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Geschichten
Woodstock an der Werra
"Kunden-Karneval" in Wasungen und die Stasi
Der traditionsreiche Wasunger Karneval wurde Mitte der 1970er Jahre zu einem beliebten Reiseziel unangepasster Jugendlicher. Sie wollten dem grauen
DDR-Alltag entfliehen und suchten in der thüringischen Provinz ein paar Tage voller Spaß, Alkohol und Abwechslung. Die selbsternannten "Kunden" wurden dabei durch die
Stasi systematisch überwacht.
Woodstock an der Werra
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Einleitung
Aus der gesamten DDR reisten Jugendliche in die thüringische Provinz. Ihre Ausrüstung bestand oft nur aus einigen Flaschen Bier und einer Decke. Wer die Kontrollpunkte der Transport- und Volkspolizei passieren konnte und es bis Wasungen schaffte, übernachtete dort, wo er konnte: in Schlafsälen, in Kellern, in Scheunen oder auf Dachböden. In der Besuchermenge bildeten die "Kunden" eine Gruppe, die sich deutlich von dem traditionellen Karnevalsumzug abhob. Statt Prinzenkostüm oder Narrenkappe trugen sie lange Haare, Bärte, Jeans und Parka.
Die unkontrollierte Ankunft von mehreren hundert unangepassten Jugendlichen forderte die "staatlichen Organe" der DDR heraus. Denn die "Kunden" folgten nicht dem Umzugstreiben oder lauschten den Büttenreden, sondern sie stürmten überfallartig die wenigen Kneipen der Kleinstadt.
Im Stasi-Unterlagen-Archiv finden sich zahlreiche Zeugnisse der Überwachung des "Kunden Karnevals". Stellvertretend seien zahlreiche Fotoaufnahmen und das durch das MfS angefertigte Filmmaterial zu nennen. Ferner ist im Suhler Stasi-Unterlagen-Archiv eine Kartei zum Wasunger Karneval überliefert. In dieser wurden Personen registriert, die zum närrischen Treiben in das heutige Thüringen reisen wollten und durch die "staatlichen Organe" der DDR kontrolliert, zugeführt oder zurückgewiesen wurden. Die Kartei wurde durch die Abteilung XIX der MfS-Bezirksverwaltung Suhl angelegt, zuständig unter anderem für die Überwachung des Verkehrswesens. Sie besteht aus mehr als 8.500 einzelnen Karteikarten.
Einleitung
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Fernschreiben an die "Stellvertreter Operativ" der MfS-Bezirksverwaltungen zum Wasunger Karneval 1978
Fernschreiben an die "Stellvertreter Operativ" der MfS-Bezirksverwaltungen zum Wasunger Karneval 1978
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Reiseabsichten und "Quartiergeber"
In der gesamten DDR registrierte die Stasi minutiös Jugendliche, die nach Wasungen reisen wollten. Auch mögliche "Quartiergeber" gerieten schnell ins Visier der Geheimpolizei.
Reiseabsichten und "Quartiergeber"
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"Operative Information" der MfS-Kreisdienststelle in Oranienburg zum Wasunger Karneval
"Operative Information" der MfS-Kreisdienststelle in Oranienburg zum Wasunger Karneval
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Koordiniertes Vorgehen der "staatlichen Organe"
Die Stasi reagierte in Abstimmung mit der Volkspolizei sowie mit weiteren "staatlichen Organen" der DDR. Ziel war es, die "negativ-dekadenten" Jugendlichen von Wasungen fernzuhalten.
Koordiniertes Vorgehen der "staatlichen Organe"
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"Maßnahmeplan" gegen "politische Untergrundtätigkeit" rund um den Wasunger Karneval
"Maßnahmeplan" gegen "politische Untergrundtätigkeit" rund um den Wasunger Karneval
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Überwachung des Zugverkehrs
Die Abteilung XIX der Bezirksverwaltung Suhl war unter anderem zuständig für die Überwachung des Verkehrswesens. Sie erstellte Anfang 1989 einen Maßnahmeplan. Im Zentrum standen dabei die Aufgaben der Transportpolizei
Überwachung des Zugverkehrs
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"Maßnahmeplan" zur "Gewährung von Sicherheit und Ordnung" während des Wasunger Karnevals 1989
"Maßnahmeplan" zur "Gewährung von Sicherheit und Ordnung" während des Wasunger Karnevals 1989
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Grafische Darstellung zum "Sicherungseinsatz" 1989
Zum Wasunger Karnevals wurden spezielle, so genannte Zuführungs- und Kontrollpunkte an Zugstrecken und Anfahrtswegen in Richtung Wasungen eingerichtet. Das so errichtete Netz aus Kontrollen sollte "negativ-dekadente" Jugendliche aus dem Verkehr ziehen, die sich auf den Weg nach Wasungen gemacht hatte. Die Stasi hielt sich hierbei im Hintergrund und überließ die Zuführungen und Zurückweisungen der Transport- und Volkspolizei. Diese unterrichtete allerdings den Einsatzstab der Stasi rund um die Uhr über die Personalien und Aussagen der in den Zügen und auf den Straßen festgehaltenen Jugendlichen.
Grafische Darstellung zum "Sicherungseinsatz" 1989
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Zusammenwirken zwischen Volkspolizei, Transportpolizei und MfS beim Wasunger Karneval 1988
Zusammenwirken zwischen Volkspolizei, Transportpolizei und MfS beim Wasunger Karneval 1988
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"Zuführungen" und "Zurückweisungen" durch die Transportpolizei
Die Arbeitsteilung war klar geregelt: durch ihren Kleidungsstil verdächtige oder angetrunkene Jugendliche ohne Kontaktadresse in Wasungen wurden durch die Volkspolizei in Eigenregie festgesetzt und zurückgewiesen. Die Stasi forderte umgehend Informationen an, wenn "staatliche" Interessen betroffen schienen. Das konnte beispielsweise bereits der Fall sein, wenn ein Festgehaltener wütend ankündigte, nicht an den nächsten Wahlen teilzunehmen. Vor allem fürchteten die Stasi-Offiziere solche "Kunden", die am Festwochenende Bundesbürger treffen und womöglich gleich über die nur wenige Kilometer entfernte innerdeutsche Grenze flüchten wollten.
"Zuführungen" und "Zurückweisungen" durch die Transportpolizei
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Einschätzung der "Wirksamkeit der Zuführungspunkte" während des Wasunger Karnevals 1989
Einschätzung der "Wirksamkeit der Zuführungspunkte" während des Wasunger Karnevals 1989
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Zuführungen und Zurückweisungen rund um den Wasunger Karneval 1989
Zuführungen und Zurückweisungen rund um den Wasunger Karneval 1989
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Geheimpolizei im "Kunden-Karneval"
Mit ihren geheimpolizeilichen Methoden stieß die Stasi im Wasunger Karneval oft an Grenzen. Eine Anwerbung von IM unter den unangepassten Jugendlichen erwies sich als schwierig. Während des Karnevals gab es kaum eine Gelegenheit für ein Anwerbungsgespräch und die politische Überzeugung der "Kunden" bot auch selten Anknüpfungspunkte für eine Zusammenarbeit mit der Geheimpolizei.
Geheimpolizei im "Kunden-Karneval"
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Überwachungsfotos von "Kunden" auf dem Wasunger Karneval
Überwachungsfotos von "Kunden" auf dem Wasunger Karneval
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Überwachungsvideo von "Kunden" auf dem Wasunger Karneval
Überwachungsvideo von "Kunden" auf dem Wasunger Karneval
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Bericht eines Inoffiziellen Mitarbeiters
Der Wasunger Karneval war für die Stasi auch interessant, weil sich hier Anknüpfungspunkte für die Verfolgung oppositioneller Bewegungen boten – wenn auch oft zufällig. Ein IM des MfS berichtete während des Wasungen Karnevals im Jahr 1983 auch über die Initiative "Sozialer Friedensdienst". Deren Anhänger waren ins Visier der Stasi geraten, weil sie der vormilitärischen Erziehung kritisch gegenüber standen.
Bericht eines Inoffiziellen Mitarbeiters
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Bericht eines Inoffiziellen Mitarbeiters über die Initiative "Sozialer Friedensdienst"
Bericht eines Inoffiziellen Mitarbeiters über die Initiative "Sozialer Friedensdienst"
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Hausbesetzung
Während des Wasunger Karnevals 1988 besetzten Jugendliche aus Ostberlin und den DDR-Bezirken Rostock, Magdeburg, Halle und Dresden ein einsturzgefährdetes Haus. Als die Volkpolizei das Haus stürmte, kam es zu handgreiflicher Gegenwehr und einer regelrechten Straßenschlacht.
Nach der Hausbesetzung untersuchten MfS und Kriminalpolizei gemeinsam die Hausbesetzung. Ziel war es die Teilnehmer der Aktion ausfindig zu machen. Die Mitarbeiter der Stasi waren dabei nicht immer einverstanden mit den Methoden der Kriminalpolizisten.
Hausbesetzung
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Überwachungsfotos einer Hausbesetzung während des Wasunger Karnevals 1988
Überwachungsfotos einer Hausbesetzung während des Wasunger Karnevals 1988
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Überwachungsfoto des MfS einer Hausbesetzung während des Wasunger Karnevals 1988
Überwachungsfoto des MfS einer Hausbesetzung während des Wasunger Karnevals 1988
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Befragung eines Hausbesetzers nach dem Wasunger Karneval 1988
Befragung eines Hausbesetzers nach dem Wasunger Karneval 1988
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Misstrauen gegen die Volkspolizei
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Information zum Einsatz der Volkspolizei-Bereitschaft auf dem Wasunger Karneval 1988
Information zum Einsatz der Volkspolizei-Bereitschaft auf dem Wasunger Karneval 1988
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Geheime Berichte an die SED
Auch in den Bezirken war die Stasi "Schild und Schwert der Partei". Das MfS musste sein Vorgehen eng mit den Bezirksleitungen der SED abstimmen und berichtete regelmäßige über "operativ" bedeutsame Vorkommnisse. Der "Kunden-Karneval" war ein solches Vorkommnis. Entsprechend ließ sich die SED-Führung im Bezirk Suhl stets über den Verlauf des Wasunger Karnevals berichten.
Geheime Berichte an die SED
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Geheimer Bericht an die SED-Führung im Bezirk Suhl zum Wasunger Karneval 1978
Geheimer Bericht an die SED-Führung im Bezirk Suhl zum Wasunger Karneval 1978
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Geheimer Bericht an die SED-Führung im Bezirk Suhl zum Wasunger Karneval 1988
Geheimer Bericht an die SED-Führung im Bezirk Suhl zum Wasunger Karneval 1988