Signatur: BArch, MfS, HA IX, Nr. 22821, Bl. 144
Mitte der 1960er Jahre begann die Stasi, sich eingehend mit den nationalsozialistischen Verbrechen um den KZ-Lager-Komplex Mittelbau-Dora auseinanderzusetzen und umfassende Archivauswertungen und Ermittlungen vorzunehmen. Hintergrund war das sich hierzu anbahnende zweite große Strafverfahren auf westdeutschem Boden, der Essener Dora-Prozess, welcher im November 1967 vor dem Essener Landgericht begann. Seit Anfang der 1960er Jahre liefen entsprechende Vorermittlungen in der Bundesrepublik, die vielfach Rechtshilfeersuchen an verschiedene Stellen in der DDR einschlossen und so die Stasi auf den Plan riefen.
Am zweiten großen Prozess auf westdeutschem Boden zu Gewalt- und Endphaseverbrechen im KZ Mittelbau-Dora gegen die SS-Leute Helmut Bischoff, Erwin Busta und Ernst Sander nahm die DDR als Nebenklagevertreter teil. Sie entsandte hierzu mit Rechtsanwalt Friedrich Karl Kaul einen Anwalt, den die Nazis selbst aufgrund seiner jüdischen Abstammung verfolgt und inhaftiert hatten. Kaul gehörte zu den wenigen ostdeutschen Anwälten, die auch an West-Berliner und westdeutschen Gerichten anwaltlich tätig werden konnten. Er war daher bereits zuvor u. a. als Hauptprozessbevollmächtigter im KPD-Verbotsverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht sowie als Nebenklagevertreter im ersten Frankfurter Auschwitz-Prozess (1963-1965) und im ebenfalls 1967 beginnenden zweiten Frankfurter Euthanasie-Prozess (1967-1968) aufgetreten.
Die Wahrnehmung dieser Mandate war durch eine enge Kooperation mit dem MfS sowie eine propagandistische Nutzung der jeweiligen Verfahren geprägt: Die DDR sollte dabei als Vertreter der Opfer und das „bessere“ Deutschland erscheinen, die Bundesrepublik als das Land, in dem NS-Täter wieder in Amt und Würden gelangt waren und für begangene Verbrechen nicht oder nur milde zur Rechenschaft gezogen wurden. Die gleiche Intention wurde auch mit der Teilnahme am Verfahren in Essen verfolgt.
In seiner Rolle vor dem Essener Gericht wurde Kaul durch eine eigens hierfür ins Leben gerufene „AG Dora“ unterstützt. Diese setzte sich aus Vertretern der DDR-Generalstaatsanwaltschaft, des MfS und MdI, einer studentischen Forschungsgruppe der Humboldt-Universität um den Historiker Prof. Dr. Walter Bartel sowie Mitarbeitern Kauls zusammen. Eine direkte Anbindung an das Sekretariat des ZK der SED war ebenso gewährleistet.
Die Einrichtung der Arbeitsgruppe hatte das ZK der SED im Februar 1967 beschlossen. Stasi-Minister Mielke zeichnete für seinen Verantwortungsbereich die entsprechende ZK-Vorlage gegen, verfügte für das MfS die Zuständigkeit der HA IX und wies an, alle Linien sowie die Bruderorgane anzusprechen. Die Abteilung 11 der HA IX wurde umgehend tätig und wandte sich an die MfS-Diensteinheiten mit der Aufforderung, dringend Ermittlungsergebnisse und Hinweise auf Zeugen zum KZ Mittelbau-Dora zu übersenden.
Bei diesen Ermittlungen und Recherchen zum Dora-Prozess konnte die Stasi auf Erfahrungen zurückgreifen, die sie aus ihrerseits bereits zuvor durchgeführten „Aktionen“ mit gleicher Zielrichtung – der Diskreditierung der Bonner Republik – gesammelt hatte.
So lief u. a. im März 1965 eine durch Erich Mielke veranlasste Aktion zu NS-Verbrechen an. Mit Schreiben vom 02.03.1965 hatte er die Leiter der Stasi-Bezirksverwaltungen sowie die Leiter aller operativen Hauptabteilungen dazu aufgefordert, Unterlagen mit Informationen zu „Nazi- und Kriegsverbrechen“ zu erfassen und auszuwerten. Bis zum 30.03.1965 sollten diese in Form von Sachstandsberichten und Maßnahmeplänen an sein Sekretariat übersendet werden. Als Aktionsdecknamen wählte Mielke das unvermeidlich zynisch wirkende Kennwort „Konzentration“.
Die Leiter der BV gaben die Weisung an die KD und Abteilungen ihres Zuständigkeitsbereiches weiter. Zwei wesentliche Punkte sollten in der Bearbeitung beachtet werden: Mit Blick auf die bundesrepublikanische Verjährungsdebatte über NS-Verbrechen sollte Belastendes zu dort lebenden Personen – vor allem solcher, die öffentliche Ämter bekleideten – an Mielke übermittelt werden. Im Fokus stand dabei insbesondere Bundespräsident Heinrich Lübke und dessen Tätigkeit für die „Baugruppe Schlempp“ in der NS-Zeit. Gleichzeitig wurde eine Weitergabe von Informationen über DDR-Bürger angewiesen, zu denen Hinweise auf eine Mitwirkung an Nazi-Verbrechen vorlagen. Letzteres erscheint insofern bemerkenswert, als dass damit der eigene Anspruch, die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wurzeln des Faschismus in der DDR „ausgerottet“ zu haben, zumindest auf personeller Ebene implizit bröckelte.
Letztlich war die angewiesene Informationsweitergabe über DDR-Bürger in diesem Zusammenhang schlicht eine realitätsnahe Vorsichtsmaßnahme. Sie diente dazu, unvorhergesehene Enthüllungen während eigener Interventionen in die politischen Debatten der BRD zu vermeiden und somit dem Vorhalt vergangenheitspolitischer Versäumnisse in der DDR vorzubeugen. Dem Mythos der Ausrottung des Faschismus in der DDR inklusive der Annahme, dass es somit auch keine Täter mehr im eigenen Staate gäbe, saß man zumindest intern beim MfS nicht auf.
Das vorliegende Dokument ist das Original-Schreiben Erich Mielkes zur Aktion „Konzentration“ vom 2. März 1965. Es ist in den Unterlagen seines Büros mehrfach überliefert und findet sich zudem vielfach in den adressierten nachgeordneten Diensteinheiten wieder.
Ministerrat der Deutschen Demokratischen Republik
Ministerium für Staatssicherheit
Der Minister
Berlin, den 02.03.1965
Tgb. Nr. BdL 316/65
Alle Leiter der BV des MfS
alle Leiter der op. HA und selbständigen Abteilungen des MfS
Persönlich
Im Hinblick auf den vom Bonner Staatsapparat geplanten Verjährungsbeschluß über Nazi- und Kriegsverbrechen ist es notwendig, alle in unserem Organ vorhandenen Vorgänge sowie Hinweise über Nazi- und Kriegsverbrechen zentral zu erfassen, deren Bearbeitung zu beschleunigen und eine zielgerichtete Auswertung vorzunehmen.
Es sind deshalb über alle in Ihrem Dienstbereich vorhandenen Vorgänge und Hinweise
1. über westdeutsche Bürger, die an Nazi- und Kriegsverbrechen beteiligt waren, vor allem über solche Personen, die im öffentlichen Leben des Bonner Staates eine Rolle spielen,
2. in denen Bürger der DDR belastet werden, an Nazi- und Kriegsverbrechen beteiligt gewesen zu sein,
bis zum 30.03.1965 Sachstandsberichte und Maßnahmepläne unter dem Kennwort "Konzentration" an mein Sekretariat zu übersenden.
[Unterschrift: Mielke]
Generaloberst
Hauptabteilung IX (Untersuchungsorgan)
Die Hauptabteilung IX war die für strafrechtliche Ermittlungen und Strafverfolgung zuständige Diensteinheit. Sie hatte wie die nachgeordneten Abteilung IX in den Bezirksverwaltung (BV) (Linie IX) die Befugnisse eines Untersuchungsorgans, d. h. einer kriminalpolizeilichen Ermittlungsbehörde. Ursprünglich vor allem für die sog. Staatsverbrechen zuständig, befasste sie sich in der Honecker-Ära überwiegend mit Straftaten gegen die staatliche Ordnung, vor allem mit Fällen "ungesetzlichen Grenzübertritts" und Delikten, die mit Ausreisebegehren zu tun hatten. Nach StPO der DDR standen auch die Ermittlungsverfahren der Linie IX unter Aufsicht der Staatsanwaltschaft, in der Praxis arbeitete das MfS hier jedoch weitgehend eigenständig.
Die Hauptabteilung IX und die Abteilungen IX der BV waren berechtigt, Ermittlungsverfahren einzuleiten sowie Festnahmen, Vernehmungen, Durchsuchungen, Beschlagnahmen und andere strafprozessuale Handlungen vorzunehmen sowie verpflichtet, diese Verfahren nach einer bestimmten Frist - meist durch die Übergabe an die Staatsanwaltschaft zur Anklageerhebung - zum Abschluss zu bringen (Untersuchungsvorgang). Daneben führte sie Vorermittlungen zur Feststellung von Ursachen und Verantwortlichen bei Großhavarien (industriellen Störfällen), Flugblättern widerständigen Inhalts, öffentlichen Protesten u. ä. (Vorkommnisuntersuchung, Sachverhaltsprüfung).
Die Hauptabteilung IX gehörte zeit ihres Bestehens zum Anleitungsbereich Mielkes, in den ersten Jahren in seiner Funktion als Staatssekretär und 1. stellv. Minister, ab 1957 als Minister. Ihre Leiter waren Alfred Karl Scholz (1950-1956), Kurt Richter (1956-1964), Walter Heinitz (1964-1973) und Rolf Fister (1973-1989).
1953 bestand die Hauptabteilung IX aus drei Abteilungen, die für Spionagefälle, Fälle politischer "Untergrundtätigkeit" und die Anleitung der Abt. IX der BV zuständig waren. Durch Ausgliederungen entstanden weitere Abteilungen, so u. a. für Wirtschaftsdelikte, Militärstraftaten, Delikte von MfS-Angehörigen und Fluchtfälle. Ende 1988 bestand die Hauptabteilung IX aus zehn Untersuchungsabteilungen sowie der Auswertungs- und Kontrollgruppe (AKG) und der AGL (Arbeitsgruppe des Ministers (AGM)) mit insgesamt 489 Mitarbeitern. Auf der Linie IX arbeiteten 1.225 hauptamtliche Mitarbeiter.
Die Linie IX wirkte eng mit den Abteilung XIV (Haft) und der Linie VIII (Beobachtung, Ermittlung), die für die Durchführung der Festnahmen zuständig waren, zusammen. Bei der juristischen Beurteilung von Operativen Vorgängen (OV) wurde die Hauptabteilung IX von den geheimdienstlich arbeitenden Diensteinheiten häufig einbezogen.
Im Zusammenhang mit der Verwaltungsreform der DDR vom Sommer 1952 wurden die fünf Länderverwaltungen für Staatssicherheit (LVfS) in 14 Bezirksverwaltungen umgebildet. Daneben bestanden die Verwaltung für Staatssicherheit Groß-Berlin und die Objektverwaltung "W" (Wismut) mit den Befugnissen einer BV. Letztere wurde 1982 als zusätzlicher Stellvertreterbereich "W" in die Struktur der BV Karl-Marx-Stadt eingegliedert.
Der Apparat der Zentrale des MfS Berlin und der der BV waren analog strukturiert und nach dem Linienprinzip organisiert. So waren die Hauptabteilung II in der Zentrale bzw. die Abteilungen II der BV für die Schwerpunkte der Spionageabwehr zuständig usw. Auf der Linie der Hauptverwaltung A waren die Abteilung XV der BV aktiv. Einige Zuständigkeiten behielt sich die Zentrale vor: so die Militärabwehr (Hauptabteilung I) und die internationalen Verbindungen (Abteilung X) oder die Arbeit des Büros für Besuchs- und Reiseangelegenheiten in Westberlin (Abteilung XVII). Für einige Aufgabenstellungen wurde die Bildung bezirklicher Struktureinheiten für unnötig erachtet. So gab es in den 60er und 70er Jahren für die Abteilung XXI und das Büro der Leitung II Referenten für Koordinierung (RfK) bzw. Offiziere BdL II. Für spezifische Aufgaben gab es territorial bedingte Diensteinheiten bei einigen BV, z. B. in Leipzig ein selbständiges Referat (sR) Messe, in Rostock die Abt. Hafen.
An der Spitze der BV standen der Leiter (Chef) und zwei Stellv. Operativ. Der Stellv. für Aufklärung fungierte zugleich als Leiter der Abt. XV. Die Schaffung des Stellvertreterbereichs Operative Technik im MfS Berlin im Jahre 1986 führte in den BV zur Bildung von Stellv. für Operative Technik/Sicherstellung.
1956 entstanden durch Umbenennung der Abteilung Allgemeines. Aufgaben des Büros der Leitung waren unter anderem
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Vorlage der Westabteilung des Zentralkomitees (ZK) der SED an das Sekretariat des ZK der SED zur Nebenklagevertretung im Essener Dora-Prozess und Einrichtung einer Arbeitsgruppe zur Vorbereitung. Dokument, 2 Seiten
Schreiben der Abteilung VII der BV Magdeburg vom 1. März 1967 zum „KZ ‚Dora‘ in Nordhausen“ Dokument, 1 Seite
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