Signatur: BStU, MfS, HA XX, Nr. 128, Bl. 165
Am 4. März 1955 nahm die Stasi die Chefsekretärin des DDR-Ministerpräsidenten, Elli Barczatis, und ihren Geliebten, Karl Laurenz, wegen Spionageverdachts fest. Einen Tag nach der Verhaftung stellte der persönliche Referent Otto Grotewohls einen Amtshilfeantrag an die Stasi. Daraus geht hervor, dass der Ministerpräsident nichts von der Festnahme seiner Sekretärin erfahren hatte.
Elli Barczatis wurde Anfang der 50er Jahre vermutlich ohne ihr Wissen zur Informantin für die Organisation Gehlen, die Vorläuferin des Bundesnachrichtendienstes (BND). Der westdeutsche Geheimdienst nutzte sie als Quelle in Ost-Berlin, ohne sie offiziell in diese Tätigkeit einzuweihen. Von April 1950 bis Januar 1953 war Barczatis die Chefsekretärin des Ministerpräsidenten der DDR, Otto Grotewohl. Kurz zuvor ging sie eine Liebesbeziehung mit dem Journalisten und Übersetzer Karl Laurenz ein, der nach seinem Bruch mit der SED und den daraus resultierenden beruflichen Schwierigkeiten 1952 begonnen hatte, für die Organisation Gehlen zu spionieren. Unter dem Vorwand, Material für seine journalistische Arbeit zu sammeln, ließ er sich von Barczatis mit internen Informationen aus dem Büro des Ministerpräsidenten versorgen.
Anfang 1951 nahm das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) Ermittlungen auf, nachdem eine ehemalige Kollegin von Barczatis und Laurenz der Stasi von einem Treffen der beiden berichtet hatte. In den folgenden Monaten erhärtete sich der Verdacht auf eine Spionagetätigkeit, sodass die Stasi am 26. Juni 1951 den Gruppenvorgang "Sylvester" eröffnete. Ab diesem Zeitpunkt unternahm sie in enger Zusammenarbeit mit der sowjetischen Geheimpolizei weitere Schritte gegen Barczatis und Laurenz. Dazu gehörten Observierungen, Telefonüberwachungen und Briefkontrollen. Im Januar 1953 wurde Barczatis zu einem Parteilehrgang nach Potsdam delegiert. Danach erhielt sie zwar wieder eine Anstellung Ministerpräsidentenamt, jedoch nicht mehr als persönliche Sekretärin Grotewohls, sondern in der Eingabenbearbeitung. Das MfS veranlasste diese Versetzung, da es zu diesem Zeitpunkt bereits von der Weitergabe interner Informationen aus dem Büro des Ministerpräsidenten an die Organisation Gehlen durch Barczatis bzw. Laurenz wusste. Am 4. März 1955 wurden die beiden verhaftet. Die Festnahme fiel in die Endphase der "Konzentrierten Schläge", die die Stasi im Nachgang des Aufstandes vom 17. Juni 1953 durchgeführt hatte. Diese Aktion symbolisierte einen Strategiewechsel des MfS bei der Verfolgung tatsächlicher oder vermeintlicher Agenten westlicher Geheimdienste, insbesondere der Organisation Gehlen.
Am Tag nach Barczatis’ Festnahme wandte sich der persönliche Referent Otto Grotewohls, Ludwig Eisermann, in einem Schreiben an Stasi-Chef Ernst Wollweber, nachdem Barczatis nicht zum Dienst erschienen war. Wie daraus hervorgeht, war der Ministerpräsident nicht über die Verhaftung seiner ehemaligen Chefsekretärin unterrichtet worden. Eisermann fordert die Staatssicherheit auf, sich über Barczatis’ Verbleib zu informieren und Grotewohl über das Ergebnis der Untersuchung zu unterrichten.
[handschriftliche Ergänzung, doppelt unterstrichen: Gen. Kienlog]
[handschriftliche Ergänzung: VL 213/55]
Regierung der Deutschen Demokratischen Republik
Sekretariat des Ministerpräsidenten
Berlin W1, den 05.03.1955
Leipziger Platz, Tor 16
Tel. 232
App. 3687
Gesch.-Z. ei./me.
(in der Antwort anzugeben)
[handschriftliche Ergänzung: Gen. Oberst Beater
keine Bearbeitung
05.03.55 [Paraphe unleserlich]]
An das
Staatssekretariat für Staatssicherheit
Genossen Staatssekretär Wollweber
Berlin-Lichtenberg
Normannenstraße
Sehr geehrter Genosse Staatssekretär!
Die Mitarbeiterin im Sekretariat des Ministerpräsidenten, Elli Barczatis, geb. am 07.01.1912, wohnhaft in Berlin-Köpenick, [anonymisiert], ist heute nicht zum Dienst erschienen.
Aus einem Anruf ihrer Schwester geht hervor, daß sie in der Nacht vom Freitag, dem 04.03. zum Sonnabend, dem 05.03.1955 nicht zu Hause war. Ihre Schwester, mit der Elli Barczatis zusammenwohnt, hat keine Kenntnis davon, wo sie sich zur Zeit befindet.
Elli Barczatis ist die frühere Sekretärin des Genossen Ministerpräsidenten, die später als Sachbearbeiterin im Sekretariat eingesetzt wurde.
Soweit zu übersehen ist, fehlen an ihrem Arbeitsplatz keine Arbeitsunterlagen.
Wir bitten, eine sofortige Untersuchung nach ihrem Verbleib durchzuführen und den Genossen Ministerpräsidenten über das Ergebnis zu benachrichtigen.
Mit sozialistischem Gruß
[Unterschrift: Eisermann]
(Eisermann)
Persönlicher Referent des Ministerpräsidenten
Vorgangsart von 1950 bis 1960, erstmals definiert in den Erfassungsrichtlinien vom 20.9.1950; Operativer Vorgang gegen mehrere Personen, denen eine "feindliche Tätigkeit" unterstellt wurde. Die Eröffnung eines Gruppenvorgangs hatte auf der Grundlage von "überprüftem Material", das z. B. durch einen Überprüfungsvorgang gewonnen wurde, zu erfolgen. Er war zentral in der Abteilung XII zu registrieren. Die betroffenen Personen und ihre Verbindungen waren in der zentralen Personenkartei (F 16), involvierte Organisationen in der zentralen Feindobjektkartei (F 17) zu erfassen.
Am 23.7.1953 wurde durch formellen Regierungsbeschluss das Ministerium für Staatssicherheit zu einem Staatssekretariat herabgestuft und in das Ministerium des Innern (MdI) eingegliedert. Diese Maßnahme erschien als Reaktion der SED auf dessen (vermeintliches) Versagen im Zusammenhang mit dem Juniaufstand. Denn sie ging mit der Absetzung Wilhelm Zaissers als Minister, der Einsetzung Ernst Wollwebers als Staatssekretär und einer harten Abrechnung Walter Ulbrichts mit der Arbeit der Staatssicherheit auf dem 15. ZK-Plenum einher.
Die naheliegende zeitgenössische und auch heute noch vorherrschende Deutung ist nicht vollkommen zutreffend. Die Veränderung entsprach der damaligen Zuordnung der sowjetischen Staatssicherheit, die seit dem 15.3.1953 ebenfalls Teil des Innenministeriums war, und auch der der meisten anderen "Bruderorgane".
Sie war zudem schon am 30.6.1953, also noch bevor der Machtkampf in der SED Führung sich zuungunsten Zaissers entwickelt hatte, auf Betreiben von Lawrentij Berija vom SED-Politbüro beschlossen worden. Dabei ging es nicht um eine Abstrafung der DDR-Staatssicherheit, sondern um ein (kosmetisches) Entspannungssignal an den Westen. Wahrscheinlich war zu diesem Zeitpunkt Zaisser noch als Chef des erweiterten Innenministeriums vorgesehen.
Im unmittelbaren Kontext seiner Verkündung wurde der Beschluss als demonstrative Degradierung der Staatssicherheit aufgefasst, zumal Wollweber anders als sein Vorgänger nicht in das Politbüro kooptiert wurde. Das Staatssekretariat war dem Innenminister Willi Stoph gleichwohl nur formal unterstellt. Es erhielt ein eigenes Kollegium und nicht Stoph, sondern Wollweber vertrat die Staatssicherheitsangelegenheiten gegenüber der SED-Führung und in der Sicherheitskommission des ZK.
Die Staatssicherheit betreffende dienstliche Weisungen gingen ausschließlich vom Staatssekretär und seinen Stellvertretern aus, nicht vom Innenminister. Am 24.11.1955 wurde das Staatssekretariat durch Ministerratsbeschluss wieder in den Rang eines Ministeriums erhoben.
Beginn einer freiheitsentziehenden Maßnahme, Ergreifung eines Beschuldigten oder Angeklagten aufgrund eines richterlichen Haftbefehls (§ 114 StPO/1949, § 142 StPO/1952, §§ 6 Abs. 3, 124 StPO/1968). Zu unterscheiden von der vorläufigen Festnahme und der Zuführung.
Vermerk zur Wiedereinstellung von Elli Barczatis beim Ministerpräsidenten der DDR Dokument, 2 Seiten
Brief von Hertha Barczatis an Otto Grotewohl über ihre Schwester Elli Dokument, 4 Seiten
Vermerk über die Geständnisverweigerung von Karl Laurenz Dokument, 1 Seite
Eröffnung des Geheimprozesses gegen Elli Barczatis und Karl Laurenz wegen Spionage Audio, 4 Minuten, 7 Sekunden