Signatur: BStU, MfS, AOP, Nr. 1842/70, Bl. 8
Das Gerücht über ein Rolling-Stones-Konzert auf dem Axel-Springer-Hochhaus in West-Berlin verbreitete sich rasch unter DDR-Jugendlichen. Besonders an Schulen und Berufsschulen sammelte die Staatssicherheit Informationen zu kursierenden Flugblättern und Mundpropaganda.
In den 60er Jahren trat der Beat seinen Siegeszug um die Welt an. Mit der Musik von Bands wie den Beatles oder den Rolling Stones entwickelten junge Leute neue Vorlieben und distanzierten sich von der Generation ihrer Eltern. Eine neue Lebensart entstand vor allem im Westen, aber verzögert, abgeschwächt und verzerrt auch hinter dem Eisernen Vorhang. Nach dem Beginn der zweiten Entstalinisierung 1961 unter Nikita Chruschtschow lockerte 1963 auch die SED für kurze Zeit einige Verbote und Bevormundungen gegenüber Jugendlichen. In der Folge formierten sich auch hier Beat-Bands und Gruppen, die als westlich geltende Musik spielten.
Nach dem Sturz Chruschtschows beendete die SED jedoch diese kurze Phase der Liberalisierung auf dem "Kahlschlagplenum" im Dezember 1965. Funktionäre von SED und FDJ beäugten die Jugendlichen, die sich an westlicher Musik orientierten, zunehmend argwöhnisch, weil sich hier junge Menschen abseits der staatlich kontrollierten Massenorganisationen zusammenfanden. Dieser westliche Einfluss auf die eigene Gesellschaft erschien auch der Stasi gefährlich. Sie vermutete den direkten Versuch westlicher "Feindzentralen", die Jugend für sich zu gewinnen und damit einen Nährboden für Untergrundtätigkeiten in der DDR zu legen.
Im September 1969 gab der auch im Osten bekannte Moderator Kai Blömer in der RIAS-II-Sendung "Treffpunkt" bekannt, die Rolling Stones würden am 7. Oktober 1969 ein Konzert auf dem Springer-Hochhaus geben. Dies war nur ein Scherz, wie Blömer noch in derselben Sendung klarstellte. Unter DDR-Jugendlichen verbreitete sich dennoch ungehindert das Gerücht, dass am 20. Jahrestag der Gründung der DDR in West-Berlin ein Konzert der britischen Rockband stattfinden würde. Junge Leute aus der ganzen DDR verabredeten sich daraufhin für diesen Tag in Ost-Berlin. Die Stasi befürchtete einen gegen das SED-Regime gerichteten Aufruhr der Jugendlichen und wollte eine Menschenansammlung unweit der Staatsgrenze um jeden Preis verhindern, zumal wegen des Feiertages viele Berlinerinnen und Berliner sowie Gäste zum Volksfest ins Stadtzentrum strömten.
Aus diesem Grund verhinderte die Geheimpolizei bereits im Vorfeld im Rahmen der Aktion "Stafette" beabsichtigte Reisen von "negativen Jugendlichen" nach Berlin. Neben der "Rückführung in Heimatorte" wurden Aufenthaltsbeschränkungen und Berlin-Verbote erteilt sowie sogenannte "Aussprachen" mit den jungen Stones-Fans geführt. Die Zugänge zur Leipziger Straße wurden durch Volkspolizei, Staatssicherheit und FDJ-Ordnungsgruppen hermetisch abgeriegelt. Trotzdem hatten sich dort am Nachmittag des angekündigten Konzerts etwa 2.000 Jugendliche versammelt, die ihre Idole sehen wollten. Bis in die Nacht kam es seitens der Staatsmacht zu "Maßnahmen gegen kleinere Gruppen negativer Jugendlicher". Es folgten zahlreiche Verhaftungen wegen "Rowdytums" und "Zusammenrottung".
Aus der Betriebsberufsschule des Secura-Werks in der Rungestraße erhielt die Stasi einen Bericht über dort unter Lehrlingen kursierende Flugblätter, die ein Konzert der Rolling Stones am 6. oder 7. Oktober 1969 ankündigten.
Berlin,den 04.10.69
Bericht
Unterzeichneter erhielt am 02.10.69 durch den Direktor für Kader und Bildung Gen. Hering Kenntnis davon, dass im Bereich der Berufsausbildung Rungestr. unter den etwa 80 Lehrlingen des 1. Lehrjahres Grundausbildung, Diskussionen geführt werden, die dazu angetan sind, während der Feierlichkeiten zum XX. Jahrestag der DDR, besonders unter den anwesenden Jugendlichen, an der Staatsgrenze zu West-Berlin Provokationen zu organisieren bzw. hervorzurufen.
Angeblich sollen dazu das Auftreten der "Rolling Stones" und anderer Beat-Kapellen, vom Springer Verlag am Spittelmarkt, bis zum Brandenbuger Tor, Veranlassung geben.
Jugendliche sollen aufgefordert werden dort zu erscheinen, keine FDJ Kleidung zu tragen und sich ihnen evtl. in den Weg stellenden Erwachsenen [eingefügt: gegenüber],gegebenenfalls Gewalttätigkeiten zu begehen. Es soll dazu ein Flugblatt im Umlauf sein.
Da Gen. Hering keine konkreten Einzelheiten anführen konnte, wurde [anonymisiert] Berufsausbildung [anonymisiert] am 03.10.69 zum Sachverhalt befragt.
Es ergab sich dabei, dass tatsächlich die besagten Lehrlinge in den letzten Tagen wiederholt davon sprachen, dass an der DDR Staatsgrenze am 6. oder 7.10. derartige Kapellen spielen sollen. Einige hätten diese Hinweise über westliche Rundfunk und Fernsehstationen oder von Gleichaltrigen erhalten. Da ein Teil der Lehrlinge auch diese Kapellen hören und sehen wollten, wurden geeignete agitatorische Maßnahmen eingeleitet, um diese von ihrem Vorhaben abzuhalten.
Der Lehrmeister [anonymisiert] wurde dann von einem Lehrling
[anonymisiert] geb. [anonymisiert] Delitzsch
wohnh. [anonymisiert]
informiert, dass er sogar ein Flugblatt zu Lesen bekam, welches inhaltlich gegen die Politik der DDR abgefaßt war und die Jugendlichen aufgefordert wurden, an die Staatsgrenze am Spittelmarkt zu kommen, woselbst die Rolling Stones spielen sollen. Durch oder mit ihrem Erscheinen sollen sie eine ablehnende Haltung gegenüber der DDR zum Ausdruck bringen. Unsere Kulturveranstaltungen sollen boykottiert und die Forderungen der Jugendlichen zur Staatsgrenze zu gelangen, wenn erforderlich mit Gewalt durchzusetzen. So etwa wurde der Inhalt angedeutet.
Gleichfalls informierte der Direktor der Betriebsakademie Rungestr., Gen. Kirchgeorg, dass [durchgestrichen: er] ähnliche Dinge auch unter den Schülern der 2. EOS Berlin-Mitte Niederwallstr. diskutiert werden. Dort sollen ebenfalls Flugblätter kursieren, wie er von [anonymisiert], 16 Jahre, in Erfahrung bringen konnte.
Aufbauend auf diesen Hinweisen werden weitere Ermittlungen geführt und geeignete Maßnahmen eingeleitet.
[Unterschrift unleserlich]
Der Operative Vorgang (OV) war ein registrierpflichtiger Vorgang und Sammelbegriff für Einzel- bzw. Gruppenvorgänge (Registrierung, TV und ZOV). Er wurde angelegt, um im Rahmen von verdeckten, aber zum Teil auch offenen Ermittlungen gegen missliebige Personen vorgehen zu können (Anweisung 14/52 vom 10.9.1952: Vorgangsordnung; 1976 durch Richtlinie 1/76 "zur Entwicklung und Bearbeitung Operativer Vorgänge" neu geregelt).
Ausgangspunkt des OV waren zumeist Hinweise auf, aus MfS-Sicht, strafrechtlich relevante Tatbestände (in der Regel Verstöße gegen die in der DDR geltenden politischen Normen), die es zu überprüfen galt. Bestandteil der nach einem klaren Abfolgeprinzip zu erstellenden OV waren "Maßnahmepläne" und ggf. in ihnen enthaltene Maßnahmen der Zersetzung, die vor allem dann zur Anwendung gelangten, wenn eine Inhaftierung aus taktischen Erwägungen als nicht opportun galt.
Im OV ermittelte das MfS nicht nur gegen die betreffende Person, es wurden auch Erkundigungen zum familiären Umfeld, zum Freundes- und Kollegenkreis u. ä. eingeholt. Konnten Delikte keinen Personen unmittelbar zugeordnet werden (z. B. Flugblätter, Losungen, anonyme Briefe), wurde ein OV gegen unbekannt eröffnet. Darin wurden die nach den Vorstellungen des MfS potenziell als Urheber in Frage kommenden Personen dahingehend überprüft, ob ihnen die "Tat" nachzuweisen war.
Häufig ging dem OV eine Operative Personenkontrolle (OPK) voraus. OV waren mit Vorschlägen zur Ahndung der nachgewiesenen Straftatverletzungen (z. B. Ermittlungsverfahren; Anwerbung; Zersetzungsmaßnahmen) bzw. bei Nicht-Bestätigung des Ausgangsverdachts durch Einstellen der Bearbeitung abzuschließen.
Regime, auch Regimeverhältnisse, bezeichnet die Gesamtheit der Verhältnisse und Lebensbedingungen eines Landes oder geographischen Raumes (z. B. politische Entwicklungen, administrative Strukturen, kulturelle Besonderheiten, behördliche Sicherheitsvorkehrungen), deren Kenntnis für ein effektives und unauffälliges nachrichtendienstliches Handeln notwendig war. Mit diesen Kenntnissen sollten vor allem das IM-Netz im Westen und der grenzüberschreitende Agentenreiseverkehr geschützt werden.
So sollten IM im Westeinsatz wissen, wie die bundesdeutsche Spionageabwehr arbeitete, wie streng Meldeformalitäten in Hotels gehandhabt wurden, wie man sich als durchschnittlicher Bundesbürger verhielt usw. Die Abteilung VI der HV A hatte die Aufgabe, systematisch Informationen über das Regime im Operationsgebiet zu sammeln und in der SIRA-Teildatenbank 13 nachzuweisen.
Beginn einer freiheitsentziehenden Maßnahme, Ergreifung eines Beschuldigten oder Angeklagten aufgrund eines richterlichen Haftbefehls (§ 114 StPO/1949, § 142 StPO/1952, §§ 6 Abs. 3, 124 StPO/1968). Zu unterscheiden von der vorläufigen Festnahme und der Zuführung.
Bericht zu einer vermuteten Verteilung von Flugblättern Dokument, 1 Seite
Bericht über die Verhaftung zweier Jugendlicher wegen des Verteilens von Flugblättern Dokument, 5 Seiten
Information zu einem Konzert auf dem Axel-Springer-Hochhaus Dokument, 1 Seite
Bericht über die Überprüfung eines Gerüchtes zu einem Auftritt der Rolling Stones Dokument, 1 Seite