Signatur: BStU, MfS, HA VII, Nr. 1333, Bl. 168-170
Das Staatliche Amt für Atomsicherheit und Strahlenschutz der DDR (SAAS) fasste in einem ersten Bericht die Lage nach dem Super-GAU in Tschernobyl zusammen.
Tschernobyl – das ist ein Schlüsselbegriff der Geschichte des 20. Jahrhunderts. Er ist die Kurzformel für den Super-GAU im gleichnamigen sowjetischen Kernkraftwerk am 26. April 1986, den bis dahin schwersten nuklearen Unfall bei der zivilen Nutzung der Kernkraft. Die Folgen des Unglücks waren beispiellos. Die unkontrolliert entwichene Radioaktivität war immens, kannte weder Landes- noch Kontinentalgrenzen und ihre Langzeitfolgen halten bis heute an.
Wie der SED-Staat insgesamt sah sich das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) durch Tschernobyl zahlreichen Herausforderungen ausgesetzt. Unmittelbar musste der politische und ideologische Schaden für die SED-Diktatur begrenzt werden. Das Credo "Von der Sowjetunion lernen heißt siegen lernen" wirkte nach dem Unglück hohl. Auch die Wirtschaft der DDR war von Schaden bedroht: Die Bundesrepublik, ein wichtiger Abnehmer für Lebensmittel aus ostdeutscher Produktion, ließ aus Angst vor verstrahlter Ware Lieferungen nicht mehr über die Grenze. Das ehrgeizige Kernenergieprogramm der DDR erlitt einen empfindlichen Vertrauensverlust, basierten die Reaktoren doch ebenfalls auf sowjetischer Technik.
Mit dem Unglück entstand über Nacht zudem eine neue sicherheitspolitische Herausforderung. Die ostdeutsche Anti-Kernkraftwerks-Bewegung, die in Opposition zu der Kernenergiepolitik, der Umweltpolitik und der Informationspolitik der SED-Partei- und DDR-Staatsführung stand, musste nun konsequent bekämpft werden.
In einem ersten Bericht fasste das Staatliche Amt für Atomsicherheit und Strahlenschutz der DDR (SAAS) die spärlichen Informationen zusammen und beschrieb die in Tschernobyl eingesetzte Technik und die geographische Lage des Reaktors. Erste eigene Messungen des SAAS ergaben nichts Aufregendes. Der Tenor des Berichts lautete: Kein Grund zur Panik. Der Bericht wurde für den Ministerrat der DDR angefertigt und gelangte so in die Unterlagen des MfS.
Staatliches Amt für Atomsicherheit und Strahlenschutz
Beim Ministerrat der Deutschen Demokratischen Republik
Der Präsident
1157 Berlin-Karlshorst, den
Waldowallee 177
Mitglied des Politbüros
des Zentralkomitees der SED
Vorsitzenden des Ministerrates der Deutschen Demokratischen Republik
Genossen Willi Stoph
1020 Berlin
Klosterstraße 47
[Handschriftlich: Mi. 29.4.86]
Sehr geehrter Genosse Vorsitzender!
Mit diesem Schreiben übersende ich ihnen in Ergänzung zur Meldung des Staatlichen Amtes für Atomsicherheit und Strahlenschutz an den Diensthubenden des Ministerrates vom 20. 4. 1986, 22.45 Uhr, einen ersten Bericht im Zusammenhang mit der TASS-Meldung über eine Havarie im Kernkraftwerk Tschernobyl / Ukraine.
Mit sozialistischem Gruß
[Unterschrift: Rabold]
i. V. Dr. sc. techn. Rabold
Vizepräsident
Anlage
Bekämpfung von Widerstand und Opposition umschreibt, was zwischen 1950 und 1989 als eine Kernaufgabe des MfS galt. Gegen den Willen eines Großteils der ostdeutschen Bevölkerung wurde eine Diktatur etabliert, die nicht durch Wahlen legitimiert war: Dies war einer der Gründe für die Bildung des MfS am 8.2.1950.
Um ihren gesellschaftlichen Alleinvertretungs- und Herrschaftsanspruch zu sichern, schuf sich die SED als Repressions- und polizeistaatliche Unterdrückungsinstanz das MfS - das konsequenterweise so auch offiziell von ihr als "Schild und Schwert der Partei" bezeichnet wurde. Bereits in der "Richtlinie über die Erfassung von Personen, die eine feindliche Tätigkeit durchführen und von den Organen des MfS der DDR festgestellt wurden" vom 20.9.1950 wurde dementsprechend festgelegt, dass "alle Personen" zu registrieren seien, deren Verhalten geeignet war, die "Grundlagen" der DDR in Frage zu stellen.
Ferner wurde bestimmt, dass "über Personen, die eine feindliche Tätigkeit ausüben, [...] Vorgänge" anzulegen sind und über "die erfassten Personen [...] eine zentrale Kartei" einzurichten ist. Das offensive Vorgehen gegen Regimegegner erfuhr eine Ergänzung in den gleichzeitig getroffenen Festlegungen zur Übergabe der als "feindlich" klassifizierten Personen an die Staatsanwaltschaften.
Das MfS wurde somit bei der Bekämpfung von Widerstand und Opposition zur Ermittlungsinstanz; die nachfolgenden Urteile gegen Oppositionelle und Regimekritiker ergingen in enger Kooperation mit den vom MfS zumeist vorab instruierten Gerichten und zum Schein vermeintlicher Rechtsstaatlichkeit unter Hinzuziehung von mit dem MfS häufig zusammenarbeitenden Rechtsanwälten.
Inhalte, Auftreten und Erscheinungsbild von politisch abweichendem Verhalten, Widerstand und Opposition wandelten sich im Laufe der DDR-Geschichte. Zugleich änderten sich auch die Strategien und Methoden des MfS in Abhängigkeit vom konkreten Erscheinungsbild von Protest und Widerstand, aber auch analog zum Ausbauniveau des Apparates und seines Zuträger- und Informantennetzes sowie zur jeweils getroffenen Lageeinschätzung und unter Berücksichtigung der politischen Rahmenbedingungen.
Zu allen Zeiten gab es in beinahe allen Bevölkerungsgruppen und in allen Regionen Aufbegehren, Opposition und Widerstand. In den ersten Jahren nach Gründung der DDR gingen die SED und das MfS mit drakonischen Abschreckungsstrafen (u. a. Todesurteilen) gegen politische Gegner vor. Gefällt wurden die Urteile nicht selten in penibel vorbereiteten Strafprozessen mit präparierten Belastungszeugen und unter Verwendung erzwungener Geständnisse.
In mehreren Orten der DDR wurden z. B. Oberschüler (Werdau, Leipzig, Werder, Eisenfeld, Fürstenberg/Oder, Güstrow), die anknüpfend an das Vorbild der Gruppe "Weiße Rose" in der NS-Diktatur Widerstand geleistet hatte, zum Tode oder zu langjährigen Zuchthausstrafen verurteilt, weil sie Informationen gesammelt und Flugblätter verteilt hatten. Manch einer von ihnen überlebte die Haftbedingungen nicht oder nur mit dauerhaften gesundheitlichen Schäden.
Im Laufe der 50er Jahre ging das MfS schrittweise zum verdeckten Terror über. Nach wie vor ergingen langjährige Zuchthausstrafen; politische Opponenten, die von Westberlin aus die Verhältnisse in der DDR kritisierten, wurden - wie Karl Wilhelm Fricke 1955 - in geheimen Operationen entführt, nach Ostberlin verschleppt, in MfS-Haft festgehalten und vor DDR-Gerichte gestellt (Entführung).
Das Bestreben der SED, sich in der westlichen Öffentlichkeit aufgrund dieser ungelösten Fälle und angesichts eklatanter Menschenrechtsverletzungen nicht fortlaufender Kritik ausgesetzt zu sehen, führte, begünstigt durch die Absicht, der maroden Finanz- und Wirtschaftslage mit westlicher Unterstützung beizukommen, schrittweise zu einem Wandel. Im Ergebnis kam es auch zu einer Modifikation der MfS-Strategien im Vorgehen gegenüber Widerstand und Opposition.
Neben die im Vergleich zu den 50er Jahren zwar niedrigeren, für die Betroffenen aber nach wie vor empfindlich hohen Haftstrafen traten als beabsichtigt "lautloses" Vorgehen die Strategien der Kriminalisierung und Zersetzung. In einem "Entwurf der Sektion politisch-operative Spezialdisziplin" des MfS, der auf 1978 zu datieren ist, wird hierzu ausgeführt: "Um der Behauptung des Gegners die Spitze zu nehmen, dass wir ideologische Meinungsverschiedenheiten oder Andersdenkende mit Mitteln des sogenannten politischen Strafrechts bekämpfen, sind dazu noch wirksamer Maßnahmen zur Kriminalisierung dieser Handlungen sowie nicht strafrechtliche Mittel anzuwenden."
In der Richtlinie 1/76 "zur Entwicklung und Bearbeitung Operativer Vorgänge" vom Januar 1976 wurden unter Punkt 2.6 "die Anwendung von Maßnahmen der Zersetzung" geregelt und unter Punkt 2.6.2 die "Formen, Mittel und Methoden der Zersetzung" erörtert. Jene reichten u. a. von der "systematischen Diskreditierung des öffentlichen Rufes" auch mittels "unwahrer […] Angaben" und der "Verbreitung von Gerüchten" über das "Erzeugen von Misstrauen", dem "Vorladen von Personen zu staatlichen Dienststellen" bis zur "Verwendung anonymer oder pseudonymer Briefe, […] Telefonanrufe".
Mit der "Ordnungswidrigkeitenverordnung" (OWVO) von 1984 ging man zudem verstärkt dazu über, politisch unliebsame Personen, sofern sie sich an Protesten beteiligten, mit Ordnungsstrafen zu überziehen und sie somit materiell unter Druck zu setzen. All diese Maßnahmen sollten nach außen hin den Eindruck erwecken, dass das MfS weniger rigoros als in früheren Jahren gegen Regimegegner vorging.
Nach der Freilassung von Oppositionellen, die kurz zuvor während der Durchsuchung der Umweltbibliothek 1987 und nach den Protesten am Rande der Liebknecht-Luxemburg-Demonstration 1988 in Berlin inhaftiert worden waren, äußerten selbst SED-Mitglieder Zweifel, ob das MfS noch in der Lage sei, offensiv und effektiv gegen politische Opponenten vorzugehen.
Hochgerüstet und allemal zum Einschreiten bereit, trat das MfS jedoch noch bis in den Herbst 1989 gegenüber weniger prominenten Menschen in Aktion, die Widerstand leisteten, inhaftierte diese und ließ gegen sie hohe Haftstrafen verhängen. Bis zum Ende der DDR schritt das MfS bei sog. Demonstrativhandlungen ein und ging gegen - wie es hieß - ungesetzliche Gruppenbildungen vor.
Organisationsstruktur in der MfS-Zentrale, die durch den Minister oder einen seiner Stellvertreter direkt angeleitet wurde. Die zuletzt 13 Hauptabteilungen wurden durch Einzelleiter geführt. Die weiter untergliederten und nach dem Linienprinzip tätigen HA waren für komplexe, abgegrenzte Bereiche operativ zuständig und federführend verantwortlich. Der Zuschnitt der Zuständigkeitsbereiche war an Ressorts oder geheimdienstlichen Praktiken (z. B. Verkehrswesen, Beobachtung, Funkspionage) orientiert.
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Signatur: BStU, MfS, HA VII, Nr. 1333, Bl. 168-170
Das Staatliche Amt für Atomsicherheit und Strahlenschutz der DDR (SAAS) fasste in einem ersten Bericht die Lage nach dem Super-GAU in Tschernobyl zusammen.
Tschernobyl – das ist ein Schlüsselbegriff der Geschichte des 20. Jahrhunderts. Er ist die Kurzformel für den Super-GAU im gleichnamigen sowjetischen Kernkraftwerk am 26. April 1986, den bis dahin schwersten nuklearen Unfall bei der zivilen Nutzung der Kernkraft. Die Folgen des Unglücks waren beispiellos. Die unkontrolliert entwichene Radioaktivität war immens, kannte weder Landes- noch Kontinentalgrenzen und ihre Langzeitfolgen halten bis heute an.
Wie der SED-Staat insgesamt sah sich das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) durch Tschernobyl zahlreichen Herausforderungen ausgesetzt. Unmittelbar musste der politische und ideologische Schaden für die SED-Diktatur begrenzt werden. Das Credo "Von der Sowjetunion lernen heißt siegen lernen" wirkte nach dem Unglück hohl. Auch die Wirtschaft der DDR war von Schaden bedroht: Die Bundesrepublik, ein wichtiger Abnehmer für Lebensmittel aus ostdeutscher Produktion, ließ aus Angst vor verstrahlter Ware Lieferungen nicht mehr über die Grenze. Das ehrgeizige Kernenergieprogramm der DDR erlitt einen empfindlichen Vertrauensverlust, basierten die Reaktoren doch ebenfalls auf sowjetischer Technik.
Mit dem Unglück entstand über Nacht zudem eine neue sicherheitspolitische Herausforderung. Die ostdeutsche Anti-Kernkraftwerks-Bewegung, die in Opposition zu der Kernenergiepolitik, der Umweltpolitik und der Informationspolitik der SED-Partei- und DDR-Staatsführung stand, musste nun konsequent bekämpft werden.
In einem ersten Bericht fasste das Staatliche Amt für Atomsicherheit und Strahlenschutz der DDR (SAAS) die spärlichen Informationen zusammen und beschrieb die in Tschernobyl eingesetzte Technik und die geographische Lage des Reaktors. Erste eigene Messungen des SAAS ergaben nichts Aufregendes. Der Tenor des Berichts lautete: Kein Grund zur Panik. Der Bericht wurde für den Ministerrat der DDR angefertigt und gelangte so in die Unterlagen des MfS.
Bericht
im Zusammenhang mit der TASS-Meldung über eine Havarie im Kernkraftwerk Tschernobyl/Ukraine
Die Nachrichtenagentur TASS informierte am 28.4.1986 in einer Meldung über eine Havarie im Kernkraftwerk Tschernobyl/ Ukraine.
Bereits vor dem Bekanntwerden der TASS-Meldung wurde das Staatliche Amt für Atomsicherheit und Strahlenschutz (SAAS) am 28.4.1986, 18.25 Uhr, von der Internationalen Atomenergie-Organisation in Wien informiert, daß in Schweden und Finnland um den Faktor 5 bin 6 über dem Normalwert liegende Radioaktivität in der Luft gemessen wurde. Die Quelle der erhöhten Radioaktivität war zum Zeitpunkt dieser Information noch unbekannt. Die Zusammensetzung der Radioaktivität deutete auf eine Havarie in einem Kernkraftwerk hin.
Am Standort Tschernobyl sind vier Reaktoren des Typs RBMK-1000 in Betrieb. Es handelt sich um graphitmoderierte Siedewasserreaktoren vom Kanaltyp. In der DDR und anderen Ländern außerhalb der UdSSR sind Reaktoren diesen Typs nicht vorhanden.
Der Standort des Kernkraftwerken Tschernobyl liegt an der Mündung des Flusses Pripjat in den Dnjepr-Stausee etwa 70 km nördlich von Kiew. Die Entfernung zur Grenze von Finnland, Schweden und der DDR beträgt ca. 1000 km.
Über die TASS-Meldung hinausgehende Informationen zum Zeitpunkt und Ablauf der Havarie liegen bisher nicht vor. Es muß angenommen werden, daß radioaktive Stoffe, die bei der Havarie aus dem Kernkraftwerk in die Umgebung gelangten, aufgrund der in den letzten Tagen vorherrschenden Wetterlage mit dem Wind vorwiegend in Richtung Schweden transportiert wurden.
Bekämpfung von Widerstand und Opposition umschreibt, was zwischen 1950 und 1989 als eine Kernaufgabe des MfS galt. Gegen den Willen eines Großteils der ostdeutschen Bevölkerung wurde eine Diktatur etabliert, die nicht durch Wahlen legitimiert war: Dies war einer der Gründe für die Bildung des MfS am 8.2.1950.
Um ihren gesellschaftlichen Alleinvertretungs- und Herrschaftsanspruch zu sichern, schuf sich die SED als Repressions- und polizeistaatliche Unterdrückungsinstanz das MfS - das konsequenterweise so auch offiziell von ihr als "Schild und Schwert der Partei" bezeichnet wurde. Bereits in der "Richtlinie über die Erfassung von Personen, die eine feindliche Tätigkeit durchführen und von den Organen des MfS der DDR festgestellt wurden" vom 20.9.1950 wurde dementsprechend festgelegt, dass "alle Personen" zu registrieren seien, deren Verhalten geeignet war, die "Grundlagen" der DDR in Frage zu stellen.
Ferner wurde bestimmt, dass "über Personen, die eine feindliche Tätigkeit ausüben, [...] Vorgänge" anzulegen sind und über "die erfassten Personen [...] eine zentrale Kartei" einzurichten ist. Das offensive Vorgehen gegen Regimegegner erfuhr eine Ergänzung in den gleichzeitig getroffenen Festlegungen zur Übergabe der als "feindlich" klassifizierten Personen an die Staatsanwaltschaften.
Das MfS wurde somit bei der Bekämpfung von Widerstand und Opposition zur Ermittlungsinstanz; die nachfolgenden Urteile gegen Oppositionelle und Regimekritiker ergingen in enger Kooperation mit den vom MfS zumeist vorab instruierten Gerichten und zum Schein vermeintlicher Rechtsstaatlichkeit unter Hinzuziehung von mit dem MfS häufig zusammenarbeitenden Rechtsanwälten.
Inhalte, Auftreten und Erscheinungsbild von politisch abweichendem Verhalten, Widerstand und Opposition wandelten sich im Laufe der DDR-Geschichte. Zugleich änderten sich auch die Strategien und Methoden des MfS in Abhängigkeit vom konkreten Erscheinungsbild von Protest und Widerstand, aber auch analog zum Ausbauniveau des Apparates und seines Zuträger- und Informantennetzes sowie zur jeweils getroffenen Lageeinschätzung und unter Berücksichtigung der politischen Rahmenbedingungen.
Zu allen Zeiten gab es in beinahe allen Bevölkerungsgruppen und in allen Regionen Aufbegehren, Opposition und Widerstand. In den ersten Jahren nach Gründung der DDR gingen die SED und das MfS mit drakonischen Abschreckungsstrafen (u. a. Todesurteilen) gegen politische Gegner vor. Gefällt wurden die Urteile nicht selten in penibel vorbereiteten Strafprozessen mit präparierten Belastungszeugen und unter Verwendung erzwungener Geständnisse.
In mehreren Orten der DDR wurden z. B. Oberschüler (Werdau, Leipzig, Werder, Eisenfeld, Fürstenberg/Oder, Güstrow), die anknüpfend an das Vorbild der Gruppe "Weiße Rose" in der NS-Diktatur Widerstand geleistet hatte, zum Tode oder zu langjährigen Zuchthausstrafen verurteilt, weil sie Informationen gesammelt und Flugblätter verteilt hatten. Manch einer von ihnen überlebte die Haftbedingungen nicht oder nur mit dauerhaften gesundheitlichen Schäden.
Im Laufe der 50er Jahre ging das MfS schrittweise zum verdeckten Terror über. Nach wie vor ergingen langjährige Zuchthausstrafen; politische Opponenten, die von Westberlin aus die Verhältnisse in der DDR kritisierten, wurden - wie Karl Wilhelm Fricke 1955 - in geheimen Operationen entführt, nach Ostberlin verschleppt, in MfS-Haft festgehalten und vor DDR-Gerichte gestellt (Entführung).
Das Bestreben der SED, sich in der westlichen Öffentlichkeit aufgrund dieser ungelösten Fälle und angesichts eklatanter Menschenrechtsverletzungen nicht fortlaufender Kritik ausgesetzt zu sehen, führte, begünstigt durch die Absicht, der maroden Finanz- und Wirtschaftslage mit westlicher Unterstützung beizukommen, schrittweise zu einem Wandel. Im Ergebnis kam es auch zu einer Modifikation der MfS-Strategien im Vorgehen gegenüber Widerstand und Opposition.
Neben die im Vergleich zu den 50er Jahren zwar niedrigeren, für die Betroffenen aber nach wie vor empfindlich hohen Haftstrafen traten als beabsichtigt "lautloses" Vorgehen die Strategien der Kriminalisierung und Zersetzung. In einem "Entwurf der Sektion politisch-operative Spezialdisziplin" des MfS, der auf 1978 zu datieren ist, wird hierzu ausgeführt: "Um der Behauptung des Gegners die Spitze zu nehmen, dass wir ideologische Meinungsverschiedenheiten oder Andersdenkende mit Mitteln des sogenannten politischen Strafrechts bekämpfen, sind dazu noch wirksamer Maßnahmen zur Kriminalisierung dieser Handlungen sowie nicht strafrechtliche Mittel anzuwenden."
In der Richtlinie 1/76 "zur Entwicklung und Bearbeitung Operativer Vorgänge" vom Januar 1976 wurden unter Punkt 2.6 "die Anwendung von Maßnahmen der Zersetzung" geregelt und unter Punkt 2.6.2 die "Formen, Mittel und Methoden der Zersetzung" erörtert. Jene reichten u. a. von der "systematischen Diskreditierung des öffentlichen Rufes" auch mittels "unwahrer […] Angaben" und der "Verbreitung von Gerüchten" über das "Erzeugen von Misstrauen", dem "Vorladen von Personen zu staatlichen Dienststellen" bis zur "Verwendung anonymer oder pseudonymer Briefe, […] Telefonanrufe".
Mit der "Ordnungswidrigkeitenverordnung" (OWVO) von 1984 ging man zudem verstärkt dazu über, politisch unliebsame Personen, sofern sie sich an Protesten beteiligten, mit Ordnungsstrafen zu überziehen und sie somit materiell unter Druck zu setzen. All diese Maßnahmen sollten nach außen hin den Eindruck erwecken, dass das MfS weniger rigoros als in früheren Jahren gegen Regimegegner vorging.
Nach der Freilassung von Oppositionellen, die kurz zuvor während der Durchsuchung der Umweltbibliothek 1987 und nach den Protesten am Rande der Liebknecht-Luxemburg-Demonstration 1988 in Berlin inhaftiert worden waren, äußerten selbst SED-Mitglieder Zweifel, ob das MfS noch in der Lage sei, offensiv und effektiv gegen politische Opponenten vorzugehen.
Hochgerüstet und allemal zum Einschreiten bereit, trat das MfS jedoch noch bis in den Herbst 1989 gegenüber weniger prominenten Menschen in Aktion, die Widerstand leisteten, inhaftierte diese und ließ gegen sie hohe Haftstrafen verhängen. Bis zum Ende der DDR schritt das MfS bei sog. Demonstrativhandlungen ein und ging gegen - wie es hieß - ungesetzliche Gruppenbildungen vor.
Organisationsstruktur in der MfS-Zentrale, die durch den Minister oder einen seiner Stellvertreter direkt angeleitet wurde. Die zuletzt 13 Hauptabteilungen wurden durch Einzelleiter geführt. Die weiter untergliederten und nach dem Linienprinzip tätigen HA waren für komplexe, abgegrenzte Bereiche operativ zuständig und federführend verantwortlich. Der Zuschnitt der Zuständigkeitsbereiche war an Ressorts oder geheimdienstlichen Praktiken (z. B. Verkehrswesen, Beobachtung, Funkspionage) orientiert.
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Signatur: BStU, MfS, HA VII, Nr. 1333, Bl. 168-170
Das Staatliche Amt für Atomsicherheit und Strahlenschutz der DDR (SAAS) fasste in einem ersten Bericht die Lage nach dem Super-GAU in Tschernobyl zusammen.
Tschernobyl – das ist ein Schlüsselbegriff der Geschichte des 20. Jahrhunderts. Er ist die Kurzformel für den Super-GAU im gleichnamigen sowjetischen Kernkraftwerk am 26. April 1986, den bis dahin schwersten nuklearen Unfall bei der zivilen Nutzung der Kernkraft. Die Folgen des Unglücks waren beispiellos. Die unkontrolliert entwichene Radioaktivität war immens, kannte weder Landes- noch Kontinentalgrenzen und ihre Langzeitfolgen halten bis heute an.
Wie der SED-Staat insgesamt sah sich das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) durch Tschernobyl zahlreichen Herausforderungen ausgesetzt. Unmittelbar musste der politische und ideologische Schaden für die SED-Diktatur begrenzt werden. Das Credo "Von der Sowjetunion lernen heißt siegen lernen" wirkte nach dem Unglück hohl. Auch die Wirtschaft der DDR war von Schaden bedroht: Die Bundesrepublik, ein wichtiger Abnehmer für Lebensmittel aus ostdeutscher Produktion, ließ aus Angst vor verstrahlter Ware Lieferungen nicht mehr über die Grenze. Das ehrgeizige Kernenergieprogramm der DDR erlitt einen empfindlichen Vertrauensverlust, basierten die Reaktoren doch ebenfalls auf sowjetischer Technik.
Mit dem Unglück entstand über Nacht zudem eine neue sicherheitspolitische Herausforderung. Die ostdeutsche Anti-Kernkraftwerks-Bewegung, die in Opposition zu der Kernenergiepolitik, der Umweltpolitik und der Informationspolitik der SED-Partei- und DDR-Staatsführung stand, musste nun konsequent bekämpft werden.
In einem ersten Bericht fasste das Staatliche Amt für Atomsicherheit und Strahlenschutz der DDR (SAAS) die spärlichen Informationen zusammen und beschrieb die in Tschernobyl eingesetzte Technik und die geographische Lage des Reaktors. Erste eigene Messungen des SAAS ergaben nichts Aufregendes. Der Tenor des Berichts lautete: Kein Grund zur Panik. Der Bericht wurde für den Ministerrat der DDR angefertigt und gelangte so in die Unterlagen des MfS.
Um aufzuklären, ob auch Radioaktivität auf das Gebiet der DDR gelangte, wurden noch am 20.4.1986 vom SAAS Messungen veranlaßt und in der Umgebung des Kernkraftwerkes "Bruno Leuschner" Greifswald, des Zentralinstitutes für Kernforschung Rossendorf und von Berlin begonnen.
Die Analyse von Boden-, Pflanzen- und Luftproben wurde eingeleitet.
Die ersten vorliegenden Meßergebnisse zeigen keine signifikanten Veränderungen des Niveous der in der Luft vorhundenen Radioaktivität. Mit speziellen Meßmethoden können jedoch radioaktive Stoffe nachgewiesen werden, wie sie in einem Kernkraftwerk entstehen und normalerweise nicht in der Luft vorhanden sind. Die Konzentrationen dieser Stoffe liegen so niedrig, daß ihr Beitrag zur Strahlenbelastung der Bevölkerung zu vernachlässigen ist. Gefährdungen sind daher nicht erkennbar.
Die Messungen worden im Rahmen eines speziellen Überwachungsprogrammes fortgesetzt. Wegen des niedrigen Radioaktivitätsniveaus sind lange Meßzeiten notwendig.
Über die Ergebnisse der Messungen wird in den nächsten Tagen berichtet.
Bekämpfung von Widerstand und Opposition umschreibt, was zwischen 1950 und 1989 als eine Kernaufgabe des MfS galt. Gegen den Willen eines Großteils der ostdeutschen Bevölkerung wurde eine Diktatur etabliert, die nicht durch Wahlen legitimiert war: Dies war einer der Gründe für die Bildung des MfS am 8.2.1950.
Um ihren gesellschaftlichen Alleinvertretungs- und Herrschaftsanspruch zu sichern, schuf sich die SED als Repressions- und polizeistaatliche Unterdrückungsinstanz das MfS - das konsequenterweise so auch offiziell von ihr als "Schild und Schwert der Partei" bezeichnet wurde. Bereits in der "Richtlinie über die Erfassung von Personen, die eine feindliche Tätigkeit durchführen und von den Organen des MfS der DDR festgestellt wurden" vom 20.9.1950 wurde dementsprechend festgelegt, dass "alle Personen" zu registrieren seien, deren Verhalten geeignet war, die "Grundlagen" der DDR in Frage zu stellen.
Ferner wurde bestimmt, dass "über Personen, die eine feindliche Tätigkeit ausüben, [...] Vorgänge" anzulegen sind und über "die erfassten Personen [...] eine zentrale Kartei" einzurichten ist. Das offensive Vorgehen gegen Regimegegner erfuhr eine Ergänzung in den gleichzeitig getroffenen Festlegungen zur Übergabe der als "feindlich" klassifizierten Personen an die Staatsanwaltschaften.
Das MfS wurde somit bei der Bekämpfung von Widerstand und Opposition zur Ermittlungsinstanz; die nachfolgenden Urteile gegen Oppositionelle und Regimekritiker ergingen in enger Kooperation mit den vom MfS zumeist vorab instruierten Gerichten und zum Schein vermeintlicher Rechtsstaatlichkeit unter Hinzuziehung von mit dem MfS häufig zusammenarbeitenden Rechtsanwälten.
Inhalte, Auftreten und Erscheinungsbild von politisch abweichendem Verhalten, Widerstand und Opposition wandelten sich im Laufe der DDR-Geschichte. Zugleich änderten sich auch die Strategien und Methoden des MfS in Abhängigkeit vom konkreten Erscheinungsbild von Protest und Widerstand, aber auch analog zum Ausbauniveau des Apparates und seines Zuträger- und Informantennetzes sowie zur jeweils getroffenen Lageeinschätzung und unter Berücksichtigung der politischen Rahmenbedingungen.
Zu allen Zeiten gab es in beinahe allen Bevölkerungsgruppen und in allen Regionen Aufbegehren, Opposition und Widerstand. In den ersten Jahren nach Gründung der DDR gingen die SED und das MfS mit drakonischen Abschreckungsstrafen (u. a. Todesurteilen) gegen politische Gegner vor. Gefällt wurden die Urteile nicht selten in penibel vorbereiteten Strafprozessen mit präparierten Belastungszeugen und unter Verwendung erzwungener Geständnisse.
In mehreren Orten der DDR wurden z. B. Oberschüler (Werdau, Leipzig, Werder, Eisenfeld, Fürstenberg/Oder, Güstrow), die anknüpfend an das Vorbild der Gruppe "Weiße Rose" in der NS-Diktatur Widerstand geleistet hatte, zum Tode oder zu langjährigen Zuchthausstrafen verurteilt, weil sie Informationen gesammelt und Flugblätter verteilt hatten. Manch einer von ihnen überlebte die Haftbedingungen nicht oder nur mit dauerhaften gesundheitlichen Schäden.
Im Laufe der 50er Jahre ging das MfS schrittweise zum verdeckten Terror über. Nach wie vor ergingen langjährige Zuchthausstrafen; politische Opponenten, die von Westberlin aus die Verhältnisse in der DDR kritisierten, wurden - wie Karl Wilhelm Fricke 1955 - in geheimen Operationen entführt, nach Ostberlin verschleppt, in MfS-Haft festgehalten und vor DDR-Gerichte gestellt (Entführung).
Das Bestreben der SED, sich in der westlichen Öffentlichkeit aufgrund dieser ungelösten Fälle und angesichts eklatanter Menschenrechtsverletzungen nicht fortlaufender Kritik ausgesetzt zu sehen, führte, begünstigt durch die Absicht, der maroden Finanz- und Wirtschaftslage mit westlicher Unterstützung beizukommen, schrittweise zu einem Wandel. Im Ergebnis kam es auch zu einer Modifikation der MfS-Strategien im Vorgehen gegenüber Widerstand und Opposition.
Neben die im Vergleich zu den 50er Jahren zwar niedrigeren, für die Betroffenen aber nach wie vor empfindlich hohen Haftstrafen traten als beabsichtigt "lautloses" Vorgehen die Strategien der Kriminalisierung und Zersetzung. In einem "Entwurf der Sektion politisch-operative Spezialdisziplin" des MfS, der auf 1978 zu datieren ist, wird hierzu ausgeführt: "Um der Behauptung des Gegners die Spitze zu nehmen, dass wir ideologische Meinungsverschiedenheiten oder Andersdenkende mit Mitteln des sogenannten politischen Strafrechts bekämpfen, sind dazu noch wirksamer Maßnahmen zur Kriminalisierung dieser Handlungen sowie nicht strafrechtliche Mittel anzuwenden."
In der Richtlinie 1/76 "zur Entwicklung und Bearbeitung Operativer Vorgänge" vom Januar 1976 wurden unter Punkt 2.6 "die Anwendung von Maßnahmen der Zersetzung" geregelt und unter Punkt 2.6.2 die "Formen, Mittel und Methoden der Zersetzung" erörtert. Jene reichten u. a. von der "systematischen Diskreditierung des öffentlichen Rufes" auch mittels "unwahrer […] Angaben" und der "Verbreitung von Gerüchten" über das "Erzeugen von Misstrauen", dem "Vorladen von Personen zu staatlichen Dienststellen" bis zur "Verwendung anonymer oder pseudonymer Briefe, […] Telefonanrufe".
Mit der "Ordnungswidrigkeitenverordnung" (OWVO) von 1984 ging man zudem verstärkt dazu über, politisch unliebsame Personen, sofern sie sich an Protesten beteiligten, mit Ordnungsstrafen zu überziehen und sie somit materiell unter Druck zu setzen. All diese Maßnahmen sollten nach außen hin den Eindruck erwecken, dass das MfS weniger rigoros als in früheren Jahren gegen Regimegegner vorging.
Nach der Freilassung von Oppositionellen, die kurz zuvor während der Durchsuchung der Umweltbibliothek 1987 und nach den Protesten am Rande der Liebknecht-Luxemburg-Demonstration 1988 in Berlin inhaftiert worden waren, äußerten selbst SED-Mitglieder Zweifel, ob das MfS noch in der Lage sei, offensiv und effektiv gegen politische Opponenten vorzugehen.
Hochgerüstet und allemal zum Einschreiten bereit, trat das MfS jedoch noch bis in den Herbst 1989 gegenüber weniger prominenten Menschen in Aktion, die Widerstand leisteten, inhaftierte diese und ließ gegen sie hohe Haftstrafen verhängen. Bis zum Ende der DDR schritt das MfS bei sog. Demonstrativhandlungen ein und ging gegen - wie es hieß - ungesetzliche Gruppenbildungen vor.
Organisationsstruktur in der MfS-Zentrale, die durch den Minister oder einen seiner Stellvertreter direkt angeleitet wurde. Die zuletzt 13 Hauptabteilungen wurden durch Einzelleiter geführt. Die weiter untergliederten und nach dem Linienprinzip tätigen HA waren für komplexe, abgegrenzte Bereiche operativ zuständig und federführend verantwortlich. Der Zuschnitt der Zuständigkeitsbereiche war an Ressorts oder geheimdienstlichen Praktiken (z. B. Verkehrswesen, Beobachtung, Funkspionage) orientiert.
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Gespräch mit dem Präsidenten des Staatlichen Amtes für Atomsicherheit und Strahlenschutz (SAAS) Dokument, 1 Seite
Übergabe von Materialien an den KGB wegen der Havarie in Tschernobyl Dokument, 1 Seite
Bericht zur radioaktiven Strahlenbelastung in der DDR nach dem Reaktorunglück in Tschernobyl Dokument, 7 Seiten
Reaktionen der DDR-Bevölkerung auf die Havarie im Kernkraftwerk Tschernobyl Dokument, 6 Seiten