Signatur: BStU, MfS, BV Erfurt, AU, Nr. 206/53, Bd. 2, Bl. 3
Bereits im Vorfeld des 17. Juni 1953 schloss sich in Eckolstädt die Dorfbevölkerung zusammen, um gegen zu hohe Ablieferpflichten für die Landwirte zu protestieren. Nachdem einige Dorfbewohner die Nachricht vom Volksaufstand in Berlin verbreiteten, begann auch in Eckolstädt ein Aufruhr. Der Pfarrer Edgar Mitzenheim war maßgeblich an der Organisation der Protestbewegung beteiligt.
Am 17. Juni 1953 entlud sich der Unmut großer Teile der DDR-Bevölkerung über die SED-Herrschaft und den verschärften Aufbau des Sozialismus. Waren es zunächst wirtschaftliche Forderungen, die die Menschen auf die Straße trieben, entwickelten sich die Demonstrationen an diesem Tag schnell zu einem Volksaufstand, in dessen Verlauf auch weitgehende politische Forderungen laut wurden.
Im Dorf Eckolstädt, 6 Kilometer südlich von Camburg und zehn Kilometer östlich von Apolda gelegen, wohnten 1953 nicht einmal 500 Menschen. Hier stürmten aufgebrachte Bürger am 17. Juni ein FDJ-Gebäude und verbrannten Propagandamaterialien. Ihr Hauptanliegen war es, vier inhaftierte Bauern ihrer Gemeinde zu befreien sowie das Ablieferungs-Soll für landwirtschaftliche Erträge zu senken. Die Protestbewegung war maßgeblich von Dorfpfarrer Edgar Mitzenheim organisiert worden. Er war hier seit 1922 im Dienst der Evangelischen Kirche tätig.
Am 18. Juni 1953 wurde Edgar Mitzenheim verhaftet. In dem vorliegenden Haftbefehl wird Mitzenheim der Boykotthetze sowie der "Propaganda für den Nationalsozialismus" beschuldigt. In einem öffentlichen Prozess in Erfurt verhängte das Gericht am 18. Juli 1953 eine sechsjährige Zuchthausstrafe gegen Edgar Mitzenheim. Die drei Mitangeklagten erhielten Haftstrafen von zwei Jahren, einem Jahr bzw. sechs Monaten. Mehrfach setzten sich Kollegen von Mitzenheim und sein Bruder, der Bischof, für eine Herabsetzung der Strafe ein. Die zuständigen Stellen lehnten jedoch alle Anträge ab. Ende Juni 1956, drei Jahre vor Ablauf der Haftstrafe, kam Pfarrer Edgar Mitzenheim frei.
Das Kreisgericht
215 - 94/53
Erfurt, den 21.06.1953
Der Pfarrer
Mitzenheim, Edgar
geb. am 15.11.1896 in Hildburghausen, wohnhaft in Eckolstädt / Kreis Apolda [anonymisiert]
deutsch, verheiratet, vorbestraft
ist zur Untersuchungshaft zu bringen
Er wird beschuldigt am 13.06.1953 in Eckolstädt Boykotthetze gegen demokratischen Eiinrichtungen und Kriegshetze betrieben, sowie durch Propaganda fpr den Nationalsozialismus den Frieden des deutschen Volkes und der Welt gefähedet zu haben, indem er als Pfarrer aus der Haft entlassene Bauern feierlich empfangen und dabei den Sturz der Regierung und der Vokskammer gefordert hat.
Verbrechen nach Artikel 6 der Verfassung der DDR KD. 38, Abschnitt II, Artikel III, A III
Er ist dieser Straftat dringend verdächtigt und Fluchverdacht ist gesetzlich begründet.
Gegen diesen Haftbefehl ist das Rechtsmittel der Beschwerde zulässig.
[Unterschrift: [unleserlich]]
[Siegel-Stempel: Der Haftrichter des Bezirks Erfurt]
Im Zusammenhang mit der Verwaltungsreform der DDR vom Sommer 1952 wurden die fünf Länderverwaltungen für Staatssicherheit (LVfS) in 14 Bezirksverwaltungen umgebildet. Daneben bestanden die Verwaltung für Staatssicherheit Groß-Berlin und die Objektverwaltung "W" (Wismut) mit den Befugnissen einer BV. Letztere wurde 1982 als zusätzlicher Stellvertreterbereich "W" in die Struktur der BV Karl-Marx-Stadt eingegliedert.
Der Apparat der Zentrale des MfS Berlin und der der BV waren analog strukturiert und nach dem Linienprinzip organisiert. So waren die Hauptabteilung II in der Zentrale bzw. die Abteilungen II der BV für die Schwerpunkte der Spionageabwehr zuständig usw. Auf der Linie der Hauptverwaltung A waren die Abteilung XV der BV aktiv. Einige Zuständigkeiten behielt sich die Zentrale vor: so die Militärabwehr (Hauptabteilung I) und die internationalen Verbindungen (Abteilung X) oder die Arbeit des Büros für Besuchs- und Reiseangelegenheiten in Westberlin (Abteilung XVII). Für einige Aufgabenstellungen wurde die Bildung bezirklicher Struktureinheiten für unnötig erachtet. So gab es in den 60er und 70er Jahren für die Abteilung XXI und das Büro der Leitung II Referenten für Koordinierung (RfK) bzw. Offiziere BdL II. Für spezifische Aufgaben gab es territorial bedingte Diensteinheiten bei einigen BV, z. B. in Leipzig ein selbständiges Referat (sR) Messe, in Rostock die Abt. Hafen.
An der Spitze der BV standen der Leiter (Chef) und zwei Stellv. Operativ. Der Stellv. für Aufklärung fungierte zugleich als Leiter der Abt. XV. Die Schaffung des Stellvertreterbereichs Operative Technik im MfS Berlin im Jahre 1986 führte in den BV zur Bildung von Stellv. für Operative Technik/Sicherstellung.
Der schriftliche richterliche Haftbefehl bildete die Grundlage für eine reguläre Verhaftung (§ 114 StPO/1949; § 142 StPO/1952; § 124 StPO/1968). Beschuldigte oder Angeklagte mussten unverzüglich, spätestens am Tage nach ihrer Ergreifung dem zuständigen Gericht vorgeführt werden (§§ 114 b, 128 StPO/1949; §§ 144, 153 StPO/1952; § 126 StPO/1968) – vor allem in den frühen 50er Jahren wurde diese Frist vom MfS teilweise überschritten und der Zeitpunkt der Festnahme entsprechend geändert. Auch wurden die Festgenommenen nicht bei Gericht vorgeführt, die vom MfS ausgewählten Haftrichter kamen zur Ausstellung des Haftbefehls in die Untersuchungshaftanstalten.
Rechtliche Voraussetzungen für den Erlass eines Haftbefehls waren ein dringender Tatverdacht und ein gesetzlich definierter Haftgrund, z. B. Fluchtverdacht oder Verdunklungsgefahr (§ 112 StPO/1949; § 141 StPO/1952; § 122 StPO/1968) sowie während des Ermittlungsverfahrens ein Antrag des Staatsanwaltes; im Hauptverfahren konnte das Gericht auch ohne Antrag einen Haftbefehl erlassen. Laut einer Richtlinie des Obersten Gerichts der DDR vom 17.10.1962 lag ein Haftgrund auch vor bei "Verbrechen im Auftrag feindlicher Agenturen, bei konterrevolutionären Verbrechen" und "bei anderen schweren Verbrechen".
Staatsverbrechen waren im StEG/1957 (§§ 13-27) und in Kapitel 2 des StGB/1968 (§§ 96-111) beschriebene politische Straftaten, die in die Zuständigkeit des MfS als strafrechtliches Untersuchungsorgan (HA IX) fielen, weil eine staatsfeindliche Absicht und/oder eine staatsgefährdende Wirkung unterstellt wurden.
Zu den Staatsverbrechen zählten diktaturspezifisch kodifizierte "klassische" politische Straftaten wie Hochverrat und Spionagedelikte sowie als Meinungs- und Organisationsdelikte definierte Handlungen (Staatsfeindliche Hetze, Staatsfeindliche Gruppenbildung), die in demokratischen Staaten als Ausübung von Grundrechten gelten würden, außerdem unterschiedliche Handlungen oder Unterlassungen, bei denen den Tätern eine staatsfeindlich motivierte Schädigungsabsicht unterstellt wurde (Diversion, Sabotage).
Die als Staatsverbrechen bezeichneten Straftatbestände stehen überwiegend in sowjetischer Rechtstradition und gehen letztlich auf Artikel 58 des StGB der RSFSR ("Konterrevolutionäre Verbrechen") zurück. Bis Februar 1958 wurden sie von DDR-Gerichten in Ermangelung konkreter strafrechtlicher Regelungen pauschal mit Hilfe von Artikel VI der Verfassung von 1949 ("Boykott- und Kriegshetze") geahndet.
Staatsverbrechen galten als schwere Straftaten; bei einigen Tatbeständen (Hochverrat, Spionage, Terror, Diversion, Sabotage) umfasste der Strafrahmen bis 1987 auch die Todesstrafe.
Untersuchungshaft ist eine freiheitsentziehende Zwangsmaßnahme zur Sicherung des Strafverfahrens. Die Untersuchungshaft begann nach der Verkündung des Haftbefehls durch einen Richter und endete mit der Überstellung in den Strafvollzug nach Erlangung der Rechtskraft einer Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe, selten auch mit der Freilassung.
Voraussetzungen für die Anordnung der Untersuchungshaft waren ein dringender Tatverdacht sowie entweder Fluchtverdacht oder Verdunklungsgefahr (§ 112 StPO/1949, § 141 StPO/1952, § 122 StPO/1968). Der Vollzug der Untersuchungshaft war gesetzlich mit nur einem StPO-Paragraphen geregelt (§ 116 StPO/1949, § 147 StPO/1952, § 130 StPO/1968), alles Weitere in internen Ordnungen. Er erfolgte für Beschuldigte, deren Ermittlungsverfahren von der Staatssicherheit geführt wurden, in MfS-Untersuchungshaftanstalten in Berlin bzw. den Bezirksstädten der DDR.
Die Haftbedingungen waren dort von Willkür, völliger Isolation und daraus resultierender Desorientierung der Häftlinge gekennzeichnet. Für den Vollzug der Untersuchungshaft war im MfS die Linie XIV (Abt. XIV) zuständig; die Vernehmungen oblagen den Untersuchungsführern der Linie IX (HA IX).
Ein Untersuchungsvorgang war eine bei einem strafrechtlichen Ermittlungsverfahren des MfS und ggf. dem späteren Gerichtsverfahren entstandene Akte, die den Hergang des Strafverfahrens widerspiegelt und auch häufig Informationen zur Strafvollstreckung enthält.
Untersuchungsvorgänge zeigen die offizielle wie auch die inoffizielle Ebene des Verfahrens. Sie enthalten sowohl das strafprozessual legale Material (Haftbefehl, Vernehmungsprotokolle, Anklageschrift, Verhandlungsprotokoll, Urteil u. a.) als auch Dokumente geheimpolizeilichen Charakters, etwa zu konspirativen Ermittlungsmaßnahmen operativer Abteilungen oder Berichte von Zelleninformatoren.
Ein archivierter Untersuchungsvorgang kann bis zu sieben Bestandteile umfassen: Gerichtsakte, Beiakte zur Gerichtsakte, Handakte zur Gerichtsakte, Handakte zum Ermittlungsverfahren, Beiakte zur Handakte des Ermittlungsverfahrens, manchmal auch Vollstreckungsakten und ggf. die Akte des Revisions- oder Kassationsverfahrens.
Haftbeschluss gegen den Pfarrer Edgar Mitzenheim Dokument, 1 Seite
Resolution der Eckolstädter Einwohnerversammlung Dokument, 2 Seiten
Haftbefehl des Amtsgerichts Frankfurt (Oder) gegen einen Teilnehmer der Proteste in Fürstenberg Dokument, 1 Seite
Haftbefehl des Kreisgerichts Frankfurt (Oder) gegen einen am Volksaufstand beteiligten Arbeiter Dokument, 1 Seite