Signatur: BStU, MfS, ZAIG, Nr. 5337, Bl. 109-147
Die Entwicklung demokratischer Reformen in den anderen Ostblockstaaten verfolgte die DDR-Regierung sehr genau. Die Staatssicherheit berichtete der Partei- und Staatsführung im Juli 1989 daher über die politische Situation in den "sozialistischen Bruderländern".
Im Sommer 1989 war bereits seit Monaten zu erkennen, dass sich die DDR-Führung mit ihrem reformfeindlichen Kurs von den Entwicklungen der anderen Warschauer-Pakt-Staaten isolierte (vgl. 7.4.1989). Auch der SED-Spitze war das nicht verborgen geblieben, sie wiegte sich aber in dem Glauben, die DDR sei eine Insel der Stabilität, während die Reformstaaten (Ungarn, Polen und Sowjetunion) immer tiefer in Turbulenzen gerieten. Im Juni und Juli 1989 kamen mehrere Ereignisse zusammen, die zeigten, wie illusionär die Auffassung war, die DDR könne sich dem entziehen.
Im Nachbarland Polen errang die oppositionelle Solidarność bei den ersten halbfreien Wahlen am 4. und am 18. Juni 1989 einen erdrutschartigen Sieg. Bei den Verhandlungen am Runden Tisch beharrte die regierende "Koalition" aus Polnischer Vereinigter Arbeiterpartei (PVAP) und Blockparteien (Bauernpartei und Demokratische Partei) für die halbfreien Wahlen auf einem festen Kontingent von 65 Prozent der Mandate des Sejm (des Parlaments).
Der vorliegende Bericht der Zentralen Auswertungs- und Informationsgruppe (ZAIG) der Staatssicherheit umfasst neben der Wahl von General Wojciech Jaruzelski zum Präsidenten und die Entwicklung in der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei (PVAP) auch die wirtschaftliche Lage der Volksrepublik Polen. Ebenfalls werden die politischen Entwicklungen in den anderen staatssozialistischen Staaten in den Monaten Juni und Juli 1989 aus Sicht der DDR-Geheimpolizei zusammengefasst.
Erneute Preiserhöhungen Ausdruck ernster ökonomischer Lage
Die ökonomische Lage in der VRP ist derzeit sehr ernst und gekennzeichnet durch eine weitere Vertiefung der volkswirtschaftlichen Disproportionen mit verschärfter Wirkung auf die Versorgung sowohl der Produktionssphäre als auch der Bevölkerung. Infolge der sich weiter verschlechternden ökonomischen Lage und Versorgungssituation nehmen die gesellschaftlichen Spannungen zu.
Mit Rücksicht auf die Wahl des Präsidenten sowie die Regierungsbildung sind zwar große Preisveränderungen vorerst zurückgestellt worden, Ende Juni/Anfang Juli wurden jedoch erneut kurzfristig festgelegte Preiserhöhungen für Nahrungs- und Genußmittel (Zucker, Alkohol, Tabak), Benzin und Diesel sowie Dienstleistungen in kleinerem Umfang wirksam. Diese Preiserhöhungen resultierten nach Darstellung polnischer Genossen vor allem aus der akuten Gefahr des Zusammenbruchs der Marktversorgung mit diesen Waren und sollten den Staatshaushalt teilweise entlasten. Dadurch sei jedoch mit Lohnforderungen in allen Bereichen zu rechnen. (Ende Juni kam es zu Lohnstreiks in den Städtischen Verkehrsbetrieben von Bydgoszcz, Kielce und Torun. Mitte Juli streikten die Angestellten der Verkehrsbetriebe der Wojewodschaft Katowice und die Belegschaft der Werft "Pariser Kommune" in Gdynia. Zahlreiche Protestaktionen gibt es unter Mitarbeitern des Gesundheitswesens (Koszalin, Wroclaw, Katowice, Radom, Wojewodschaft Pila). In Poznan traten Ärzte und Krankenschwestern vor dem Rathaus der Stadt in einen Hungerstreik mit der Forderung nach gerechteren Löhnen und besseren Arbeitsbedingungen. Streiks und Streikandrohungen gibt es auch in anderen Bereichen und Betrieben.)
Es gebe in Partei und Regierung Befürchtungen, daß weitere Preiserhöhungen die Belastbarkeitsgrenze der Werktätigen überschreiten und nicht beherrschbare Reaktionen auslösen könnten. (Inzwischen wurden mit Wirkung vom 1. Juli die Preise und Löhne für einen Monat eingefroren.)
Das Politbüro des ZK der PVAP erörterte Ende Juni die Wirtschaftslage und charakterisierte diese als sehr schwierig und die Marktversorgung als sehr schlecht. Es orientierte darauf, die Benachteiligung des volkseigenen Sektors gegenüber anderen Eigentumsformen zu beseitigen. (Bei der Erörterung der Umgestaltung der Eigentumsverhältnisse in der Wirtschaft sprach sich das Politbüro für einen Pluralismus der Eigentumsformen nach dem Prinzip "es möge der effektivste und gesellschaftlich nützlichste Sektor gewinnen" aus. Eine Umgestaltung der Eigentumsverhältnisse könne jedoch nur auf der Grundlage einer gesetzlichen Regelung vorgenommen werden.
Aktien und Anteile von Gesellschaften sollten ausschließlich auf allgemein zugänglichen Börsen und Auktionen verkauft werden. Das Politbüro sei überzeugt, daß unter Teilnahme der Opposition im Parlament die Wirtschaftsprobleme besser und erfolgreicher gelöst werden könnten.)
Die ZAIG war das "Funktionalorgan" des Ministers für Staatssicherheit, die Schaltstelle im MfS, in der nahezu alle komplexen Stabsfunktionen konzentriert waren: die zentrale Auswertung und Information, einschließlich der Berichterstattung an die politische Führung, die Optimierung der entsprechenden Verfahren und Strukturen im Gesamtapparat des MfS, die zentralen Kontrollen und Untersuchungen und die Analyse der operativen Effektivität des MfS, die zentrale Planung und die Erarbeitung dienstlicher Bestimmungen, zudem die übergeordneten Funktionen im Bereich EDV sowie die Gewährleistung des internationalen Datenaustauschsystems der kommunistischen Staatssicherheitsdienste (SOUD). Nach der Eingliederung der Abteilung Agitation 1985 waren auch die Öffentlichkeitsarbeit und die Traditionspflege des MfS in der ZAIG als "Bereich 6" funktional verankert. Die ZAIG war im direkten Anleitungsbereich des Ministers angesiedelt; ihr waren zuletzt die formal selbständigen Abt. XII, XIII (Rechenzentrum) und die Rechtsstelle fachlich unterstellt.
Die ZAIG geht auf die nach dem Juniaufstand 1953 gegründete und von Heinz Tilch geleitete Informationsgruppe (IG) der Staatssicherheitszentrale zurück, die erstmals eine regelmäßige Lage- und Stimmungsberichterstattung für die Partei- und Staatsführung hervorbrachte. Diese entwickelte sich 1955/56 zur Abteilung Information mit drei Fachreferaten, wurde aber 1957 als Resultat des Konfliktes zwischen Ulbricht und Wollweber wieder stark reduziert. 1957 erhielt die Abteilung mit Irmler einen neuen Leiter, der jedoch bereits 1959 vom ehemaligen stellv. Leiter der HV A Korb abgelöst und zum Stellvertreter zurückgestuft wurde. Gleichzeitig wurde die Diensteinheit in Zentrale Informationsgruppe (ZIG) umbenannt; von da an lief auch die bisher eigenständige Berichterstattung der HV A über sie. 1960 wurde die Berichterstattung an die politische Führung durch einen Ministerbefehl präzise geregelt, und die ZIG erhielt mit der Neueinrichtung von Informationsgruppen in den BV und operativen HA einen soliden Unterbau.
1965 wurde die ZIG in ZAIG umbenannt und ein einheitliches Auswertungs- und Informationssystem eingeführt, das die Recherche und Selektion von Daten sowie die Organisierung von Informationsflüssen gewährleistete. In den operativen HA und BV erhielt die ZAIG mit den AIG entsprechende "Filialen". Im gleichen Jahr ging Korb in den Ruhestand, Irmler wurde wieder Leiter der Diensteinheit.
1968 wurde auch das Kontrollwesen der Staatssicherheit in die ZAIG eingegliedert, das im Dezember 1953 mit der Kontrollinspektion seinen ersten organisatorischen Rahmen erhalten hatte und 1957 mit der Umbenennung in AG Anleitung und Kontrolle erheblich qualifiziert worden war.
1969 erhielt die ZAIG auch die Verantwortung für den Einsatz der EDV. Das im Aufbau begriffene Rechenzentrum (Abt. XIII) wurde ihr unterstellt. In der ersten Hälfte der 70er Jahre bildeten sich vier Arbeitsbereiche der ZAIG heraus. Bereich 1: konkrete Auswertungs- und Informationstätigkeit und Berichterstattung an die politische Führung; Bereich 2: Kontrollwesen, die Erarbeitung von dienstlichen Bestimmungen sowie Prognose- und Planungsaufgaben; Bereich 3: Fragen der EDV; Bereich 4: Pflege und Weiterentwicklung der "manuellen" Bestandteile des Auswertungs- und Informationssystems. 1979 erhielt dieser Bereich auch die Verantwortung für das SOUD ("ZAIG/5").
Signatur: BStU, MfS, ZAIG, Nr. 5337, Bl. 109-147
Die Entwicklung demokratischer Reformen in den anderen Ostblockstaaten verfolgte die DDR-Regierung sehr genau. Die Staatssicherheit berichtete der Partei- und Staatsführung im Juli 1989 daher über die politische Situation in den "sozialistischen Bruderländern".
Im Sommer 1989 war bereits seit Monaten zu erkennen, dass sich die DDR-Führung mit ihrem reformfeindlichen Kurs von den Entwicklungen der anderen Warschauer-Pakt-Staaten isolierte (vgl. 7.4.1989). Auch der SED-Spitze war das nicht verborgen geblieben, sie wiegte sich aber in dem Glauben, die DDR sei eine Insel der Stabilität, während die Reformstaaten (Ungarn, Polen und Sowjetunion) immer tiefer in Turbulenzen gerieten. Im Juni und Juli 1989 kamen mehrere Ereignisse zusammen, die zeigten, wie illusionär die Auffassung war, die DDR könne sich dem entziehen.
Im Nachbarland Polen errang die oppositionelle Solidarność bei den ersten halbfreien Wahlen am 4. und am 18. Juni 1989 einen erdrutschartigen Sieg. Bei den Verhandlungen am Runden Tisch beharrte die regierende "Koalition" aus Polnischer Vereinigter Arbeiterpartei (PVAP) und Blockparteien (Bauernpartei und Demokratische Partei) für die halbfreien Wahlen auf einem festen Kontingent von 65 Prozent der Mandate des Sejm (des Parlaments).
Der vorliegende Bericht der Zentralen Auswertungs- und Informationsgruppe (ZAIG) der Staatssicherheit umfasst neben der Wahl von General Wojciech Jaruzelski zum Präsidenten und die Entwicklung in der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei (PVAP) auch die wirtschaftliche Lage der Volksrepublik Polen. Ebenfalls werden die politischen Entwicklungen in den anderen staatssozialistischen Staaten in den Monaten Juni und Juli 1989 aus Sicht der DDR-Geheimpolizei zusammengefasst.
Polnische Genossen schätzen im Zusammenhang mit der Wirtschaftslage weiter ein, daß es unter der Bevölkerung eine spürbare Beunruhigung über die mangelhafte Versorgung mit Grundnahrungsmitteln und weiteren Erzeugnissen gibt. Sie weisen darauf hin, daß durch den Rückgang des Fleischaufkaufs um mehr als 50 Prozent nicht einmal mehr die Deckung der Fleischmarken gewährleistet ist. (Bauern halten in Erwartung höherer Aufkaufpreise für landwirtschaftliche Erzeugnisse Schlachtvieh zurück. Das tägliche Fleischaufkommen ging stark zurück.)
Die Führung der OPZZ stellte fest, die drastische Erhöhung der Lebenshaltungskosten treffe besonders die in volkseigenen Betrieben Beschäftigten und deren Familien. Die jüngsten Preiserhöhungen sowie die Gerüchte über weitere drohten, in einen Ausbruch der Unzufriedenheit der Bevölkerung zu münden. Genosse Miodowicz erklärte dazu, es bestehe die Gefahr, daß die Arbeiter erneut auf die Straße gehen, falls sich die Versorgungskrise im bisherigen Tempo weiter zuspitze. Die gegenwärtige Lage sei katastrophal, die Talsohle noch nicht erreicht.
Auch die "Solidarnosc"-Führung sprach sich gegen die Preiserhöhungen aus. Diese würden Wut und Empörung der Arbeiter hervorrufen und könnten von "fortschrittsfeindlichen Kräften" ausgenutzt werden. Walesa kritisierte die Wirtschaftspolitik der Regierung scharf. Wenn sich nichts ändere, so erklärte er, werde "Solidarnosc" die Arbeiterproteste nicht mehr im Zaum halten können.
Regierung beschloß Anfang Juli ein "Anpassungsprogramm" für die Wirtschaft
Mit diesem Programm sollen Voraussetzungen für die Normalisierung der Handels- und Kreditbeziehungen mit dem Westen geschaffen werden, ohne die, wie erklärt wurde, ein Ausweg aus der Krise nicht möglich sei. Es entstand unter Mitwirkung von Experten des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank und sieht u.a. vor:
Entschiedene Begrenzung des Haushaltsdefizits, Liquidierung finanziell abgewirtschafteter Betriebe, Entstehen eines Arbeitsmarktes, Abschaffung der staatlichen Festpreise, prinzipielle Veränderungen in der Branchen- und Eigentumsstruktur der Wirtschaft, Übergabe von Aktien des Staates an Investitionsbanken, freien Umlauf der Wertpapiere, Schaffung eines Kapitalmarktes.
Die ZAIG war das "Funktionalorgan" des Ministers für Staatssicherheit, die Schaltstelle im MfS, in der nahezu alle komplexen Stabsfunktionen konzentriert waren: die zentrale Auswertung und Information, einschließlich der Berichterstattung an die politische Führung, die Optimierung der entsprechenden Verfahren und Strukturen im Gesamtapparat des MfS, die zentralen Kontrollen und Untersuchungen und die Analyse der operativen Effektivität des MfS, die zentrale Planung und die Erarbeitung dienstlicher Bestimmungen, zudem die übergeordneten Funktionen im Bereich EDV sowie die Gewährleistung des internationalen Datenaustauschsystems der kommunistischen Staatssicherheitsdienste (SOUD). Nach der Eingliederung der Abteilung Agitation 1985 waren auch die Öffentlichkeitsarbeit und die Traditionspflege des MfS in der ZAIG als "Bereich 6" funktional verankert. Die ZAIG war im direkten Anleitungsbereich des Ministers angesiedelt; ihr waren zuletzt die formal selbständigen Abt. XII, XIII (Rechenzentrum) und die Rechtsstelle fachlich unterstellt.
Die ZAIG geht auf die nach dem Juniaufstand 1953 gegründete und von Heinz Tilch geleitete Informationsgruppe (IG) der Staatssicherheitszentrale zurück, die erstmals eine regelmäßige Lage- und Stimmungsberichterstattung für die Partei- und Staatsführung hervorbrachte. Diese entwickelte sich 1955/56 zur Abteilung Information mit drei Fachreferaten, wurde aber 1957 als Resultat des Konfliktes zwischen Ulbricht und Wollweber wieder stark reduziert. 1957 erhielt die Abteilung mit Irmler einen neuen Leiter, der jedoch bereits 1959 vom ehemaligen stellv. Leiter der HV A Korb abgelöst und zum Stellvertreter zurückgestuft wurde. Gleichzeitig wurde die Diensteinheit in Zentrale Informationsgruppe (ZIG) umbenannt; von da an lief auch die bisher eigenständige Berichterstattung der HV A über sie. 1960 wurde die Berichterstattung an die politische Führung durch einen Ministerbefehl präzise geregelt, und die ZIG erhielt mit der Neueinrichtung von Informationsgruppen in den BV und operativen HA einen soliden Unterbau.
1965 wurde die ZIG in ZAIG umbenannt und ein einheitliches Auswertungs- und Informationssystem eingeführt, das die Recherche und Selektion von Daten sowie die Organisierung von Informationsflüssen gewährleistete. In den operativen HA und BV erhielt die ZAIG mit den AIG entsprechende "Filialen". Im gleichen Jahr ging Korb in den Ruhestand, Irmler wurde wieder Leiter der Diensteinheit.
1968 wurde auch das Kontrollwesen der Staatssicherheit in die ZAIG eingegliedert, das im Dezember 1953 mit der Kontrollinspektion seinen ersten organisatorischen Rahmen erhalten hatte und 1957 mit der Umbenennung in AG Anleitung und Kontrolle erheblich qualifiziert worden war.
1969 erhielt die ZAIG auch die Verantwortung für den Einsatz der EDV. Das im Aufbau begriffene Rechenzentrum (Abt. XIII) wurde ihr unterstellt. In der ersten Hälfte der 70er Jahre bildeten sich vier Arbeitsbereiche der ZAIG heraus. Bereich 1: konkrete Auswertungs- und Informationstätigkeit und Berichterstattung an die politische Führung; Bereich 2: Kontrollwesen, die Erarbeitung von dienstlichen Bestimmungen sowie Prognose- und Planungsaufgaben; Bereich 3: Fragen der EDV; Bereich 4: Pflege und Weiterentwicklung der "manuellen" Bestandteile des Auswertungs- und Informationssystems. 1979 erhielt dieser Bereich auch die Verantwortung für das SOUD ("ZAIG/5").
Signatur: BStU, MfS, ZAIG, Nr. 5337, Bl. 109-147
Die Entwicklung demokratischer Reformen in den anderen Ostblockstaaten verfolgte die DDR-Regierung sehr genau. Die Staatssicherheit berichtete der Partei- und Staatsführung im Juli 1989 daher über die politische Situation in den "sozialistischen Bruderländern".
Im Sommer 1989 war bereits seit Monaten zu erkennen, dass sich die DDR-Führung mit ihrem reformfeindlichen Kurs von den Entwicklungen der anderen Warschauer-Pakt-Staaten isolierte (vgl. 7.4.1989). Auch der SED-Spitze war das nicht verborgen geblieben, sie wiegte sich aber in dem Glauben, die DDR sei eine Insel der Stabilität, während die Reformstaaten (Ungarn, Polen und Sowjetunion) immer tiefer in Turbulenzen gerieten. Im Juni und Juli 1989 kamen mehrere Ereignisse zusammen, die zeigten, wie illusionär die Auffassung war, die DDR könne sich dem entziehen.
Im Nachbarland Polen errang die oppositionelle Solidarność bei den ersten halbfreien Wahlen am 4. und am 18. Juni 1989 einen erdrutschartigen Sieg. Bei den Verhandlungen am Runden Tisch beharrte die regierende "Koalition" aus Polnischer Vereinigter Arbeiterpartei (PVAP) und Blockparteien (Bauernpartei und Demokratische Partei) für die halbfreien Wahlen auf einem festen Kontingent von 65 Prozent der Mandate des Sejm (des Parlaments).
Der vorliegende Bericht der Zentralen Auswertungs- und Informationsgruppe (ZAIG) der Staatssicherheit umfasst neben der Wahl von General Wojciech Jaruzelski zum Präsidenten und die Entwicklung in der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei (PVAP) auch die wirtschaftliche Lage der Volksrepublik Polen. Ebenfalls werden die politischen Entwicklungen in den anderen staatssozialistischen Staaten in den Monaten Juni und Juli 1989 aus Sicht der DDR-Geheimpolizei zusammengefasst.
Der IWF prüft dieses Programm. Stimmt er zu, könnten Kreditverhandlungen zwischen
westlichen Staaten und Polen aufgenommen werden. Finanzminister Sawicki äußerte, Vorbedingung für neue Kreditzusagen seien "einschneidende strukturelle Änderungen".
Konstituierung der stärksten Parlamentsfraktionen
Am 23.06.1989 konstituierten sich die Parlamentsfraktionen der PVAP sowie der "Solidarnosc". Zum
Vorsitzenden der PVAP-Fraktion wurde Genosse Orzechowski gewählt, Fraktionsvorsitzender der
"Solidarnosc" wurde Prof. Geremek, der wichtigste Berater Walesas.
Die Fraktion der PVAP hat mit 173 von 460 Mandaten erstmals keine Mehrheit im Sejm (die Fraktion der "Solidarnosc" zählt 161 Abgeordnete).
Das Verhalten einiger PVAP-Abgeordneter bei künftigen Abstimmungen im Sejm gilt als unsicher, da ein Teil von ihnen von den Wojewodschaftskomitees der Partei nicht als Kandidaten bestätigt worden war und ihre Wahl zu Abgeordneten offensichtlich durch den Einfluß von "Solidarnosc" zustande kam. Außerdem sind einige PVAP-Abgeordnete "Solidarnosc"-Mitglieder oder -Anhänger.
Die Kompliziertheit der Lage zeigt sich auch in der Tatsache, daß die Mehrheit der PVAP-Abgeordneten sich entschieden dagegen wandte, die PVAP-Fraktion den Direktionen des ZK unterzuordnen; sie sprach sich für ein "freies Stimmverhalten", sofern nicht prinzipielle Fragen zur Entwicklung anstünden, aus. Hier zeigen sich wachsende Gefahren für die Einheit und den Charakter der Partei.
Geremek zur weiteren "Solidarnosc"-Strategie
Während eines Besuches in Großbritannien, wo er u.a. von der Premierministerin Thatcher und dem Außenminister Howe empfangen wurde, erhielt Geremek die Möglichkeit, im "Königlichen Institut für internationale Angelegenheiten" die Situation in der VRP aus seiner Sicht zu erläutern und die Strategie der "Solidarnosc" darzulegen. Er verband dies mit der Aufforderung an die britische Regierung und die Industrie, die Aktivitäten gegenüber den sozialistischen Staaten zu verstärken, um die "evolutionäre Entwicklung in Richtung Demokratie" zu unterstützen.
Die ZAIG war das "Funktionalorgan" des Ministers für Staatssicherheit, die Schaltstelle im MfS, in der nahezu alle komplexen Stabsfunktionen konzentriert waren: die zentrale Auswertung und Information, einschließlich der Berichterstattung an die politische Führung, die Optimierung der entsprechenden Verfahren und Strukturen im Gesamtapparat des MfS, die zentralen Kontrollen und Untersuchungen und die Analyse der operativen Effektivität des MfS, die zentrale Planung und die Erarbeitung dienstlicher Bestimmungen, zudem die übergeordneten Funktionen im Bereich EDV sowie die Gewährleistung des internationalen Datenaustauschsystems der kommunistischen Staatssicherheitsdienste (SOUD). Nach der Eingliederung der Abteilung Agitation 1985 waren auch die Öffentlichkeitsarbeit und die Traditionspflege des MfS in der ZAIG als "Bereich 6" funktional verankert. Die ZAIG war im direkten Anleitungsbereich des Ministers angesiedelt; ihr waren zuletzt die formal selbständigen Abt. XII, XIII (Rechenzentrum) und die Rechtsstelle fachlich unterstellt.
Die ZAIG geht auf die nach dem Juniaufstand 1953 gegründete und von Heinz Tilch geleitete Informationsgruppe (IG) der Staatssicherheitszentrale zurück, die erstmals eine regelmäßige Lage- und Stimmungsberichterstattung für die Partei- und Staatsführung hervorbrachte. Diese entwickelte sich 1955/56 zur Abteilung Information mit drei Fachreferaten, wurde aber 1957 als Resultat des Konfliktes zwischen Ulbricht und Wollweber wieder stark reduziert. 1957 erhielt die Abteilung mit Irmler einen neuen Leiter, der jedoch bereits 1959 vom ehemaligen stellv. Leiter der HV A Korb abgelöst und zum Stellvertreter zurückgestuft wurde. Gleichzeitig wurde die Diensteinheit in Zentrale Informationsgruppe (ZIG) umbenannt; von da an lief auch die bisher eigenständige Berichterstattung der HV A über sie. 1960 wurde die Berichterstattung an die politische Führung durch einen Ministerbefehl präzise geregelt, und die ZIG erhielt mit der Neueinrichtung von Informationsgruppen in den BV und operativen HA einen soliden Unterbau.
1965 wurde die ZIG in ZAIG umbenannt und ein einheitliches Auswertungs- und Informationssystem eingeführt, das die Recherche und Selektion von Daten sowie die Organisierung von Informationsflüssen gewährleistete. In den operativen HA und BV erhielt die ZAIG mit den AIG entsprechende "Filialen". Im gleichen Jahr ging Korb in den Ruhestand, Irmler wurde wieder Leiter der Diensteinheit.
1968 wurde auch das Kontrollwesen der Staatssicherheit in die ZAIG eingegliedert, das im Dezember 1953 mit der Kontrollinspektion seinen ersten organisatorischen Rahmen erhalten hatte und 1957 mit der Umbenennung in AG Anleitung und Kontrolle erheblich qualifiziert worden war.
1969 erhielt die ZAIG auch die Verantwortung für den Einsatz der EDV. Das im Aufbau begriffene Rechenzentrum (Abt. XIII) wurde ihr unterstellt. In der ersten Hälfte der 70er Jahre bildeten sich vier Arbeitsbereiche der ZAIG heraus. Bereich 1: konkrete Auswertungs- und Informationstätigkeit und Berichterstattung an die politische Führung; Bereich 2: Kontrollwesen, die Erarbeitung von dienstlichen Bestimmungen sowie Prognose- und Planungsaufgaben; Bereich 3: Fragen der EDV; Bereich 4: Pflege und Weiterentwicklung der "manuellen" Bestandteile des Auswertungs- und Informationssystems. 1979 erhielt dieser Bereich auch die Verantwortung für das SOUD ("ZAIG/5").
"Monatsübersicht 8/89 über aktuelle Probleme der Lageentwicklung in sozialistischen Staaten" Dokument, 34 Seiten
Zum zweiten Wahlgang in Polen am 18. Juni 1989 Dokument, 1 Seite
Information zu Wahlen in der Volksrepublik Polen Dokument, 9 Seiten
Bericht über die Trauerfeier für Imre Nagy in Budapest Dokument, 2 Seiten