Aus der Rede von Wilhelm Grothaus im Sachsenwerk in Niedersedlitz
Signatur: BStU, MfS, BV Dresden, AU, Nr. 239/53, Bl. 18
Der Angestellte Wilhelm Grothaus trat während des Volksaufstands vom 17. Juni 1953 im Sachsenwerk in Dresden als Redner auf. Seine Forderungen nach freien Wahlen und die Freilassung aller politischen Gefangenen stießen bei den streikenden Arbeiterinnen und Arbeitern auf Zustimmung.
Vom 16. bis 21. Juni 1953 kam es in fast 700 Städten und Gemeinden der DDR zu Demonstrationen und Streiks. Begann der 17. Juni noch als Arbeiteraufstand, entwickelte er sich schnell zum Volksaufstand weiter. Er nahm vielerorts revolutionäre Züge an, bevor er mit Hilfe von russischen Panzern unterdrückt wurde. SED und Stasi bezeichneten die Vorkommnisse offiziell als einen vom westlichen Ausland gesteuerten "Putschversuch faschistischer Agenten und Provokateure".
Tatsächlich war der 17. Juni 1953 Ausdruck der Unzufriedenheit weiter Teile der DDR-Bevölkerung. Zunächst entzündeten sich die Proteste an sozialen Fragen. Die Menschen stellten Forderungen, die ihren Arbeits- und Lebensalltag betrafen, wie "Senkung der Arbeitsnormen und der HO-Preise". Bald forderten die Demonstranten im ganzen Land jedoch den Rücktritt der Regierung, freie Wahlen, Pressefreiheit, die Freilassung aller politischen Gefangenen und schließlich auch die deutsche Wiedervereinigung.
Von den Nachrichten aus Berlin ermuntert und von den Ausführungen des SED-Parteisekretärs verärgert, begannen auch die Arbeiter des SAG-Betriebs Sachsenwerk Niedersedlitz in Dresden nach und nach, die Arbeit niederzulegen. Das Sachsenwerk war der größte Industriebetrieb Dresdens, im Hauptwerk waren fast 5.500 Mitarbeiter beschäftigt. Innerhalb kurzer Zeit schwoll die Versammlung auf dem Werkshof auf 2.000 Personen an.
Etwa anderthalb Kilometer vom Sachsenwerk entfernt befand sich der VEB Sächsische Brücken- und Stahlhochbau (ABUS). Als gegen 10:00 Uhr die Kollegen vom Sachsenwerk die ABUS-Mitarbeiter aufforderten, ebenfalls zu streiken und sich ihrem Protestzug anzuschließen, folgte ein kleiner Teil der Belegschaft. Der größere verharrte zunächst auf dem Gelände und wartete eine eilig einberufene Belegschaftsversammlung ab, auf der sich Partei- und Betriebsfunktionäre jedoch nicht durchsetzen konnten.
Nachdem Otto Buchwitz, Mitglied des SED-Zentralkomitees und Alterspräsident der Volkskammer, vergeblich versucht hatte, die aufgebrachten Aufständischen zu beschwichtigen, trat spontan Wilhelm Grothaus auf das Podium. Grothaus war ein kaufmännischer Angestellter, der bis 1932 der SPD und anschließend der KPD angehört hatte. Die Situation veränderte sich schlagartig. Grothaus forderte den Rücktritt der Regierung, freie und geheime Wahlen, die Freilassung aller politischen Gefangenen, die Senkung der HO-Preise sowie die Verbesserung der Sozialfürsorge. Er schlug vor, eine Streikleitung mit zehn Mitgliedern zu wählen. Die Arbeiter wählten jedoch elf Mitglieder, darunter auch Grothaus selbst.
Das vorliegende Dokument soll einen Teil seiner Rede sinngemäß wiedergeben.
Metadaten
- Datum:
- 19.6.1953
- Rechte:
- BStU
- Überlieferungsform:
- Dokument
Sachsenwerk Niedersedlitz
Dresden, den 19.06.53
Sinngemäße Wiedergabe der Hetzrede des Grothaus, beschäftigt in VEB "Abus" Dresden-Niedersedlitz am 17.06.53 zwischen 15.00 und 16.00 Uhr auf dem Werkhof im Sachsenwerk N.S.
Grothaus stellte sich vor als seit 1918 politisch organisierter Arbeiter, war Mitglied der KPD und des "Nationalkommitee Freies Deutschland" sowie OdF.
Er sagte sinngemäß: "Heut ist seit langer Zeit zum ersten Mal wieder Gelegenheit seine Meinung frei und offen zum Ausdruck zu bringen. Wir haben zwar eine Verfassung die uns Rede- und Gewissensfreiheit zuerkennt, aber das steht nur auf dem Papier. Wo konnten wir bisher davon Gebrauch machen. Wir hatten ja bisher keine Gelegenheit dazu. Die hohen Funktionäre sollen zwar das Ohr an der Masse haben, aber wenn sie das gehabt hätten, dann wüßten sie die wirkliche Meinung des Volkes. Ich möchte wissen, wo sie bisher ihre Ohren gehabt haben. Aber sie schwebten ja in höheren Regionen und darum konnten sie es auch nicht wissen. Ich glaube, es gibt keinen unter uns, der nicht die Einheit unseres Vaterlandes und den Frieden will, wir lehnen aber eine Einheit und Regierung mit Gewissenszwang ab.
Auf Grund der gemachten Fehler können wir zu der Regierung kein Vertrauen mehr haben. Ist denn die Regierung überhaupt auf freier geheimer Grundlage gewählt worden. Hat sich denn überhaupt jemand getraut, irgend etwas zu sagen. Denkt an die vollen Zuchthäuser wo diejenigen schmachten, die nur vom freien Meinungsrecht Gebrauch gemacht haben. Die jetzige Regierung muß verschwinden, wir wollen eine frei, gerechte Regierung. Wir wollen Wohlstand für das [unterstrichen: ganze] Volk. Man hat den Mittelschichten zwar die Lebensmittelkarten entzogen, hat sie aber nicht gefragt, von was sie leben sollen, tut eine sozial denkende Regierung?. Kann man zu so einer Regierung Vertrauen haben ?!
Was wir fordern ist folgendes:
Gesamtdeutsche, freie aber [unterstrichen: geheime] Wahlen in ganz Deutschland.
Sofortige Zurückziehung der Normerhöhung! [durchgestrichen: Sofortige B]
Sofortige Bestrafung der Verantwortlichen der gemachten Fehler!
Eine Regierung auf wirklich freier, demokratischer Grundlage!
Sofortige Freilassung aller politischen Häftlinge!
Sofortige Aufhebung des Ausnahme-Zustandes im Ostsektor von Berlin!
Wir brauchen keine Engländer, Amerikaner oder Russen- wir sind selbst stark genug, uns ein Deutschland in Freiheit zu schaffen.
Wir fordern Einheit, Gleichheit, Brüderlichkeit in Freiheit !
Wenn wir jetzt demonstrieren um der Bevölkerung zu zeigen, daß wir nicht mehr länger gewillt sind, den auf uns lastenden Druck zu ertragen, so muß das diszipliniert geschehen.
Nachsatz zu den von ihm gestellten Forderungen: Wir fordern die Abschaffung der ausbeutenden HO-Geschäfte !
Einhaltung des Briefgeheimnisses, Presse- und Versammlungsfreiheit.
[Unterschrift unleserlich]
[handschriftliche Ergänzung: U. Ltn.]