Signatur: BStU, MfS, AU, Nr. 192/56, Bd. 4, Bl. 294-295
Der SED-Funktionär Paul Merker wurde 1952 Opfer haltloser Beschuldigungen, die ihn zum Protagonisten einer gegen die kommunistische Herrschaft gerichteten internationalen Verschwörung stempelten. Dieses Konstrukt wies ausgeprägte antisemitische Tendenzen auf, was auch bei den Vernehmungen deutlich wurde. Sechs Wochen nach seiner Verhaftung 1952 wurde Merker explizit nach seinen "jüdischen Verbindungen" befragt.
Paul Merker war maßgeblich am Aufbau der SED-Herrschaft in Ostdeutschland beteiligt. Wie viele der Gründerväter der DDR war er schon in der Weimarer Zeit ein hochrangiger kommunistischer Politiker: Mitglied des Politbüros der KPD, Abgeordneter des Preußischen Landtages sowie Reichsleiter der sogenannten Revolutionären Gewerkschaftsopposition (RGO). Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten wirkte er ab 1936 zunächst in der Exil-Führung der KPD in Frankreich. 1942 floh er dann nach Mexiko, wo er als KPD-Politbüromitglied und Sekretär des Lateinamerikanischen Komitees der Bewegung "Freies Deutschland" die bestimmende Figur in der kommunistischen Emigration war. Nach Kriegsende wurde er 1946 ins Zentralsekretariat der SED berufen und blieb auch 1949 – nach dessen Umwandlung zum Politbüro – Mitglied im höchsten Parteigremium.
Am 22. August 1950, nicht einmal ein Jahr nach der Staatsgründung der DDR, wurde Merker zusammen mit anderen SED-Funktionären aus der Partei ausgeschlossen. Dieser Vorgang stand im Zusammenhang mit dem Budapester Schauprozess gegen den ungarischen Außenminister Lázló Rajk und andere hohe Funktionäre. Bei diesem Prozess wurde Noel Field, der ehemalige Leiter der Flüchtlingshilfsorganisation "Unitarian Service Committee" zur Schlüsselfigur einer imaginären Spionageorganisation stilisiert, die hochrangige Funktionäre einschloss. Das Verschwörungskonstrukt hatte eine ausgeprägt antisemitische Tendenz und diente der politischen Säuberung sowie der Schaffung von Sündenböcken, nicht nur in Ungarn. Auch Merker hatte im Exil Kontakt zu Field gehabt. Anders als andere "Belastete" wurde er aber zunächst nur aus der Partei ausgeschlossen und nicht verhaftet – wahrscheinlich weil der DDR-Staatspräsident Wilhelm Pieck seine Hand über ihn hielt. Zwei Jahre später aber, als es in Prag zu einem ähnlichen Schauprozess gegen kommunistische Spitzenfunktionäre gekommen war, nahm die Stasi am 30. November 1952 auch Merker fest.
Der Zeitpunkt, drei Tage nach dem Urteil im Prager Schauprozess gegen den Generalsekretär der tschechoslowakischen KP Rudolf Slánský und andere, in dem die konstruierte Verschwörung um Noel Field ebenfalls herangezogen wurde, war nicht zufällig. Sechs Wochen nach der Verhaftung dokumentiert ein Vernehmungsprotokoll die antisemitische Tendenz der Beschuldigungen auch im Fall Merker. Unter anderem wird der Häftling Paul Merker darin zu seinem Standpunkt zur "Rückgabe kapitalistischen Besitzes von Juden" befragt.
Abschrift
Berlin, den 16.01.1953
Beginn: 21.30
Ende: [Auslassung]
Vernehmungsprotokoll
des Häftlings
Merker, Paul, Friedrich,
geb. am 01.02.1894 in Oberlößnitz bei Dresden,
erlernter Beruf: Kellner,
ausgeübter: Schriftsteller,
wohnhaft: Luckenwalde, Grabenstr.28
Frage: Hatten Sie Verbindungen zu dem Geschäftsträger des Staates Israrel in der DDR ?
Antwort: Ich kenne diesen Gecchäftträger nicht.
Frage: Hatten Sie Verbindungen zu jüdischen Organisationen in der DDR ?
Antwort: Nein. Zu jüdischen Organisationen in der DDR hatte ich keine Verbindungen.
Frage: Gibt es jüdische Organisationen in der DDR ?
Antwort: Ich weiß nicht, ob es jüdische Organisationen in der DDR gibt.
Frage: Kennen Sie die jüdische Organisation "Jüdische Gemeinde" in der DDR ?
Antwort: Ich weiß, daß im sowjetischen Sektor Berlins die Organisation "Jüdische Gemeinde" bestand.
Frage: Hatten Sie Verbindungen zu dieser Organisation ?
Antwort: Nein. Ich hatte keine Verbindung zu dieser Organisation.
gez. Paul Merker
Eine selbständige Abteilung ist eine Organisationsstruktur in der MfS-Zentrale, die durch den Minister oder einen seiner Stellvertreter direkt angeleitet und durch militärische Einzelleiter geführt wurde. Die weiter untergliederten Abteilungen prägten Linien aus (z. B. Abt. XIV; Linienprinzip) oder blieben auf die Zentrale beschränkt (z. B. Abt. X). Die eng umrissenen Zuständigkeiten mit operativer Verantwortung und Federführung orientierten sich an geheimdienstlichen Praktiken (Telefonüberwachung) oder Arbeitsfeldern (Bewaffnung, chemischer Dienst).
Ein Untersuchungsvorgang war eine bei einem strafrechtlichen Ermittlungsverfahren des MfS und ggf. dem späteren Gerichtsverfahren entstandene Akte, die den Hergang des Strafverfahrens widerspiegelt und auch häufig Informationen zur Strafvollstreckung enthält.
Untersuchungsvorgänge zeigen die offizielle wie auch die inoffizielle Ebene des Verfahrens. Sie enthalten sowohl das strafprozessual legale Material (Haftbefehl, Vernehmungsprotokolle, Anklageschrift, Verhandlungsprotokoll, Urteil u. a.) als auch Dokumente geheimpolizeilichen Charakters, etwa zu konspirativen Ermittlungsmaßnahmen operativer Abteilungen oder Berichte von Zelleninformatoren.
Ein archivierter Untersuchungsvorgang kann bis zu sieben Bestandteile umfassen: Gerichtsakte, Beiakte zur Gerichtsakte, Handakte zur Gerichtsakte, Handakte zum Ermittlungsverfahren, Beiakte zur Handakte des Ermittlungsverfahrens, manchmal auch Vollstreckungsakten und ggf. die Akte des Revisions- oder Kassationsverfahrens.
Beginn einer freiheitsentziehenden Maßnahme, Ergreifung eines Beschuldigten oder Angeklagten aufgrund eines richterlichen Haftbefehls (§ 114 StPO/1949, § 142 StPO/1952, §§ 6 Abs. 3, 124 StPO/1968). Zu unterscheiden von der vorläufigen Festnahme und der Zuführung.
Signatur: BStU, MfS, AU, Nr. 192/56, Bd. 4, Bl. 294-295
Der SED-Funktionär Paul Merker wurde 1952 Opfer haltloser Beschuldigungen, die ihn zum Protagonisten einer gegen die kommunistische Herrschaft gerichteten internationalen Verschwörung stempelten. Dieses Konstrukt wies ausgeprägte antisemitische Tendenzen auf, was auch bei den Vernehmungen deutlich wurde. Sechs Wochen nach seiner Verhaftung 1952 wurde Merker explizit nach seinen "jüdischen Verbindungen" befragt.
Paul Merker war maßgeblich am Aufbau der SED-Herrschaft in Ostdeutschland beteiligt. Wie viele der Gründerväter der DDR war er schon in der Weimarer Zeit ein hochrangiger kommunistischer Politiker: Mitglied des Politbüros der KPD, Abgeordneter des Preußischen Landtages sowie Reichsleiter der sogenannten Revolutionären Gewerkschaftsopposition (RGO). Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten wirkte er ab 1936 zunächst in der Exil-Führung der KPD in Frankreich. 1942 floh er dann nach Mexiko, wo er als KPD-Politbüromitglied und Sekretär des Lateinamerikanischen Komitees der Bewegung "Freies Deutschland" die bestimmende Figur in der kommunistischen Emigration war. Nach Kriegsende wurde er 1946 ins Zentralsekretariat der SED berufen und blieb auch 1949 – nach dessen Umwandlung zum Politbüro – Mitglied im höchsten Parteigremium.
Am 22. August 1950, nicht einmal ein Jahr nach der Staatsgründung der DDR, wurde Merker zusammen mit anderen SED-Funktionären aus der Partei ausgeschlossen. Dieser Vorgang stand im Zusammenhang mit dem Budapester Schauprozess gegen den ungarischen Außenminister Lázló Rajk und andere hohe Funktionäre. Bei diesem Prozess wurde Noel Field, der ehemalige Leiter der Flüchtlingshilfsorganisation "Unitarian Service Committee" zur Schlüsselfigur einer imaginären Spionageorganisation stilisiert, die hochrangige Funktionäre einschloss. Das Verschwörungskonstrukt hatte eine ausgeprägt antisemitische Tendenz und diente der politischen Säuberung sowie der Schaffung von Sündenböcken, nicht nur in Ungarn. Auch Merker hatte im Exil Kontakt zu Field gehabt. Anders als andere "Belastete" wurde er aber zunächst nur aus der Partei ausgeschlossen und nicht verhaftet – wahrscheinlich weil der DDR-Staatspräsident Wilhelm Pieck seine Hand über ihn hielt. Zwei Jahre später aber, als es in Prag zu einem ähnlichen Schauprozess gegen kommunistische Spitzenfunktionäre gekommen war, nahm die Stasi am 30. November 1952 auch Merker fest.
Der Zeitpunkt, drei Tage nach dem Urteil im Prager Schauprozess gegen den Generalsekretär der tschechoslowakischen KP Rudolf Slánský und andere, in dem die konstruierte Verschwörung um Noel Field ebenfalls herangezogen wurde, war nicht zufällig. Sechs Wochen nach der Verhaftung dokumentiert ein Vernehmungsprotokoll die antisemitische Tendenz der Beschuldigungen auch im Fall Merker. Unter anderem wird der Häftling Paul Merker darin zu seinem Standpunkt zur "Rückgabe kapitalistischen Besitzes von Juden" befragt.
Frage: Kennen Sie den Vorsitzenden der "Jüdischen Gemeinde" ?
Antwort: Nein. Ich kenne den Juden Meier, Julius der eine aktive Arbeit für die Juden in Berlin leistete.
Frage: Standen Sie in Verbindung mit Meier, Julius ?
Antwort: ja. Ich stand 1946 und 1947 mit Meier in Verbindung.
Frage: welchen Charakter hatte diese Verbindung ?
Antwort: Im Frühjahr 1947 bildete ich eine Kommission zur Vorbereitung eines Gesetzes zur Entschädigung der Opfer des Faschismus, die den Teil des Gesetzes,der die Juden betraf, bearbeiten sollte. Dieser Kommission gehörte Meier ebenfalls an.
Frage: wer hat Sie beauftragt, eine solche Kommission zu bilden ?
Antwort: Das ZS der SED, dem ich damals angehörte, faßte einen solchen Beschluß.
Frage: Wer machten den Vorschlag dazu ?
Antwort: Ich selbst.
Frage: Welche Stellung nahmen Sie zu den jüdischen Angelegenheiten ?
Antwort: Ich nahm die Stellung ein, daß den Juden, denen Wohnungen, Einfamilienhäuser oder Läden, Werkstätten enteignet wurden, dieses ehemalige Eigentum zurückgegeben wird.
Frage: Forderten Sie die Rückgabe kapitalistischen Besitzes von Juden ?
Antwort: Nein.
Ich habe das Vernehmungsprotokoll selbst gelesen. Meine Aussagen entsprechen der Wahrheit und sind richtig wiedergegeben.
gez. Paul Merker
vernommen und geschlossen:
gez. Richter,
Oberstleutnant
Eine selbständige Abteilung ist eine Organisationsstruktur in der MfS-Zentrale, die durch den Minister oder einen seiner Stellvertreter direkt angeleitet und durch militärische Einzelleiter geführt wurde. Die weiter untergliederten Abteilungen prägten Linien aus (z. B. Abt. XIV; Linienprinzip) oder blieben auf die Zentrale beschränkt (z. B. Abt. X). Die eng umrissenen Zuständigkeiten mit operativer Verantwortung und Federführung orientierten sich an geheimdienstlichen Praktiken (Telefonüberwachung) oder Arbeitsfeldern (Bewaffnung, chemischer Dienst).
Ein Untersuchungsvorgang war eine bei einem strafrechtlichen Ermittlungsverfahren des MfS und ggf. dem späteren Gerichtsverfahren entstandene Akte, die den Hergang des Strafverfahrens widerspiegelt und auch häufig Informationen zur Strafvollstreckung enthält.
Untersuchungsvorgänge zeigen die offizielle wie auch die inoffizielle Ebene des Verfahrens. Sie enthalten sowohl das strafprozessual legale Material (Haftbefehl, Vernehmungsprotokolle, Anklageschrift, Verhandlungsprotokoll, Urteil u. a.) als auch Dokumente geheimpolizeilichen Charakters, etwa zu konspirativen Ermittlungsmaßnahmen operativer Abteilungen oder Berichte von Zelleninformatoren.
Ein archivierter Untersuchungsvorgang kann bis zu sieben Bestandteile umfassen: Gerichtsakte, Beiakte zur Gerichtsakte, Handakte zur Gerichtsakte, Handakte zum Ermittlungsverfahren, Beiakte zur Handakte des Ermittlungsverfahrens, manchmal auch Vollstreckungsakten und ggf. die Akte des Revisions- oder Kassationsverfahrens.
Beginn einer freiheitsentziehenden Maßnahme, Ergreifung eines Beschuldigten oder Angeklagten aufgrund eines richterlichen Haftbefehls (§ 114 StPO/1949, § 142 StPO/1952, §§ 6 Abs. 3, 124 StPO/1968). Zu unterscheiden von der vorläufigen Festnahme und der Zuführung.