Signatur: BStU, MfS, ZAIG, Nr. 4599, Bl. 130-143
Der Wochenbericht an die MfS- und SED-Führung für den Zeitraum vom 24. bis zum 30. Oktober 1989 deutete weitreichende politische Umwälzungen an. Die Volkskammer wählte Egon Krenz als Nachfolger für den zurückgetretenen Erich Honecker. Zentrales Thema des Berichtes war darüber hinaus die Ausreise tausender Bürger aus der DDR.
Seit den 70er Jahren fungierte die Zentrale Auswertungs- und Informationsgruppe des Ministeriums für Staatssicherheit (ZAIG) als Schaltstelle der Geheimpolizei. Kernaufgaben dieser Diensteinheit waren die Auswertung von Informationen und die Erarbeitung von Berichten und Materialien zur Information des Ministers sowie der Partei- und Staatsführung. Diese Tätigkeit ging auf den Volksaufstand vom 17. Juni 1953 zurück, der das MfS und die SED überrascht hatte.
Die ZAIG fertigte u.a. Wochenberichte an, welche die wichtigsten Ereignisse der vorangegangenen Tage für die Führung des Ministeriums und für die SED-Spitze zusammenfassten. Das vorliegende Dokument umfasst den Zeitraum vom 24. bis zum 30. Oktober 1989. Weitreichende politische Umwälzungen deuteten sich in dieser Berichtswoche an. Die Volkskammer wählte Egon Krenz als Nachfolger für den zurückgetretenen Erich Honecker. Er übernahm in Personalunion die Posten des Staatsratsvorsitzenden und des Vorsitzenden des Nationalen Verteidigungsrates. Nur einen Tag später wurden auf der Montagsdemonstration in Leipzig Stimmen laut, welche die Auflösung des Ministeriums für Staatssicherheit forderten.
Der vorliegende Wochenbericht beschäftigte sich eingehend mit den aus der DDR ausgereisten Bürgern und widmet auch den Rückkehrern unter ihnen besondere Aufmerksamkeit. Zudem informiert die ZAIG über ein neu auftretendes Phänomen: Gegen Parteifunktionäre richteten sich immer wieder anonyme oder pseudonyme Gewaltandrohungen. Den Anlass sehen die Verfasser im Vorgehen der Sicherungskräfte gegen Demonstranten am 7. und 8. Oktober 1989.
Zum ungesetzlichen Verlassen der DDR nach dem nichtsozialistischen Ausland und zu ständigen Ausreisen von Bürgern der DDR nach der BRD bzw. Westberlin
Nach vorläufigen Hinweisen sind im Zeitraum vom 23. bis 29. Oktober 1989 insgesamt ca. 15600 Bürger der DDR mit Aktivitäten des ungesetzlichen Verlassens der DDR nach dem nichtsozialistischen Ausland und ständigen Ausreisen nach der BRD bzw. Westberlin in Erscheinung getreten. Davon haben
Gegenwärtig halten sich 1888 Bürger der DDR zur Erzwingung ihrer Ausreise in Botschaften der BRD in Warschau (1825), Prag (60) und Sofia (3) auf.
Auf der Grundlage zentraler Entscheidungen wurden seit 16. Oktober 1989 1404 Personen durch die DDR-Botschaft in Warschau und seit 26. Oktober 1989 184 Personen durch die DDR-Botschaft in Prag, nach Entlassung aus der Staatsbürgerschaft der DDR,die ständige Ausreise in das nichtsozialistische Ausland genehmigt. Der überwiegende Teil dieser Personen ist bereits nach der BRD ausgereist.
Vollendetes ungesetzliches Verlassen der DDR
Im Zeitraum vom 23. bis 29. Oktober 1989 konnten bisher 2410 (Vorwoche 2008) Bürger identifiziert werden, die die DDR ungesetzlich nach dem nichtsozialistischen Ausland verlassen haben, davon
Straftaten gegen die staatliche Ordnung
Straftaten gegen die staatliche Ordnung waren Straftatbestände des 8. Kapitels des StGB/1968. Insbesondere der 2. Abschnitt ("Straftaten gegen die staatliche und öffentliche Ordnung") enthält politische Strafnormen, die für die strafrechtliche Untersuchungstätigkeit der Staatssicherheit (Untersuchungsorgan) von großer Bedeutung waren.
Das gilt vor allem für § 213 ("Ungesetzlicher Grenzübertritt"), der in der Honecker-Ära Grundlage von rund der Hälfte aller MfS-Ermittlungsverfahren war. Auch § 214 ("Beeinträchtigung staatlicher und gesellschaftlicher Tätigkeit") spielte, vor allem im Zusammenhang mit der Bekämpfung von Ausreiseantragstellern, in den 80er Jahren eine immer wichtigere Rolle.
Ähnliches gilt für § 219 ("Ungesetzliche Verbindungsaufnahme") und § 220 ("Öffentliche Herabwürdigung der staatlichen Ordnung"), die die ähnlichen, aber schwerer wiegenden Strafnormen aus dem 2. Kapitel des StGB/1968 § 100 ("Staatsfeindliche Verbindungen", ab 1979 "Landesverräterische Agententätigkeit") und § 106 ("Staatsfeindliche Hetze") weitgehend verdrängten (Staatsverbrechen).
Die ZAIG war das "Funktionalorgan" des Ministers für Staatssicherheit, die Schaltstelle im MfS, in der nahezu alle komplexen Stabsfunktionen konzentriert waren: die zentrale Auswertung und Information, einschließlich der Berichterstattung an die politische Führung, die Optimierung der entsprechenden Verfahren und Strukturen im Gesamtapparat des MfS, die zentralen Kontrollen und Untersuchungen und die Analyse der operativen Effektivität des MfS, die zentrale Planung und die Erarbeitung dienstlicher Bestimmungen, zudem die übergeordneten Funktionen im Bereich EDV sowie die Gewährleistung des internationalen Datenaustauschsystems der kommunistischen Staatssicherheitsdienste (SOUD). Nach der Eingliederung der Abteilung Agitation 1985 waren auch die Öffentlichkeitsarbeit und die Traditionspflege des MfS in der ZAIG als "Bereich 6" funktional verankert. Die ZAIG war im direkten Anleitungsbereich des Ministers angesiedelt; ihr waren zuletzt die formal selbständigen Abt. XII, XIII (Rechenzentrum) und die Rechtsstelle fachlich unterstellt.
Die ZAIG geht auf die nach dem Juniaufstand 1953 gegründete und von Heinz Tilch geleitete Informationsgruppe (IG) der Staatssicherheitszentrale zurück, die erstmals eine regelmäßige Lage- und Stimmungsberichterstattung für die Partei- und Staatsführung hervorbrachte. Diese entwickelte sich 1955/56 zur Abteilung Information mit drei Fachreferaten, wurde aber 1957 als Resultat des Konfliktes zwischen Ulbricht und Wollweber wieder stark reduziert. 1957 erhielt die Abteilung mit Irmler einen neuen Leiter, der jedoch bereits 1959 vom ehemaligen stellv. Leiter der HV A Korb abgelöst und zum Stellvertreter zurückgestuft wurde. Gleichzeitig wurde die Diensteinheit in Zentrale Informationsgruppe (ZIG) umbenannt; von da an lief auch die bisher eigenständige Berichterstattung der HV A über sie. 1960 wurde die Berichterstattung an die politische Führung durch einen Ministerbefehl präzise geregelt, und die ZIG erhielt mit der Neueinrichtung von Informationsgruppen in den BV und operativen HA einen soliden Unterbau.
1965 wurde die ZIG in ZAIG umbenannt und ein einheitliches Auswertungs- und Informationssystem eingeführt, das die Recherche und Selektion von Daten sowie die Organisierung von Informationsflüssen gewährleistete. In den operativen HA und BV erhielt die ZAIG mit den AIG entsprechende "Filialen". Im gleichen Jahr ging Korb in den Ruhestand, Irmler wurde wieder Leiter der Diensteinheit.
1968 wurde auch das Kontrollwesen der Staatssicherheit in die ZAIG eingegliedert, das im Dezember 1953 mit der Kontrollinspektion seinen ersten organisatorischen Rahmen erhalten hatte und 1957 mit der Umbenennung in AG Anleitung und Kontrolle erheblich qualifiziert worden war.
1969 erhielt die ZAIG auch die Verantwortung für den Einsatz der EDV. Das im Aufbau begriffene Rechenzentrum (Abt. XIII) wurde ihr unterstellt. In der ersten Hälfte der 70er Jahre bildeten sich vier Arbeitsbereiche der ZAIG heraus. Bereich 1: konkrete Auswertungs- und Informationstätigkeit und Berichterstattung an die politische Führung; Bereich 2: Kontrollwesen, die Erarbeitung von dienstlichen Bestimmungen sowie Prognose- und Planungsaufgaben; Bereich 3: Fragen der EDV; Bereich 4: Pflege und Weiterentwicklung der "manuellen" Bestandteile des Auswertungs- und Informationssystems. 1979 erhielt dieser Bereich auch die Verantwortung für das SOUD ("ZAIG/5").
Signatur: BStU, MfS, ZAIG, Nr. 4599, Bl. 130-143
Der Wochenbericht an die MfS- und SED-Führung für den Zeitraum vom 24. bis zum 30. Oktober 1989 deutete weitreichende politische Umwälzungen an. Die Volkskammer wählte Egon Krenz als Nachfolger für den zurückgetretenen Erich Honecker. Zentrales Thema des Berichtes war darüber hinaus die Ausreise tausender Bürger aus der DDR.
Seit den 70er Jahren fungierte die Zentrale Auswertungs- und Informationsgruppe des Ministeriums für Staatssicherheit (ZAIG) als Schaltstelle der Geheimpolizei. Kernaufgaben dieser Diensteinheit waren die Auswertung von Informationen und die Erarbeitung von Berichten und Materialien zur Information des Ministers sowie der Partei- und Staatsführung. Diese Tätigkeit ging auf den Volksaufstand vom 17. Juni 1953 zurück, der das MfS und die SED überrascht hatte.
Die ZAIG fertigte u.a. Wochenberichte an, welche die wichtigsten Ereignisse der vorangegangenen Tage für die Führung des Ministeriums und für die SED-Spitze zusammenfassten. Das vorliegende Dokument umfasst den Zeitraum vom 24. bis zum 30. Oktober 1989. Weitreichende politische Umwälzungen deuteten sich in dieser Berichtswoche an. Die Volkskammer wählte Egon Krenz als Nachfolger für den zurückgetretenen Erich Honecker. Er übernahm in Personalunion die Posten des Staatsratsvorsitzenden und des Vorsitzenden des Nationalen Verteidigungsrates. Nur einen Tag später wurden auf der Montagsdemonstration in Leipzig Stimmen laut, welche die Auflösung des Ministeriums für Staatssicherheit forderten.
Der vorliegende Wochenbericht beschäftigte sich eingehend mit den aus der DDR ausgereisten Bürgern und widmet auch den Rückkehrern unter ihnen besondere Aufmerksamkeit. Zudem informiert die ZAIG über ein neu auftretendes Phänomen: Gegen Parteifunktionäre richteten sich immer wieder anonyme oder pseudonyme Gewaltandrohungen. Den Anlass sehen die Verfasser im Vorgehen der Sicherungskräfte gegen Demonstranten am 7. und 8. Oktober 1989.
Unter den Tätern befinden sich nach vorläufigen Erkenntnissen
sowie je ein(e) Produktionsdirektor, Diplombiologe, Diplompharmazeutin, Diplomgeologe, Diplomphilologe, Diplompsychologe, Diplomhydrologe und Filmdramaturg.
Ausgewählte Beispiele:
Ausnutzung von Territorien anderer sozialistischer Staaten:
28 Ärzte, darunter 8 Zahnärzte, u.a.:
Ein Oberarzt (44, Dr., Frauenklinik Gera, Antrag auf ständige Ausreise am 6. Oktober 1989 abgelehnt);
ein Arztehepaar (35, Dr., Oberarzt, Urologische Klinik; 33, Ärztin, Kinderklinik, beide Kreiskrankenhaus Bautzen) und 2 Kinder (9, 7).
Weitere beachtenswerte Personen, u.a.:
Ein Hauptabteilungsleiter Forschung/Neue Technik (39, Dr., VEB Baumechanisierung Lengenfeld / Betrieb des Kombinats Baumechanisierung Dresden) mit Ehefrau (37, Abteilungsleiter im gleichen Betrieb) und Sohn (14).
Die ZAIG war das "Funktionalorgan" des Ministers für Staatssicherheit, die Schaltstelle im MfS, in der nahezu alle komplexen Stabsfunktionen konzentriert waren: die zentrale Auswertung und Information, einschließlich der Berichterstattung an die politische Führung, die Optimierung der entsprechenden Verfahren und Strukturen im Gesamtapparat des MfS, die zentralen Kontrollen und Untersuchungen und die Analyse der operativen Effektivität des MfS, die zentrale Planung und die Erarbeitung dienstlicher Bestimmungen, zudem die übergeordneten Funktionen im Bereich EDV sowie die Gewährleistung des internationalen Datenaustauschsystems der kommunistischen Staatssicherheitsdienste (SOUD). Nach der Eingliederung der Abteilung Agitation 1985 waren auch die Öffentlichkeitsarbeit und die Traditionspflege des MfS in der ZAIG als "Bereich 6" funktional verankert. Die ZAIG war im direkten Anleitungsbereich des Ministers angesiedelt; ihr waren zuletzt die formal selbständigen Abt. XII, XIII (Rechenzentrum) und die Rechtsstelle fachlich unterstellt.
Die ZAIG geht auf die nach dem Juniaufstand 1953 gegründete und von Heinz Tilch geleitete Informationsgruppe (IG) der Staatssicherheitszentrale zurück, die erstmals eine regelmäßige Lage- und Stimmungsberichterstattung für die Partei- und Staatsführung hervorbrachte. Diese entwickelte sich 1955/56 zur Abteilung Information mit drei Fachreferaten, wurde aber 1957 als Resultat des Konfliktes zwischen Ulbricht und Wollweber wieder stark reduziert. 1957 erhielt die Abteilung mit Irmler einen neuen Leiter, der jedoch bereits 1959 vom ehemaligen stellv. Leiter der HV A Korb abgelöst und zum Stellvertreter zurückgestuft wurde. Gleichzeitig wurde die Diensteinheit in Zentrale Informationsgruppe (ZIG) umbenannt; von da an lief auch die bisher eigenständige Berichterstattung der HV A über sie. 1960 wurde die Berichterstattung an die politische Führung durch einen Ministerbefehl präzise geregelt, und die ZIG erhielt mit der Neueinrichtung von Informationsgruppen in den BV und operativen HA einen soliden Unterbau.
1965 wurde die ZIG in ZAIG umbenannt und ein einheitliches Auswertungs- und Informationssystem eingeführt, das die Recherche und Selektion von Daten sowie die Organisierung von Informationsflüssen gewährleistete. In den operativen HA und BV erhielt die ZAIG mit den AIG entsprechende "Filialen". Im gleichen Jahr ging Korb in den Ruhestand, Irmler wurde wieder Leiter der Diensteinheit.
1968 wurde auch das Kontrollwesen der Staatssicherheit in die ZAIG eingegliedert, das im Dezember 1953 mit der Kontrollinspektion seinen ersten organisatorischen Rahmen erhalten hatte und 1957 mit der Umbenennung in AG Anleitung und Kontrolle erheblich qualifiziert worden war.
1969 erhielt die ZAIG auch die Verantwortung für den Einsatz der EDV. Das im Aufbau begriffene Rechenzentrum (Abt. XIII) wurde ihr unterstellt. In der ersten Hälfte der 70er Jahre bildeten sich vier Arbeitsbereiche der ZAIG heraus. Bereich 1: konkrete Auswertungs- und Informationstätigkeit und Berichterstattung an die politische Führung; Bereich 2: Kontrollwesen, die Erarbeitung von dienstlichen Bestimmungen sowie Prognose- und Planungsaufgaben; Bereich 3: Fragen der EDV; Bereich 4: Pflege und Weiterentwicklung der "manuellen" Bestandteile des Auswertungs- und Informationssystems. 1979 erhielt dieser Bereich auch die Verantwortung für das SOUD ("ZAIG/5").
Signatur: BStU, MfS, ZAIG, Nr. 4599, Bl. 130-143
Der Wochenbericht an die MfS- und SED-Führung für den Zeitraum vom 24. bis zum 30. Oktober 1989 deutete weitreichende politische Umwälzungen an. Die Volkskammer wählte Egon Krenz als Nachfolger für den zurückgetretenen Erich Honecker. Zentrales Thema des Berichtes war darüber hinaus die Ausreise tausender Bürger aus der DDR.
Seit den 70er Jahren fungierte die Zentrale Auswertungs- und Informationsgruppe des Ministeriums für Staatssicherheit (ZAIG) als Schaltstelle der Geheimpolizei. Kernaufgaben dieser Diensteinheit waren die Auswertung von Informationen und die Erarbeitung von Berichten und Materialien zur Information des Ministers sowie der Partei- und Staatsführung. Diese Tätigkeit ging auf den Volksaufstand vom 17. Juni 1953 zurück, der das MfS und die SED überrascht hatte.
Die ZAIG fertigte u.a. Wochenberichte an, welche die wichtigsten Ereignisse der vorangegangenen Tage für die Führung des Ministeriums und für die SED-Spitze zusammenfassten. Das vorliegende Dokument umfasst den Zeitraum vom 24. bis zum 30. Oktober 1989. Weitreichende politische Umwälzungen deuteten sich in dieser Berichtswoche an. Die Volkskammer wählte Egon Krenz als Nachfolger für den zurückgetretenen Erich Honecker. Er übernahm in Personalunion die Posten des Staatsratsvorsitzenden und des Vorsitzenden des Nationalen Verteidigungsrates. Nur einen Tag später wurden auf der Montagsdemonstration in Leipzig Stimmen laut, welche die Auflösung des Ministeriums für Staatssicherheit forderten.
Der vorliegende Wochenbericht beschäftigte sich eingehend mit den aus der DDR ausgereisten Bürgern und widmet auch den Rückkehrern unter ihnen besondere Aufmerksamkeit. Zudem informiert die ZAIG über ein neu auftretendes Phänomen: Gegen Parteifunktionäre richteten sich immer wieder anonyme oder pseudonyme Gewaltandrohungen. Den Anlass sehen die Verfasser im Vorgehen der Sicherungskräfte gegen Demonstranten am 7. und 8. Oktober 1989.
Mißbrauch von Privatreisen nach dem nichtsozialistischen Ausland, u.a.:
Mißbrauch von Dienstreisen, u.a.:
Im Zeitraum vom 1. Januar bis 29. Oktober 1989 haben bisher 9753 Bürger der DDR genehmigte Privatreisen nach dem nichtsozialistischen Ausland zum ungesetzlichen Verlassen der DDR mißbraucht. Unter diesen Bürgern befinden sich 1143 Personen mit Hochschulausbildung, u.a. 202 Ärzte, 76 Zahnärzte, 221 Lehrer und 135 Personen aus den Bereichen Forschung und Entwicklung sowie 1464 mit Fachschulausbildung, darunter 541 aus dem Bereich Gesundheitswesen sowie 170 Personen aus Einrichtungen der Forschung, Entwicklung und Planung.
Maßnahmen zur Aufklärung der Mitwirkung von Feindorganisationen, der Motive, begünstigenden Bedingungen sowie differenzierte Maßnahmen zur Rückgewinnung wurden eingeleitet.
Straftaten gegen die staatliche Ordnung
Straftaten gegen die staatliche Ordnung waren Straftatbestände des 8. Kapitels des StGB/1968. Insbesondere der 2. Abschnitt ("Straftaten gegen die staatliche und öffentliche Ordnung") enthält politische Strafnormen, die für die strafrechtliche Untersuchungstätigkeit der Staatssicherheit (Untersuchungsorgan) von großer Bedeutung waren.
Das gilt vor allem für § 213 ("Ungesetzlicher Grenzübertritt"), der in der Honecker-Ära Grundlage von rund der Hälfte aller MfS-Ermittlungsverfahren war. Auch § 214 ("Beeinträchtigung staatlicher und gesellschaftlicher Tätigkeit") spielte, vor allem im Zusammenhang mit der Bekämpfung von Ausreiseantragstellern, in den 80er Jahren eine immer wichtigere Rolle.
Ähnliches gilt für § 219 ("Ungesetzliche Verbindungsaufnahme") und § 220 ("Öffentliche Herabwürdigung der staatlichen Ordnung"), die die ähnlichen, aber schwerer wiegenden Strafnormen aus dem 2. Kapitel des StGB/1968 § 100 ("Staatsfeindliche Verbindungen", ab 1979 "Landesverräterische Agententätigkeit") und § 106 ("Staatsfeindliche Hetze") weitgehend verdrängten (Staatsverbrechen).
Rückgewinnung beschreibt einen Komplex von gezielten Maßnahmen des MfS, die dazu dienten, Personen von ihrer systemkritischen Haltung abzubringen. Die Betreffenden sollten von ausgewählten Personen aufgesucht werden und – wie man meinte – den auf sie wirkenden "feindlich-negativen" Einflüssen entzogen werden. Auch Gratifikationen konnten Teil der Rückgewinnung sein. Die Rückgewinnung wurde auch im Rahmen der Zersetzung von DDR-kritisch eingestellten Freundeskreisen oder Gruppen eingesetzt.
Die ZAIG war das "Funktionalorgan" des Ministers für Staatssicherheit, die Schaltstelle im MfS, in der nahezu alle komplexen Stabsfunktionen konzentriert waren: die zentrale Auswertung und Information, einschließlich der Berichterstattung an die politische Führung, die Optimierung der entsprechenden Verfahren und Strukturen im Gesamtapparat des MfS, die zentralen Kontrollen und Untersuchungen und die Analyse der operativen Effektivität des MfS, die zentrale Planung und die Erarbeitung dienstlicher Bestimmungen, zudem die übergeordneten Funktionen im Bereich EDV sowie die Gewährleistung des internationalen Datenaustauschsystems der kommunistischen Staatssicherheitsdienste (SOUD). Nach der Eingliederung der Abteilung Agitation 1985 waren auch die Öffentlichkeitsarbeit und die Traditionspflege des MfS in der ZAIG als "Bereich 6" funktional verankert. Die ZAIG war im direkten Anleitungsbereich des Ministers angesiedelt; ihr waren zuletzt die formal selbständigen Abt. XII, XIII (Rechenzentrum) und die Rechtsstelle fachlich unterstellt.
Die ZAIG geht auf die nach dem Juniaufstand 1953 gegründete und von Heinz Tilch geleitete Informationsgruppe (IG) der Staatssicherheitszentrale zurück, die erstmals eine regelmäßige Lage- und Stimmungsberichterstattung für die Partei- und Staatsführung hervorbrachte. Diese entwickelte sich 1955/56 zur Abteilung Information mit drei Fachreferaten, wurde aber 1957 als Resultat des Konfliktes zwischen Ulbricht und Wollweber wieder stark reduziert. 1957 erhielt die Abteilung mit Irmler einen neuen Leiter, der jedoch bereits 1959 vom ehemaligen stellv. Leiter der HV A Korb abgelöst und zum Stellvertreter zurückgestuft wurde. Gleichzeitig wurde die Diensteinheit in Zentrale Informationsgruppe (ZIG) umbenannt; von da an lief auch die bisher eigenständige Berichterstattung der HV A über sie. 1960 wurde die Berichterstattung an die politische Führung durch einen Ministerbefehl präzise geregelt, und die ZIG erhielt mit der Neueinrichtung von Informationsgruppen in den BV und operativen HA einen soliden Unterbau.
1965 wurde die ZIG in ZAIG umbenannt und ein einheitliches Auswertungs- und Informationssystem eingeführt, das die Recherche und Selektion von Daten sowie die Organisierung von Informationsflüssen gewährleistete. In den operativen HA und BV erhielt die ZAIG mit den AIG entsprechende "Filialen". Im gleichen Jahr ging Korb in den Ruhestand, Irmler wurde wieder Leiter der Diensteinheit.
1968 wurde auch das Kontrollwesen der Staatssicherheit in die ZAIG eingegliedert, das im Dezember 1953 mit der Kontrollinspektion seinen ersten organisatorischen Rahmen erhalten hatte und 1957 mit der Umbenennung in AG Anleitung und Kontrolle erheblich qualifiziert worden war.
1969 erhielt die ZAIG auch die Verantwortung für den Einsatz der EDV. Das im Aufbau begriffene Rechenzentrum (Abt. XIII) wurde ihr unterstellt. In der ersten Hälfte der 70er Jahre bildeten sich vier Arbeitsbereiche der ZAIG heraus. Bereich 1: konkrete Auswertungs- und Informationstätigkeit und Berichterstattung an die politische Führung; Bereich 2: Kontrollwesen, die Erarbeitung von dienstlichen Bestimmungen sowie Prognose- und Planungsaufgaben; Bereich 3: Fragen der EDV; Bereich 4: Pflege und Weiterentwicklung der "manuellen" Bestandteile des Auswertungs- und Informationssystems. 1979 erhielt dieser Bereich auch die Verantwortung für das SOUD ("ZAIG/5").