Signatur: BStU, MfS, ZAIG, Nr. 4599, Bl. 71-102
Bis zu 120.000 Menschen protestierten am 16. Oktober 1989 in Leipzig und forderten "keine Gewalt". Der Wochenbericht an die MfS-Führung beschäftigte sich allerdings hauptsächlich mit der Ausreisebewegung.
Seit den 70er Jahren fungierte die Zentrale Auswertungs- und Informationsgruppe des Ministeriums für Staatssicherheit (ZAIG) als Schaltstelle der Geheimpolizei. Kernaufgaben dieser Diensteinheit waren die Auswertung von Informationen und der Erarbeitung von Berichten und Materialien zur Information des Ministers sowie der Partei- und Staatsführung. Diese Tätigkeit ging auf den Volksaufstand vom 17. Juni 1953 zurück, der das MfS und die SED überrascht hatte.
Die ZAIG fertigte u.a. Wochenberichte an, welche die wichtigsten Ereignisse der vorangegangenen Tage für die Führung des Ministeriums und für die SED-Führung zusammenfassten. Das vorliegende Dokument umfasst den Zeitraum vom 10. bis zum 16. Oktober 1989. In dieser Woche zählte die Stasi auf der Montagsdemonstration am 9. Oktober in Leipzig 70.000 Menschen, die "Wir sind das Volk!" skandierten und "keine Gewalt" forderten. Eine Woche später befanden sich am gleichen Ort bereits 120.000 Demonstranten auf der Straße. Nachdem Sprecher der Bürgerbewegung und Kirchenvertreter mit führenden SED-Funktionären verhandelt hatten, hielten sich die Sicherheitskräfte nun zurück.
Der Wochenbericht erwähnt die Massendemonstrationen nur am Rande und nennt Beispiele für "Vorkommnisse gegen die staatliche und öffentliche Ordnung". Das Hauptaugenmerk liegt auf der Ausreisebewegung. Darüber hinaus berichtete die ZAIG über die Situation der ausländischen Arbeitnehmer in der DDR. Besondere Aufmerksamkeit wurde der großen Gruppe der Vietnamesen geschenkt.
Weitere beachtenswerte Erscheinungen (Teilnahme an Zusammenrottungen/Ausschreitungen in der Öffentlichkeit)
Ein wegen wiederholter Disziplinarvergehen zur Versetzung in die Reserve vorgesehener Fähnrich der NVA (21, NB-40 Blankenfelde/ Zossen), der sich zum Zwecke der Arbeitsbeschaffung am Heimatort aufgehalten hatte, war durch die DVP als Teilnehmer der am 7. Oktober 1989 vor der Gaststätte "Löcknitzterrassen" Erkner erfolgten Ausschreitungen identifiziert und zugeführt worden. Er hatte mit llweiteren Zivilpersonen u. a. das "Deutschlandlied" gegrölt, den Bürgermeister beleidigt und beschimpft, sich an Sachbeschädigungen am Grundstück des Bürgermeisters beteiligt sowie Kraftfahrzeuge, darunter eine Kolonne der Grenztruppen, zeitweilig an der Weiterfahrt gehindert. Die weiteren Untersuchungen führt der zuständige Militärstaatsanwalt.
Während seines Jahresurlaubes beteiligte sich ein Unteroffizier der NVA (20, Panzerfahrer, PR-16 Großenhain, 7. PD, Mitglied der SED) am 7. Oktober 1989 in Karl-Marx-Stadt, in Nähe des Luxor-Palastes an einer nicht genehmigten Demonstration. Er widersetzte sich Aufforderungen der DVP zur Auflösung der Zusammenrottung, bedrohte und beschimpfte VP-Angehörige. Das gegen ihn eingeleitete EV wurde im beschleunigten Verfahren durch das Militärgericht Dresden am 11.10.1989 abgeschlossen. Er wurde zu 6 Monaten Strafarrest verurteilt.
Bereits am 10. 10. 1989 war durch die zuständige Parteiorganisation sein Ausschluß aus der SED beschlossen worden.
Die DDR-Geschichte war von ihrem Anfang bis zu ihrem Ende auch eine Geschichte der Flucht. Der Bau der Mauer 1961 steht dafür ebenso symbolisch wie der von der Gesellschaft schließlich erzwungene Mauerdurchbruch 1989, der das Ende des SED-Staates markiert.
Zu einem Schwerpunkt in der Arbeit des MfS rückte ab den 70er Jahren das Vorgehen gegen "Antragsteller auf ständige Ausreise aus der DDR in die BRD bzw. nach Berlin (West)" (AStA) auf. Hierfür waren zwei Gründe ausschlaggebend: Mit der Unterzeichnung der KSZE-Schlussakte in Helsinki 1975 verpflichtete sich die DDR, nachdem sie bereits die UN-Menschenrechtscharta unterzeichnet hatte, das Recht auf Freizügigkeit anzuerkennen. Trotzdem gewährte die DDR aber auch weiterhin nur Rentnern und Invaliden die Übersiedlung in die Bundesrepublik. Bereits einen Ausreiseantrag zu stellen, galt - da die Rechtsgrundlage in der DDR fehlte - als illegal und konnte mit Gefängnisstrafen geahndet werden. Das geschah auch häufig.
Nicht nur die Zahl der Anträge nahm seit Mitte der 70er Jahre zu, Ausreisewillige traten nun auch immer häufiger öffentlich mit Protesten in Erscheinung, wobei sie die Möglichkeit einer Inhaftierung in Kauf nahmen. Nicht zuletzt aufgrund ihrer Entschlossenheit, mit den Verhältnissen in der DDR konsequent zu brechen, wurden sie in den Augen des MfS zu einem Sicherheitsrisiko. Auch die 1983 erlassene Verordnung zur Regelung von Fragen der Familienzusammenführung und Eheschließung zwischen Bürgern der DDR und Ausländern brachte keine Entlastung, da der Personenkreis eingeschränkt blieb. Ab Herbst 1983 bezeichnete das MfS diese Personengruppe als Übersiedlungsersuchende (ÜSE).
Obwohl Menschen, die die DDR verlassen wollten, ihren Antrag nur als Einzelperson oder ggf. gemeinsam mit ihren Familienangehörigen stellten, kann ab Mitte der 70er Jahre von einer Ausreisebewegung die Rede sein. Die Zahl der Ausreiseanträge war groß (zu den Zahlen der Republikflucht). Die Ausreiseantragsteller versuchten sich zu vernetzen und traten öffentlich in Erscheinung. Bereits 1973 ging von den auf die Genehmigung ihrer Ausreise hoffenden Familien Faust und Hauptmann in Pirna eine Unterschriftensammlung aus; 1976 gelangte die Petition des Riesaer Arztes Karl-Heinz Nitschke "zur vollen Erlangung der Menschenrechte" in die Westmedien. Die Petition war von 79 Personen unterzeichnet worden.
Bekannt wurden insbesondere die "weißen Kreise" (ausgehend von Jena Anfang der 80er Jahre, später auch in anderen Städten): Ausreiseantragsteller stellten sich auf zentralen Plätzen im Kreis auf und machten so auf ihr Begehren aufmerksam. Um sich untereinander zu erkennen und ihren Protest auszudrücken, trugen sie weiße Kleidung. Das MfS griff wiederholt ein und inhaftierte die Protestierenden.
Neben dem Besuch oder auch der Besetzung westlicher Botschaften in der DDR, insbesondere der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik in Ostberlin, und im kommunistischen Ausland organisierten sich Ausreiseantragsteller ab 1987 in Gruppen, die zumeist bei evangelischen Kirchengemeinden Zuflucht fanden. In Ostberlin konstituierte sich im Herbst 1987 die Arbeitsgruppe Staatsbürgerschaftsrecht in der DDR, die Rechtsberatungen durchführte, die Solidarität unter Antragstellern organisierte und mit Protesterklärungen auf das Schicksal der Antragsteller aufmerksam machte. Weitere Gruppen entstanden in Leipzig, Berlin-Treptow, Stralsund, Greifswald, Dresden und vielen anderen Städten.
Es kam immer häufiger zu öffentlichen Protesten. An Autos oder in Wohnungsfenstern wurden Symbole angebracht, um auf den gestellten Ausreiseantrag öffentlich aufmerksam zu machen. Mehrfach kam es auch zu Besetzungen von Kirchen, wobei die Kirchenleitungen nicht immer im Sinne der Besetzer agierten. Fanden Gespräche oder Rechtsberatungen mit Ausreiseantragstellern außerhalb kirchlicher Räume statt (wie in einem Jugendklub in Potsdam-Babelsberg), so intervenierte das MfS und nahm die unmittelbar Beteiligten meist in Haft.
Um gegen die zunehmende Zahl der Ausreiseanträge vorzugehen, erließ MfS-Minister Erich Mielke am 18.3.1977 den Befehl 6/77 zur "Vorbeugung, Verhinderung und Bekämpfung rechtswidriger Übersiedlungsersuchen". Geregelt wurden hier auch die Informationspflicht und die Zusammenarbeit zwischen der 1975 (Befehl 1/75) gebildeten Zentralen Koordinierungsgruppe bzw. den Bezirkskoordinierungsgruppen, die für die Zusammenarbeit mit dem MdI und kommunalen Instanzen verantwortlich zeichneten, und den zuständigen MfS-Diensteinheiten.
Im Fall von auffällig "feindlich-negativen" Antragstellern, von denen potenziell Aktivitäten zur "Erzwingung" der Ausreise ausgingen, wurde seitens des MfS der Abteilung Inneres beim Rat des Bezirks oder Kreises die Option eingeräumt, eine "vorbeugende Übersiedlung" des Antragstellers zu veranlassen. Im Jahr 1988 musste das MfS immer wieder "öffentlichkeitswirksame Provokationen" von "aktiv handelnden Zusammenschlüssen" - Demonstrationen mit Hunderten, in Ausnahmefällen sogar mehreren Tausend Teilnehmern - in fast allen DDR-Bezirken feststellen.
Als wenig erfolgreich galten die in Verantwortung der Abteilung Inneres durchgeführten "Zurückdrängungsgespräche", die mit Antragstellern auf Weisung des MfS zu führen waren - nicht selten wurden diesen dabei eine Verbesserung der Wohnraumsituation oder die Aufhebung von Diskriminierungen am Arbeitsplatz in Aussicht gestellt. Antragstellern, die sich mehrfach an staatliche Stellen gewandt hatten (im MfS-Sprachgebrauch: "hartnäckige Antragsteller"), wurden strafrechtliche Sanktionen angedroht, und sie wurden nicht selten vom MfS inhaftiert. Dies traf vor allem dann zu, wenn Antragsteller Konsequenzen angekündigt oder westliche Stellen von ihrem Antrag in Kenntnis gesetzt hatten.
Von 1977 bis zum Sommer 1989 wurden in der DDR etwa 20.000 Ermittlungsverfahren gegen Antragsteller eingeleitet. Zuständig für die Bearbeitung war jeweils das MfS und deren Untersuchungsorgan; inhaftierte Antragsteller wurden in die MfS Untersuchungshaftanstalten überstellt und gelangten oft nach einer gerichtlichen Verurteilung über den Häftlingsfreikauf in die Freiheit. Flucht und Ausreise stellten ganz wesentliche Destabilisierungs- und Delegitimierungsfaktoren der SED-Herrschaft von 1949 bis 1989 dar.
Die ZAIG war das "Funktionalorgan" des Ministers für Staatssicherheit, die Schaltstelle im MfS, in der nahezu alle komplexen Stabsfunktionen konzentriert waren: die zentrale Auswertung und Information, einschließlich der Berichterstattung an die politische Führung, die Optimierung der entsprechenden Verfahren und Strukturen im Gesamtapparat des MfS, die zentralen Kontrollen und Untersuchungen und die Analyse der operativen Effektivität des MfS, die zentrale Planung und die Erarbeitung dienstlicher Bestimmungen, zudem die übergeordneten Funktionen im Bereich EDV sowie die Gewährleistung des internationalen Datenaustauschsystems der kommunistischen Staatssicherheitsdienste (SOUD). Nach der Eingliederung der Abteilung Agitation 1985 waren auch die Öffentlichkeitsarbeit und die Traditionspflege des MfS in der ZAIG als "Bereich 6" funktional verankert. Die ZAIG war im direkten Anleitungsbereich des Ministers angesiedelt; ihr waren zuletzt die formal selbständigen Abt. XII, XIII (Rechenzentrum) und die Rechtsstelle fachlich unterstellt.
Die ZAIG geht auf die nach dem Juniaufstand 1953 gegründete und von Heinz Tilch geleitete Informationsgruppe (IG) der Staatssicherheitszentrale zurück, die erstmals eine regelmäßige Lage- und Stimmungsberichterstattung für die Partei- und Staatsführung hervorbrachte. Diese entwickelte sich 1955/56 zur Abteilung Information mit drei Fachreferaten, wurde aber 1957 als Resultat des Konfliktes zwischen Ulbricht und Wollweber wieder stark reduziert. 1957 erhielt die Abteilung mit Irmler einen neuen Leiter, der jedoch bereits 1959 vom ehemaligen stellv. Leiter der HV A Korb abgelöst und zum Stellvertreter zurückgestuft wurde. Gleichzeitig wurde die Diensteinheit in Zentrale Informationsgruppe (ZIG) umbenannt; von da an lief auch die bisher eigenständige Berichterstattung der HV A über sie. 1960 wurde die Berichterstattung an die politische Führung durch einen Ministerbefehl präzise geregelt, und die ZIG erhielt mit der Neueinrichtung von Informationsgruppen in den BV und operativen HA einen soliden Unterbau.
1965 wurde die ZIG in ZAIG umbenannt und ein einheitliches Auswertungs- und Informationssystem eingeführt, das die Recherche und Selektion von Daten sowie die Organisierung von Informationsflüssen gewährleistete. In den operativen HA und BV erhielt die ZAIG mit den AIG entsprechende "Filialen". Im gleichen Jahr ging Korb in den Ruhestand, Irmler wurde wieder Leiter der Diensteinheit.
1968 wurde auch das Kontrollwesen der Staatssicherheit in die ZAIG eingegliedert, das im Dezember 1953 mit der Kontrollinspektion seinen ersten organisatorischen Rahmen erhalten hatte und 1957 mit der Umbenennung in AG Anleitung und Kontrolle erheblich qualifiziert worden war.
1969 erhielt die ZAIG auch die Verantwortung für den Einsatz der EDV. Das im Aufbau begriffene Rechenzentrum (Abt. XIII) wurde ihr unterstellt. In der ersten Hälfte der 70er Jahre bildeten sich vier Arbeitsbereiche der ZAIG heraus. Bereich 1: konkrete Auswertungs- und Informationstätigkeit und Berichterstattung an die politische Führung; Bereich 2: Kontrollwesen, die Erarbeitung von dienstlichen Bestimmungen sowie Prognose- und Planungsaufgaben; Bereich 3: Fragen der EDV; Bereich 4: Pflege und Weiterentwicklung der "manuellen" Bestandteile des Auswertungs- und Informationssystems. 1979 erhielt dieser Bereich auch die Verantwortung für das SOUD ("ZAIG/5").
Signatur: BStU, MfS, ZAIG, Nr. 4599, Bl. 71-102
Bis zu 120.000 Menschen protestierten am 16. Oktober 1989 in Leipzig und forderten "keine Gewalt". Der Wochenbericht an die MfS-Führung beschäftigte sich allerdings hauptsächlich mit der Ausreisebewegung.
Seit den 70er Jahren fungierte die Zentrale Auswertungs- und Informationsgruppe des Ministeriums für Staatssicherheit (ZAIG) als Schaltstelle der Geheimpolizei. Kernaufgaben dieser Diensteinheit waren die Auswertung von Informationen und der Erarbeitung von Berichten und Materialien zur Information des Ministers sowie der Partei- und Staatsführung. Diese Tätigkeit ging auf den Volksaufstand vom 17. Juni 1953 zurück, der das MfS und die SED überrascht hatte.
Die ZAIG fertigte u.a. Wochenberichte an, welche die wichtigsten Ereignisse der vorangegangenen Tage für die Führung des Ministeriums und für die SED-Führung zusammenfassten. Das vorliegende Dokument umfasst den Zeitraum vom 10. bis zum 16. Oktober 1989. In dieser Woche zählte die Stasi auf der Montagsdemonstration am 9. Oktober in Leipzig 70.000 Menschen, die "Wir sind das Volk!" skandierten und "keine Gewalt" forderten. Eine Woche später befanden sich am gleichen Ort bereits 120.000 Demonstranten auf der Straße. Nachdem Sprecher der Bürgerbewegung und Kirchenvertreter mit führenden SED-Funktionären verhandelt hatten, hielten sich die Sicherheitskräfte nun zurück.
Der Wochenbericht erwähnt die Massendemonstrationen nur am Rande und nennt Beispiele für "Vorkommnisse gegen die staatliche und öffentliche Ordnung". Das Hauptaugenmerk liegt auf der Ausreisebewegung. Darüber hinaus berichtete die ZAIG über die Situation der ausländischen Arbeitnehmer in der DDR. Besondere Aufmerksamkeit wurde der großen Gruppe der Vietnamesen geschenkt.
Zum ungesetzlichen Verlassen der DDR nach dem nichtsozialistischen Ausland und zu ständigen Ausreisen von Bürgern der DDR nach der BRD und Westberlin
Gesamtübersicht
Nach vorläufigen Hinweisen sind im Zeitraum vom 9. bis 15. Oktober 1989 insgesamt ca. 15500 Bürger der DDR mit Aktivitäten des ungesetzlichen Verlassens der DDR nach dem nichtsozialistischen Ausland und ständigen Ausreisen nach der BRD bzw. Westberlin in Erscheinung getreten.
Davon haben
Darüber hinaus befinden sich mit Stand vom 16. Oktober 1989 ca. 1250 Bürger der DDR zur Erzwingung ihrer Ausreise in den Botschaften der BRD bzw. in "Obhut" der diplomatischen Einrichtung in Warschau (ca. 1200) und Prag (53).
Straftaten gegen die staatliche Ordnung
Straftaten gegen die staatliche Ordnung waren Straftatbestände des 8. Kapitels des StGB/1968. Insbesondere der 2. Abschnitt ("Straftaten gegen die staatliche und öffentliche Ordnung") enthält politische Strafnormen, die für die strafrechtliche Untersuchungstätigkeit der Staatssicherheit (Untersuchungsorgan) von großer Bedeutung waren.
Das gilt vor allem für § 213 ("Ungesetzlicher Grenzübertritt"), der in der Honecker-Ära Grundlage von rund der Hälfte aller MfS-Ermittlungsverfahren war. Auch § 214 ("Beeinträchtigung staatlicher und gesellschaftlicher Tätigkeit") spielte, vor allem im Zusammenhang mit der Bekämpfung von Ausreiseantragstellern, in den 80er Jahren eine immer wichtigere Rolle.
Ähnliches gilt für § 219 ("Ungesetzliche Verbindungsaufnahme") und § 220 ("Öffentliche Herabwürdigung der staatlichen Ordnung"), die die ähnlichen, aber schwerer wiegenden Strafnormen aus dem 2. Kapitel des StGB/1968 § 100 ("Staatsfeindliche Verbindungen", ab 1979 "Landesverräterische Agententätigkeit") und § 106 ("Staatsfeindliche Hetze") weitgehend verdrängten (Staatsverbrechen).
Die DDR-Geschichte war von ihrem Anfang bis zu ihrem Ende auch eine Geschichte der Flucht. Der Bau der Mauer 1961 steht dafür ebenso symbolisch wie der von der Gesellschaft schließlich erzwungene Mauerdurchbruch 1989, der das Ende des SED-Staates markiert.
Zu einem Schwerpunkt in der Arbeit des MfS rückte ab den 70er Jahren das Vorgehen gegen "Antragsteller auf ständige Ausreise aus der DDR in die BRD bzw. nach Berlin (West)" (AStA) auf. Hierfür waren zwei Gründe ausschlaggebend: Mit der Unterzeichnung der KSZE-Schlussakte in Helsinki 1975 verpflichtete sich die DDR, nachdem sie bereits die UN-Menschenrechtscharta unterzeichnet hatte, das Recht auf Freizügigkeit anzuerkennen. Trotzdem gewährte die DDR aber auch weiterhin nur Rentnern und Invaliden die Übersiedlung in die Bundesrepublik. Bereits einen Ausreiseantrag zu stellen, galt - da die Rechtsgrundlage in der DDR fehlte - als illegal und konnte mit Gefängnisstrafen geahndet werden. Das geschah auch häufig.
Nicht nur die Zahl der Anträge nahm seit Mitte der 70er Jahre zu, Ausreisewillige traten nun auch immer häufiger öffentlich mit Protesten in Erscheinung, wobei sie die Möglichkeit einer Inhaftierung in Kauf nahmen. Nicht zuletzt aufgrund ihrer Entschlossenheit, mit den Verhältnissen in der DDR konsequent zu brechen, wurden sie in den Augen des MfS zu einem Sicherheitsrisiko. Auch die 1983 erlassene Verordnung zur Regelung von Fragen der Familienzusammenführung und Eheschließung zwischen Bürgern der DDR und Ausländern brachte keine Entlastung, da der Personenkreis eingeschränkt blieb. Ab Herbst 1983 bezeichnete das MfS diese Personengruppe als Übersiedlungsersuchende (ÜSE).
Obwohl Menschen, die die DDR verlassen wollten, ihren Antrag nur als Einzelperson oder ggf. gemeinsam mit ihren Familienangehörigen stellten, kann ab Mitte der 70er Jahre von einer Ausreisebewegung die Rede sein. Die Zahl der Ausreiseanträge war groß (zu den Zahlen der Republikflucht). Die Ausreiseantragsteller versuchten sich zu vernetzen und traten öffentlich in Erscheinung. Bereits 1973 ging von den auf die Genehmigung ihrer Ausreise hoffenden Familien Faust und Hauptmann in Pirna eine Unterschriftensammlung aus; 1976 gelangte die Petition des Riesaer Arztes Karl-Heinz Nitschke "zur vollen Erlangung der Menschenrechte" in die Westmedien. Die Petition war von 79 Personen unterzeichnet worden.
Bekannt wurden insbesondere die "weißen Kreise" (ausgehend von Jena Anfang der 80er Jahre, später auch in anderen Städten): Ausreiseantragsteller stellten sich auf zentralen Plätzen im Kreis auf und machten so auf ihr Begehren aufmerksam. Um sich untereinander zu erkennen und ihren Protest auszudrücken, trugen sie weiße Kleidung. Das MfS griff wiederholt ein und inhaftierte die Protestierenden.
Neben dem Besuch oder auch der Besetzung westlicher Botschaften in der DDR, insbesondere der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik in Ostberlin, und im kommunistischen Ausland organisierten sich Ausreiseantragsteller ab 1987 in Gruppen, die zumeist bei evangelischen Kirchengemeinden Zuflucht fanden. In Ostberlin konstituierte sich im Herbst 1987 die Arbeitsgruppe Staatsbürgerschaftsrecht in der DDR, die Rechtsberatungen durchführte, die Solidarität unter Antragstellern organisierte und mit Protesterklärungen auf das Schicksal der Antragsteller aufmerksam machte. Weitere Gruppen entstanden in Leipzig, Berlin-Treptow, Stralsund, Greifswald, Dresden und vielen anderen Städten.
Es kam immer häufiger zu öffentlichen Protesten. An Autos oder in Wohnungsfenstern wurden Symbole angebracht, um auf den gestellten Ausreiseantrag öffentlich aufmerksam zu machen. Mehrfach kam es auch zu Besetzungen von Kirchen, wobei die Kirchenleitungen nicht immer im Sinne der Besetzer agierten. Fanden Gespräche oder Rechtsberatungen mit Ausreiseantragstellern außerhalb kirchlicher Räume statt (wie in einem Jugendklub in Potsdam-Babelsberg), so intervenierte das MfS und nahm die unmittelbar Beteiligten meist in Haft.
Um gegen die zunehmende Zahl der Ausreiseanträge vorzugehen, erließ MfS-Minister Erich Mielke am 18.3.1977 den Befehl 6/77 zur "Vorbeugung, Verhinderung und Bekämpfung rechtswidriger Übersiedlungsersuchen". Geregelt wurden hier auch die Informationspflicht und die Zusammenarbeit zwischen der 1975 (Befehl 1/75) gebildeten Zentralen Koordinierungsgruppe bzw. den Bezirkskoordinierungsgruppen, die für die Zusammenarbeit mit dem MdI und kommunalen Instanzen verantwortlich zeichneten, und den zuständigen MfS-Diensteinheiten.
Im Fall von auffällig "feindlich-negativen" Antragstellern, von denen potenziell Aktivitäten zur "Erzwingung" der Ausreise ausgingen, wurde seitens des MfS der Abteilung Inneres beim Rat des Bezirks oder Kreises die Option eingeräumt, eine "vorbeugende Übersiedlung" des Antragstellers zu veranlassen. Im Jahr 1988 musste das MfS immer wieder "öffentlichkeitswirksame Provokationen" von "aktiv handelnden Zusammenschlüssen" - Demonstrationen mit Hunderten, in Ausnahmefällen sogar mehreren Tausend Teilnehmern - in fast allen DDR-Bezirken feststellen.
Als wenig erfolgreich galten die in Verantwortung der Abteilung Inneres durchgeführten "Zurückdrängungsgespräche", die mit Antragstellern auf Weisung des MfS zu führen waren - nicht selten wurden diesen dabei eine Verbesserung der Wohnraumsituation oder die Aufhebung von Diskriminierungen am Arbeitsplatz in Aussicht gestellt. Antragstellern, die sich mehrfach an staatliche Stellen gewandt hatten (im MfS-Sprachgebrauch: "hartnäckige Antragsteller"), wurden strafrechtliche Sanktionen angedroht, und sie wurden nicht selten vom MfS inhaftiert. Dies traf vor allem dann zu, wenn Antragsteller Konsequenzen angekündigt oder westliche Stellen von ihrem Antrag in Kenntnis gesetzt hatten.
Von 1977 bis zum Sommer 1989 wurden in der DDR etwa 20.000 Ermittlungsverfahren gegen Antragsteller eingeleitet. Zuständig für die Bearbeitung war jeweils das MfS und deren Untersuchungsorgan; inhaftierte Antragsteller wurden in die MfS Untersuchungshaftanstalten überstellt und gelangten oft nach einer gerichtlichen Verurteilung über den Häftlingsfreikauf in die Freiheit. Flucht und Ausreise stellten ganz wesentliche Destabilisierungs- und Delegitimierungsfaktoren der SED-Herrschaft von 1949 bis 1989 dar.
Die ZAIG war das "Funktionalorgan" des Ministers für Staatssicherheit, die Schaltstelle im MfS, in der nahezu alle komplexen Stabsfunktionen konzentriert waren: die zentrale Auswertung und Information, einschließlich der Berichterstattung an die politische Führung, die Optimierung der entsprechenden Verfahren und Strukturen im Gesamtapparat des MfS, die zentralen Kontrollen und Untersuchungen und die Analyse der operativen Effektivität des MfS, die zentrale Planung und die Erarbeitung dienstlicher Bestimmungen, zudem die übergeordneten Funktionen im Bereich EDV sowie die Gewährleistung des internationalen Datenaustauschsystems der kommunistischen Staatssicherheitsdienste (SOUD). Nach der Eingliederung der Abteilung Agitation 1985 waren auch die Öffentlichkeitsarbeit und die Traditionspflege des MfS in der ZAIG als "Bereich 6" funktional verankert. Die ZAIG war im direkten Anleitungsbereich des Ministers angesiedelt; ihr waren zuletzt die formal selbständigen Abt. XII, XIII (Rechenzentrum) und die Rechtsstelle fachlich unterstellt.
Die ZAIG geht auf die nach dem Juniaufstand 1953 gegründete und von Heinz Tilch geleitete Informationsgruppe (IG) der Staatssicherheitszentrale zurück, die erstmals eine regelmäßige Lage- und Stimmungsberichterstattung für die Partei- und Staatsführung hervorbrachte. Diese entwickelte sich 1955/56 zur Abteilung Information mit drei Fachreferaten, wurde aber 1957 als Resultat des Konfliktes zwischen Ulbricht und Wollweber wieder stark reduziert. 1957 erhielt die Abteilung mit Irmler einen neuen Leiter, der jedoch bereits 1959 vom ehemaligen stellv. Leiter der HV A Korb abgelöst und zum Stellvertreter zurückgestuft wurde. Gleichzeitig wurde die Diensteinheit in Zentrale Informationsgruppe (ZIG) umbenannt; von da an lief auch die bisher eigenständige Berichterstattung der HV A über sie. 1960 wurde die Berichterstattung an die politische Führung durch einen Ministerbefehl präzise geregelt, und die ZIG erhielt mit der Neueinrichtung von Informationsgruppen in den BV und operativen HA einen soliden Unterbau.
1965 wurde die ZIG in ZAIG umbenannt und ein einheitliches Auswertungs- und Informationssystem eingeführt, das die Recherche und Selektion von Daten sowie die Organisierung von Informationsflüssen gewährleistete. In den operativen HA und BV erhielt die ZAIG mit den AIG entsprechende "Filialen". Im gleichen Jahr ging Korb in den Ruhestand, Irmler wurde wieder Leiter der Diensteinheit.
1968 wurde auch das Kontrollwesen der Staatssicherheit in die ZAIG eingegliedert, das im Dezember 1953 mit der Kontrollinspektion seinen ersten organisatorischen Rahmen erhalten hatte und 1957 mit der Umbenennung in AG Anleitung und Kontrolle erheblich qualifiziert worden war.
1969 erhielt die ZAIG auch die Verantwortung für den Einsatz der EDV. Das im Aufbau begriffene Rechenzentrum (Abt. XIII) wurde ihr unterstellt. In der ersten Hälfte der 70er Jahre bildeten sich vier Arbeitsbereiche der ZAIG heraus. Bereich 1: konkrete Auswertungs- und Informationstätigkeit und Berichterstattung an die politische Führung; Bereich 2: Kontrollwesen, die Erarbeitung von dienstlichen Bestimmungen sowie Prognose- und Planungsaufgaben; Bereich 3: Fragen der EDV; Bereich 4: Pflege und Weiterentwicklung der "manuellen" Bestandteile des Auswertungs- und Informationssystems. 1979 erhielt dieser Bereich auch die Verantwortung für das SOUD ("ZAIG/5").
Signatur: BStU, MfS, ZAIG, Nr. 4599, Bl. 71-102
Bis zu 120.000 Menschen protestierten am 16. Oktober 1989 in Leipzig und forderten "keine Gewalt". Der Wochenbericht an die MfS-Führung beschäftigte sich allerdings hauptsächlich mit der Ausreisebewegung.
Seit den 70er Jahren fungierte die Zentrale Auswertungs- und Informationsgruppe des Ministeriums für Staatssicherheit (ZAIG) als Schaltstelle der Geheimpolizei. Kernaufgaben dieser Diensteinheit waren die Auswertung von Informationen und der Erarbeitung von Berichten und Materialien zur Information des Ministers sowie der Partei- und Staatsführung. Diese Tätigkeit ging auf den Volksaufstand vom 17. Juni 1953 zurück, der das MfS und die SED überrascht hatte.
Die ZAIG fertigte u.a. Wochenberichte an, welche die wichtigsten Ereignisse der vorangegangenen Tage für die Führung des Ministeriums und für die SED-Führung zusammenfassten. Das vorliegende Dokument umfasst den Zeitraum vom 10. bis zum 16. Oktober 1989. In dieser Woche zählte die Stasi auf der Montagsdemonstration am 9. Oktober in Leipzig 70.000 Menschen, die "Wir sind das Volk!" skandierten und "keine Gewalt" forderten. Eine Woche später befanden sich am gleichen Ort bereits 120.000 Demonstranten auf der Straße. Nachdem Sprecher der Bürgerbewegung und Kirchenvertreter mit führenden SED-Funktionären verhandelt hatten, hielten sich die Sicherheitskräfte nun zurück.
Der Wochenbericht erwähnt die Massendemonstrationen nur am Rande und nennt Beispiele für "Vorkommnisse gegen die staatliche und öffentliche Ordnung". Das Hauptaugenmerk liegt auf der Ausreisebewegung. Darüber hinaus berichtete die ZAIG über die Situation der ausländischen Arbeitnehmer in der DDR. Besondere Aufmerksamkeit wurde der großen Gruppe der Vietnamesen geschenkt.
Vollendetes ungesetzliches Verlassen der DDR
Im Zeitraum vom 9. bis 15. Oktober 1989 konnten bisher 2381 (Vorwoche 2353) Bürger identifiziert werden, die die DDR ungesetzlich nach dem nichtsozialistischen Ausland verlassen haben, davon
Unter den Tätern befinden sich nach voräufigen Erkenntnissen:
sowie je ein(e) Produktionsdirektor, Diplombiologe, Diplompsychologe, Diplomhydrologe und Filmdramaturg.
Unter diesen Bürgern befinden sich 23 promovierte Personen und 14 Mitglieder der SED.
Straftaten gegen die staatliche Ordnung
Straftaten gegen die staatliche Ordnung waren Straftatbestände des 8. Kapitels des StGB/1968. Insbesondere der 2. Abschnitt ("Straftaten gegen die staatliche und öffentliche Ordnung") enthält politische Strafnormen, die für die strafrechtliche Untersuchungstätigkeit der Staatssicherheit (Untersuchungsorgan) von großer Bedeutung waren.
Das gilt vor allem für § 213 ("Ungesetzlicher Grenzübertritt"), der in der Honecker-Ära Grundlage von rund der Hälfte aller MfS-Ermittlungsverfahren war. Auch § 214 ("Beeinträchtigung staatlicher und gesellschaftlicher Tätigkeit") spielte, vor allem im Zusammenhang mit der Bekämpfung von Ausreiseantragstellern, in den 80er Jahren eine immer wichtigere Rolle.
Ähnliches gilt für § 219 ("Ungesetzliche Verbindungsaufnahme") und § 220 ("Öffentliche Herabwürdigung der staatlichen Ordnung"), die die ähnlichen, aber schwerer wiegenden Strafnormen aus dem 2. Kapitel des StGB/1968 § 100 ("Staatsfeindliche Verbindungen", ab 1979 "Landesverräterische Agententätigkeit") und § 106 ("Staatsfeindliche Hetze") weitgehend verdrängten (Staatsverbrechen).
Die DDR-Geschichte war von ihrem Anfang bis zu ihrem Ende auch eine Geschichte der Flucht. Der Bau der Mauer 1961 steht dafür ebenso symbolisch wie der von der Gesellschaft schließlich erzwungene Mauerdurchbruch 1989, der das Ende des SED-Staates markiert.
Zu einem Schwerpunkt in der Arbeit des MfS rückte ab den 70er Jahren das Vorgehen gegen "Antragsteller auf ständige Ausreise aus der DDR in die BRD bzw. nach Berlin (West)" (AStA) auf. Hierfür waren zwei Gründe ausschlaggebend: Mit der Unterzeichnung der KSZE-Schlussakte in Helsinki 1975 verpflichtete sich die DDR, nachdem sie bereits die UN-Menschenrechtscharta unterzeichnet hatte, das Recht auf Freizügigkeit anzuerkennen. Trotzdem gewährte die DDR aber auch weiterhin nur Rentnern und Invaliden die Übersiedlung in die Bundesrepublik. Bereits einen Ausreiseantrag zu stellen, galt - da die Rechtsgrundlage in der DDR fehlte - als illegal und konnte mit Gefängnisstrafen geahndet werden. Das geschah auch häufig.
Nicht nur die Zahl der Anträge nahm seit Mitte der 70er Jahre zu, Ausreisewillige traten nun auch immer häufiger öffentlich mit Protesten in Erscheinung, wobei sie die Möglichkeit einer Inhaftierung in Kauf nahmen. Nicht zuletzt aufgrund ihrer Entschlossenheit, mit den Verhältnissen in der DDR konsequent zu brechen, wurden sie in den Augen des MfS zu einem Sicherheitsrisiko. Auch die 1983 erlassene Verordnung zur Regelung von Fragen der Familienzusammenführung und Eheschließung zwischen Bürgern der DDR und Ausländern brachte keine Entlastung, da der Personenkreis eingeschränkt blieb. Ab Herbst 1983 bezeichnete das MfS diese Personengruppe als Übersiedlungsersuchende (ÜSE).
Obwohl Menschen, die die DDR verlassen wollten, ihren Antrag nur als Einzelperson oder ggf. gemeinsam mit ihren Familienangehörigen stellten, kann ab Mitte der 70er Jahre von einer Ausreisebewegung die Rede sein. Die Zahl der Ausreiseanträge war groß (zu den Zahlen der Republikflucht). Die Ausreiseantragsteller versuchten sich zu vernetzen und traten öffentlich in Erscheinung. Bereits 1973 ging von den auf die Genehmigung ihrer Ausreise hoffenden Familien Faust und Hauptmann in Pirna eine Unterschriftensammlung aus; 1976 gelangte die Petition des Riesaer Arztes Karl-Heinz Nitschke "zur vollen Erlangung der Menschenrechte" in die Westmedien. Die Petition war von 79 Personen unterzeichnet worden.
Bekannt wurden insbesondere die "weißen Kreise" (ausgehend von Jena Anfang der 80er Jahre, später auch in anderen Städten): Ausreiseantragsteller stellten sich auf zentralen Plätzen im Kreis auf und machten so auf ihr Begehren aufmerksam. Um sich untereinander zu erkennen und ihren Protest auszudrücken, trugen sie weiße Kleidung. Das MfS griff wiederholt ein und inhaftierte die Protestierenden.
Neben dem Besuch oder auch der Besetzung westlicher Botschaften in der DDR, insbesondere der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik in Ostberlin, und im kommunistischen Ausland organisierten sich Ausreiseantragsteller ab 1987 in Gruppen, die zumeist bei evangelischen Kirchengemeinden Zuflucht fanden. In Ostberlin konstituierte sich im Herbst 1987 die Arbeitsgruppe Staatsbürgerschaftsrecht in der DDR, die Rechtsberatungen durchführte, die Solidarität unter Antragstellern organisierte und mit Protesterklärungen auf das Schicksal der Antragsteller aufmerksam machte. Weitere Gruppen entstanden in Leipzig, Berlin-Treptow, Stralsund, Greifswald, Dresden und vielen anderen Städten.
Es kam immer häufiger zu öffentlichen Protesten. An Autos oder in Wohnungsfenstern wurden Symbole angebracht, um auf den gestellten Ausreiseantrag öffentlich aufmerksam zu machen. Mehrfach kam es auch zu Besetzungen von Kirchen, wobei die Kirchenleitungen nicht immer im Sinne der Besetzer agierten. Fanden Gespräche oder Rechtsberatungen mit Ausreiseantragstellern außerhalb kirchlicher Räume statt (wie in einem Jugendklub in Potsdam-Babelsberg), so intervenierte das MfS und nahm die unmittelbar Beteiligten meist in Haft.
Um gegen die zunehmende Zahl der Ausreiseanträge vorzugehen, erließ MfS-Minister Erich Mielke am 18.3.1977 den Befehl 6/77 zur "Vorbeugung, Verhinderung und Bekämpfung rechtswidriger Übersiedlungsersuchen". Geregelt wurden hier auch die Informationspflicht und die Zusammenarbeit zwischen der 1975 (Befehl 1/75) gebildeten Zentralen Koordinierungsgruppe bzw. den Bezirkskoordinierungsgruppen, die für die Zusammenarbeit mit dem MdI und kommunalen Instanzen verantwortlich zeichneten, und den zuständigen MfS-Diensteinheiten.
Im Fall von auffällig "feindlich-negativen" Antragstellern, von denen potenziell Aktivitäten zur "Erzwingung" der Ausreise ausgingen, wurde seitens des MfS der Abteilung Inneres beim Rat des Bezirks oder Kreises die Option eingeräumt, eine "vorbeugende Übersiedlung" des Antragstellers zu veranlassen. Im Jahr 1988 musste das MfS immer wieder "öffentlichkeitswirksame Provokationen" von "aktiv handelnden Zusammenschlüssen" - Demonstrationen mit Hunderten, in Ausnahmefällen sogar mehreren Tausend Teilnehmern - in fast allen DDR-Bezirken feststellen.
Als wenig erfolgreich galten die in Verantwortung der Abteilung Inneres durchgeführten "Zurückdrängungsgespräche", die mit Antragstellern auf Weisung des MfS zu führen waren - nicht selten wurden diesen dabei eine Verbesserung der Wohnraumsituation oder die Aufhebung von Diskriminierungen am Arbeitsplatz in Aussicht gestellt. Antragstellern, die sich mehrfach an staatliche Stellen gewandt hatten (im MfS-Sprachgebrauch: "hartnäckige Antragsteller"), wurden strafrechtliche Sanktionen angedroht, und sie wurden nicht selten vom MfS inhaftiert. Dies traf vor allem dann zu, wenn Antragsteller Konsequenzen angekündigt oder westliche Stellen von ihrem Antrag in Kenntnis gesetzt hatten.
Von 1977 bis zum Sommer 1989 wurden in der DDR etwa 20.000 Ermittlungsverfahren gegen Antragsteller eingeleitet. Zuständig für die Bearbeitung war jeweils das MfS und deren Untersuchungsorgan; inhaftierte Antragsteller wurden in die MfS Untersuchungshaftanstalten überstellt und gelangten oft nach einer gerichtlichen Verurteilung über den Häftlingsfreikauf in die Freiheit. Flucht und Ausreise stellten ganz wesentliche Destabilisierungs- und Delegitimierungsfaktoren der SED-Herrschaft von 1949 bis 1989 dar.
Die ZAIG war das "Funktionalorgan" des Ministers für Staatssicherheit, die Schaltstelle im MfS, in der nahezu alle komplexen Stabsfunktionen konzentriert waren: die zentrale Auswertung und Information, einschließlich der Berichterstattung an die politische Führung, die Optimierung der entsprechenden Verfahren und Strukturen im Gesamtapparat des MfS, die zentralen Kontrollen und Untersuchungen und die Analyse der operativen Effektivität des MfS, die zentrale Planung und die Erarbeitung dienstlicher Bestimmungen, zudem die übergeordneten Funktionen im Bereich EDV sowie die Gewährleistung des internationalen Datenaustauschsystems der kommunistischen Staatssicherheitsdienste (SOUD). Nach der Eingliederung der Abteilung Agitation 1985 waren auch die Öffentlichkeitsarbeit und die Traditionspflege des MfS in der ZAIG als "Bereich 6" funktional verankert. Die ZAIG war im direkten Anleitungsbereich des Ministers angesiedelt; ihr waren zuletzt die formal selbständigen Abt. XII, XIII (Rechenzentrum) und die Rechtsstelle fachlich unterstellt.
Die ZAIG geht auf die nach dem Juniaufstand 1953 gegründete und von Heinz Tilch geleitete Informationsgruppe (IG) der Staatssicherheitszentrale zurück, die erstmals eine regelmäßige Lage- und Stimmungsberichterstattung für die Partei- und Staatsführung hervorbrachte. Diese entwickelte sich 1955/56 zur Abteilung Information mit drei Fachreferaten, wurde aber 1957 als Resultat des Konfliktes zwischen Ulbricht und Wollweber wieder stark reduziert. 1957 erhielt die Abteilung mit Irmler einen neuen Leiter, der jedoch bereits 1959 vom ehemaligen stellv. Leiter der HV A Korb abgelöst und zum Stellvertreter zurückgestuft wurde. Gleichzeitig wurde die Diensteinheit in Zentrale Informationsgruppe (ZIG) umbenannt; von da an lief auch die bisher eigenständige Berichterstattung der HV A über sie. 1960 wurde die Berichterstattung an die politische Führung durch einen Ministerbefehl präzise geregelt, und die ZIG erhielt mit der Neueinrichtung von Informationsgruppen in den BV und operativen HA einen soliden Unterbau.
1965 wurde die ZIG in ZAIG umbenannt und ein einheitliches Auswertungs- und Informationssystem eingeführt, das die Recherche und Selektion von Daten sowie die Organisierung von Informationsflüssen gewährleistete. In den operativen HA und BV erhielt die ZAIG mit den AIG entsprechende "Filialen". Im gleichen Jahr ging Korb in den Ruhestand, Irmler wurde wieder Leiter der Diensteinheit.
1968 wurde auch das Kontrollwesen der Staatssicherheit in die ZAIG eingegliedert, das im Dezember 1953 mit der Kontrollinspektion seinen ersten organisatorischen Rahmen erhalten hatte und 1957 mit der Umbenennung in AG Anleitung und Kontrolle erheblich qualifiziert worden war.
1969 erhielt die ZAIG auch die Verantwortung für den Einsatz der EDV. Das im Aufbau begriffene Rechenzentrum (Abt. XIII) wurde ihr unterstellt. In der ersten Hälfte der 70er Jahre bildeten sich vier Arbeitsbereiche der ZAIG heraus. Bereich 1: konkrete Auswertungs- und Informationstätigkeit und Berichterstattung an die politische Führung; Bereich 2: Kontrollwesen, die Erarbeitung von dienstlichen Bestimmungen sowie Prognose- und Planungsaufgaben; Bereich 3: Fragen der EDV; Bereich 4: Pflege und Weiterentwicklung der "manuellen" Bestandteile des Auswertungs- und Informationssystems. 1979 erhielt dieser Bereich auch die Verantwortung für das SOUD ("ZAIG/5").