Signatur: BStU, MfS, BV Dresden, KD Dresden-Stadt, Nr. 92804, Bd. 2, Bl. 55-56
Im Vorfeld der Kommunalwahlen im Mai 1989 brachten DDR-Bürgerinnen und -Bürger verstärkt ihren Unmut über die SED-Regierung zum Ausdruck. Die Staatssicherheit dokumentierte die eingehenden "Hetzlosungen" und "Hetzzettel" und ermittelte gegen ihre jeweiligen Urheber. Auch ein anonymer Brief, der die politischen und wirtschaftlichen Missstände in der DDR anprangerte, fiel der Geheimpolizei in Dresden in die Hände.
Am 7. Mai 1989 waren die Bürgerinnen und Bürger der DDR aufgerufen, anlässlich der Kommunalwahlen den Kandidaten der Nationalen Front ihre Stimme zu geben. Wie immer stand nur diese eine Liste zur Auswahl. Mit "Ja" zu stimmen, bedeutete, den Stimmzettel zu falten und in die Wahlurne einzuwerfen. Für ein "Nein" musste jeder einzelne Kandidat in den obligatorisch aufgebauten Wahlkabinen sauber waagerecht durchgestrichen werden. Andere Kenntlichmachungen führten zu einer ungültigen Stimmenabgabe. Im Volksmund wurden die Wahlen daher auch als "Zettelfalten" bezeichnet.
Schon bei den vorangegangenen Volkskammerwahlen waren über westliche Medien Vorwürfe der Wahlfälschung öffentlich geworden. Anfang 1989 riefen verschiedene Gruppen von Oppositionellen zum Wahlboykott auf, forderten freie Wahlen und die Beobachtung der Stimmenauszählung. Letztere war nach § 37 (1) des DDR-Wahlgesetzes öffentlich und auch nach der Verfassung der DDR nicht verboten.
Trotzdem war angesichts der Erfahrung früherer Repressalien, auch durch die Stasi, die Teilnahme daran ein mutiger Schritt. Doch auch diese Aussichten konnten zahlreiche Bürgerinnen und Bürger nicht davon abhalten, extra spät zur Wahl zu gehen oder gegen 18:00 Uhr erneut die Wahllokale aufzusuchen, um die Auszählung zu beobachten. Landesweit geschahen die Stimmenauszählungen in etwa 1.000 Wahllokalen unter ihrer Teilnahme.
Die Auswertungen der Wahlbeobachter belegten, dass Fälschungen stattfanden: Das durch den Vorsitzenden der Wahlkommission, Egon Krenz, bekanntgegebene Ergebnis – eine Wahlbeteiligung von 99 Prozent und ein Anteil von Gegenstimmen von ca. einem Prozent – deckte sich in keiner Weise mit dem Ergebnis der Stimmenauszählungen durch die Beobachter.
In der gesamten DDR war es im Vorfeld der Wahlen zu verschiedenen "Vorkommnissen" gekommen, wobei die Stasi regionale Schwerpunkte ausmachte. Zu den meisten Vorfällen kam es in der Hauptstadt Berlin, den Bezirken Karl-Marx-Stadt, Dresden, Leipzig, Halle und Magdeburg. Die Art und Weise der "Vorkommnisse" glich sich dabei: Es gingen bei den Wahlkommissionen und Amtsträgern zum Teil anonyme Schreiben und Anrufe ein, zahlreiche "Hetzlosungen" und "Hetzzettel" wurden verbreitet.
Wenige Tage vor den Kommunalwahlen wurde bei einer Briefkastenleerung in Dresden der vorliegende anonyme Brief gefunden und an die Staatssicherheit weitergeleitet. Der Text richtet sich gegen die SED-Regierung und wirft ihr Wahlfälschung, verfehlte Wohnungspolitik und Misswirtschaft vor.
[handschriftliche Ergänzung: [unleserlich]/2 E6]
[Paraphe] [handschriftliche Ergänzung: 03.05.89]
Deutsche Post
Hauptpostamt Dresden 28
Postsonderfragen
[Posthorn-Logo]
Deutsche Post, Hauptpostamt Dresden 28, Postfach, Dresden, 8028
[handschriftliche Ergänzung: erl.] [handschriftlich abgehakt]
Ihre Zeichen; Ihre Nachricht vom; Fernsprecher 8[durchgestrichen: 4629; Unsere Zeichen; Datum
[Auslassung]; [Auslassung]; 43 6064; [Auslassung]; 03.Mai 1989
Fund aus Kastenleerung
Am 02.05.89 18.30 Uhr wurde der Briefkasten auf dem "Dresdner Markt" ordnungsgemäß geleert. Bei der darin befindlichen Post befand sich auch die Anlage.
Sie wurde am 03.05.89 gegen 8.15 Uhr von der Mitarbeiterin der Telegramm- und Eilzustellung des PA 1 ^x) an PS übergeben.
Die Kastenleerung auf dem Markt erfolgt täglich einmal 18.30 Uhr durch die oben genannte Dienststelle. Die vorherige Leerung erfolgte also am 01.05.89 zur gleichen Zeit.
x)Kollegin Kurz
Der Fund wird hiermit den staatlichen Organen zur weiteren Bearbeitung übergeben.
[handschriftliche Ergänzung: [unterstrichen: 1 Anlage]]
[Unterschrift]
Bienert
Oberinspektor
Fernsprechauskunft: 8 16 20
Diensträume: Dresden-West, Wernerstraße 13
Bankkonto Staatsbank der DDR
Kreisfiliale Dresden 5141-17-36
Postscheckkonto Dresden 7299-68-25
Signatur: BStU, MfS, BV Dresden, KD Dresden-Stadt, Nr. 92804, Bd. 2, Bl. 55-56
Im Vorfeld der Kommunalwahlen im Mai 1989 brachten DDR-Bürgerinnen und -Bürger verstärkt ihren Unmut über die SED-Regierung zum Ausdruck. Die Staatssicherheit dokumentierte die eingehenden "Hetzlosungen" und "Hetzzettel" und ermittelte gegen ihre jeweiligen Urheber. Auch ein anonymer Brief, der die politischen und wirtschaftlichen Missstände in der DDR anprangerte, fiel der Geheimpolizei in Dresden in die Hände.
Am 7. Mai 1989 waren die Bürgerinnen und Bürger der DDR aufgerufen, anlässlich der Kommunalwahlen den Kandidaten der Nationalen Front ihre Stimme zu geben. Wie immer stand nur diese eine Liste zur Auswahl. Mit "Ja" zu stimmen, bedeutete, den Stimmzettel zu falten und in die Wahlurne einzuwerfen. Für ein "Nein" musste jeder einzelne Kandidat in den obligatorisch aufgebauten Wahlkabinen sauber waagerecht durchgestrichen werden. Andere Kenntlichmachungen führten zu einer ungültigen Stimmenabgabe. Im Volksmund wurden die Wahlen daher auch als "Zettelfalten" bezeichnet.
Schon bei den vorangegangenen Volkskammerwahlen waren über westliche Medien Vorwürfe der Wahlfälschung öffentlich geworden. Anfang 1989 riefen verschiedene Gruppen von Oppositionellen zum Wahlboykott auf, forderten freie Wahlen und die Beobachtung der Stimmenauszählung. Letztere war nach § 37 (1) des DDR-Wahlgesetzes öffentlich und auch nach der Verfassung der DDR nicht verboten.
Trotzdem war angesichts der Erfahrung früherer Repressalien, auch durch die Stasi, die Teilnahme daran ein mutiger Schritt. Doch auch diese Aussichten konnten zahlreiche Bürgerinnen und Bürger nicht davon abhalten, extra spät zur Wahl zu gehen oder gegen 18:00 Uhr erneut die Wahllokale aufzusuchen, um die Auszählung zu beobachten. Landesweit geschahen die Stimmenauszählungen in etwa 1.000 Wahllokalen unter ihrer Teilnahme.
Die Auswertungen der Wahlbeobachter belegten, dass Fälschungen stattfanden: Das durch den Vorsitzenden der Wahlkommission, Egon Krenz, bekanntgegebene Ergebnis – eine Wahlbeteiligung von 99 Prozent und ein Anteil von Gegenstimmen von ca. einem Prozent – deckte sich in keiner Weise mit dem Ergebnis der Stimmenauszählungen durch die Beobachter.
In der gesamten DDR war es im Vorfeld der Wahlen zu verschiedenen "Vorkommnissen" gekommen, wobei die Stasi regionale Schwerpunkte ausmachte. Zu den meisten Vorfällen kam es in der Hauptstadt Berlin, den Bezirken Karl-Marx-Stadt, Dresden, Leipzig, Halle und Magdeburg. Die Art und Weise der "Vorkommnisse" glich sich dabei: Es gingen bei den Wahlkommissionen und Amtsträgern zum Teil anonyme Schreiben und Anrufe ein, zahlreiche "Hetzlosungen" und "Hetzzettel" wurden verbreitet.
Wenige Tage vor den Kommunalwahlen wurde bei einer Briefkastenleerung in Dresden der vorliegende anonyme Brief gefunden und an die Staatssicherheit weitergeleitet. Der Text richtet sich gegen die SED-Regierung und wirft ihr Wahlfälschung, verfehlte Wohnungspolitik und Misswirtschaft vor.
Zunächst herzlichen Dank für die Banane vor der Wahl; eigentlich hätten wir sie erst nach der Wahl als Belohnung verdient!
Wir waren darüber eher empört als erfreut, war es doch offensichtlich,vor der Wahl noch etwas Stimmung zu machen!
Nichts desto trotz gratulieren wir schon heute zum sicher wieder hervorragenden Ergebnis der skandalösen Betrugswahlen des demokratischsten Staat der Welt!
Die letzte Prismasendung hat wieder einmal in empörender Weise bewiesen, welche Uhrmacher bei uns am Werke sind. Ist es nicht skandalös, daß Wohnungen jahrelang freistehen, auf die wohnungsuchende schmerzlich warten.
Und daß hochwertige Werkzeuge, die es im Laden nicht gibt, in irgendwelchen Lagern unter freiem Himmel vergammeln!
Wo soll denn dann des Vertrauen zu solch staatlichen Institutionen herkommen, die solchen Mist und solche Suawirtschaft zulassen!
Aber Euer Augenmerk richtet ihr lieber auf Demonstrationszüge, ob dort nicht ein Andersdenkender mit irgendeiner Losung aufwartet, die Euch nicht in den Kram paßt — dazu werden viele Tausende Kräfte gebunden, die in der Produktion dringend gebraucht werden. Da brauchen wir uns nicht zu wundern, daß es immer bergab geht.
Seit geraumer Zeit gibt es u.a. keine Damenschlüpfer, wie lang soll diese Mißwirtschaft weitergehen?
Das einzige,was klappt, daß schon Wochen vor den Feiertagen die Fetzen draußen hängen und vom Wind zerzaust werden — sind sie zerfetzt,werden neue gekauft, dazu ist immer Geld da!
Und das einzige,was in den Läden ausreichend vorhanden ist, sind Spirituosen, damit kann man ja auch das meiste Geld machen. Und die Menschen können ihren Ärger damit hinunterspülen.
Wielange sollen eigenzlich die Berliner noch den Vorzug haben, Jede Menge Edelgemüse,Südfrüchte,gutes Bier und sonstige Vergünstigungen vor der Provinz zu haben? Wir dachten immer, Sozialismus heißt Gleichheit für alle!
Hat die Regierung Angst vor den Berlinern, weil sie sich solche Mätzchen,wie ihr sie mit uns erlaubt nicht bieten lassen?
Eines steht fest: das Volk läßt sich nicht mehr länger wie unmündige Kinder behandeln, das laßt euch gesagt sein!
Was die Russen,Polen und Ungarn können,das werden wir auch noch schaffen!
Eure Selbstgefälligkeit und Herrlichkeit wird keinen Fortbestand mehr haben — geht einmal zufuß durch die Lande und hört Euch die Miststimmng des Volkes an.
Es ist doch eine Schande,daß ihr eigene Verkaufsläden habt, in denen es alles gibt,was wir nur noch dem Namen nach kennen! Der Volkszorn wächst unaufhaltsam - das werdet ihr immer mehr zu spüren bekommen — hoffentlich nicht spät!
Und was schließlich den Reiseverkehr anbetrifft: schreibt es Euch hinter die Ohren: 17 Millionen Menschen lassen sich von einer Hand voll Gernegroßen nicht mehr länger einsperren!
Information über die Ablage von "Hetzzetteln" im Bahnhof Görlitz Dokument, 1 Seite
Beschluss der 22. Landessynode Sachsens zu den Kommunalwahlen 1989 Dokument, 1 Seite
Anzeige wegen Wahlfälschung im Bezirk Dresden Dokument, 2 Seiten
Information über "feindlich-negative Aktivitäten" im Vorfeld der Kommunalwahlen 1989 in Dresden Dokument, 4 Seiten