheschließung mit Bürgern nichtsozialistischer Staaten und Westberlins, auf Entlassung aus der Staatsbürgerschaft, auf Ausreise aus der DDR mit den verschiedensten Begründungen (z.B. durch nicht antragsberechtigte - Personen) zu stellen;
- Bestrebungen vor allem von Einrichtungen und gesellschaftlichen Organisationen sowie von bedeutenden Einzelpersonen der DDR, bei Umgehung der dafür geltenden staatlichen Regelungen Kontakte nach nichtsozialistischen Staaten, besonders nach der BRD und Westberlin, aufzunehmen;
- Provokationen, Angriffe und andere terroristische Aktivitäten, die gegen die Unverletzlichkeit der Staatsgrenze der DDR zur BRD und Westberlin gerichtet sind.
3. Die Reaktion der Bevölkerung der DDR u.a. Personen auf die Ab Schlußphase der KSZE und das Schlußdokument ist sorgfältig und umfassend einzuschätzen.
Dabei sind folgende Probleme besonders zu beachten:
- Wertung der Konferenzergebnisse und des Auftretens der Delegationen der Staaten der sozialistischen Gemeinschaft und führender Politiker nichtsozialistischer Staaten durch die verschiedenen Personenkreise in der DDR;
- Vorstellungen, Erwartungen und Spekulationen im Zusammenhang mit den im Schlußdokument enthaltenen Ergebnissen und den während der Konferenz geführten persönlichen Gesprächen zwischen den Repräsentanten der teilnehmenden Staaten.
Organisationsstruktur in der MfS-Zentrale, die durch den Minister oder einen seiner Stellvertreter direkt angeleitet wurde. Die zuletzt 13 Hauptabteilungen wurden durch Einzelleiter geführt. Die weiter untergliederten und nach dem Linienprinzip tätigen HA waren für komplexe, abgegrenzte Bereiche operativ zuständig und federführend verantwortlich. Der Zuschnitt der Zuständigkeitsbereiche war an Ressorts oder geheimdienstlichen Praktiken (z. B. Verkehrswesen, Beobachtung, Funkspionage) orientiert.
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Anweisung zur Überwachung "feindlich-negativer Kräfte" während der KSZE-Konferenz Dokument, 2 Seiten
Rede von Mielke zur Unterzeichnung des Abschlussdokuments des KSZE-Folgetreffens in Wien Dokument, 63 Seiten
"Feindliche Ausnutzung" der KSZE-Beschlüsse durch die Bundesrepublik Deutschland, die USA und Frankreich Dokument, 7 Seiten
Auswertung westdeutscher Medienberichte über die Umsetzung der KSZE-Beschlüsse in der DDR Dokument, 8 Seiten