Brief der Streikenden aus den Dresdner Industriebetrieben mit ihren Forderungen an die Regierung der DDR
Signatur: BStU, MfS, BV Dresden, AU, Nr. 102/53, Bl. 6
Die während des Volksaufstands vom 17. Juni 1953 streikenden Arbeiterinnen und Arbeiter aus Dresdner Industriebetrieben formulierten in einem Brief ihre Forderungen an das SED-Regime.
Vom 16. bis 21. Juni 1953 kam es in fast 700 Städten und Gemeinden der DDR zu Demonstrationen und Streiks. Begann der 17. Juni noch als Arbeiteraufstand, entwickelte er sich schnell zum Volksaufstand weiter. Er nahm vielerorts revolutionäre Züge an, bevor er mit Hilfe von russischen Panzern unterdrückt wurde. SED und Stasi bezeichneten die Vorkommnisse offiziell als einen vom westlichen Ausland gesteuerten "Putschversuch faschistischer Agenten und Provokateure".
Tatsächlich war der 17. Juni 1953 Ausdruck der Unzufriedenheit weiter Teile der DDR-Bevölkerung. Zunächst entzündeten sich die Proteste an sozialen Fragen. Die Menschen stellten Forderungen, die ihren Arbeits- und Lebensalltag betrafen, wie "Senkung der Arbeitsnormen und der HO-Preise". Bald forderten die Demonstranten im ganzen Land jedoch den Rücktritt der Regierung, freie Wahlen, Pressefreiheit, die Freilassung aller politischen Gefangenen und schließlich auch die deutsche Wiedervereinigung.
In den Betrieben Dresdens blieb die Situation zunächst entspannt. Direkt vor den Toren der Elbmetropole, im SAG-Betrieb Sachsenwerk in Niedersedlitz, sprach der SED-Parteisekretär des Betriebes über den Betriebsfunk zur Belegschaft und räumte Überspitzungen in der Normenfrage ein. Die Arbeiter hatten jedoch längst von den besonderen Vorgängen in Berlin erfahren. 30 von ihnen waren als Kursteilnehmer der SED-Betriebsschule auf Exkursion zur Stalinallee gewesen, um dort die fortschrittlichen Arbeitsmethoden der Bauarbeiter zu studieren und sich an ihnen ein Beispiel zu nehmen. Stattdessen waren sie Zeugen der Streiks und Protestzüge geworden.
Von den Nachrichten aus Berlin ermuntert und von den Ausführungen des SED-Parteisekretärs verärgert, begannen die Arbeiter nach und nach, die Arbeit niederzulegen. Das Sachsenwerk war der größte Industriebetrieb Dresdens, im Hauptwerk waren fast 5.500 Mitarbeiter beschäftigt. Innerhalb kurzer Zeit schwoll die Versammlung auf dem Werkshof auf 2.000 Personen an. Parteisekretär und Werksleitung versuchten noch, den Protestzug mit dem Hinweis aufzuhalten, dass die Normenerhöhung zurückgenommen sei. Das interessierte die Protestierenden jedoch nicht. Ein Teil machte sich auf, um die Belegschaften weiterer Betriebe für ihren Protest zu gewinnen.
Die Forderungen der Aufständischen gehen aus der vorliegenden Abschrift eines Briefs an den Bezirksvorstand des Freien Deutschen Gewerkschaftsbunds (FDGB) hervor. Sie verlangen darin von der DDR-Regierung unter anderem die Durchführung freier und geheimer Wahlen, die sofortige Freilassung politischer Gefangener sowie Lohnerhöhungen.
Metadaten
- Datum:
- 18.6.1953
- Rechte:
- BStU
- Überlieferungsform:
- Dokument
[handschriftliche Ergänzung: IX]
Abschrift/Bn
Dresden, den 18.06.1953
An den
Nezirksvorstand des FDGB
Dresden A 1
EbertPlatz
Die Delegierten der Betriebe:
Sachsenwerk Niedersedlitz
ABUS Niedersedlitz
Plattenwerk Meissen, Werk Niedersedlitz
Glühlampenwerk Dresden
KMB Leipzig, Konstruktionsabtgl. Niedersedl.
fordern von der Regierung der Deutschen Demokratischen Republik:
1. Schnellste Durchführung geheimer, freier, direkter, gesamtdeutscher Wahlen.
2. Dass die in der Vergangenheit begangenen Fehler von den verantwortlichen Regierungsmitgliedern untersucht, die Schuldigen zur Rechenschaft gezogen, das Ergebnis öffentlich bekanntgegeben und die Schuldigen entsprechend ihrer wirklichen Qualifikation eingesetzt werden.
3. Unverzügliche Untersuchung der gefällten Urteile über politische Vergehen in der Vergangenheit. Sofortige Entlassung der Verhafteten, die in Erregung ihre politische Meinung kundgetan haben; demgegenüber strengste Bestrafung derjenigen, die vorsätzlich Volkseigentum vernichtet haben.
4. Sofortige Aufhebung der gesamten Einschränkungen auf dem Gebiete der Sozialversorgung; Wiederherbeiführung des alten Standes.
5. Bedeutende Herabsetzung der Preise von den in ausreichendem Masse vorhandenen Waren in der Staatlichen Handelsorganisation.
6. Schnellste Realisierung der vesprochenen Lohnerhöhung der Lohngruppen 1 - 4.
7. Dass die unterzeichnenden Delegationsmitglieder der Betriebe keinerlei Schaden Persönlicher und materieller Art von seiten der Staatsorgane und der einzelnen Werkleitungen erleiden.
Für:
[Ab hier ist der Abschnitt am linken Rand markiert.]
Sachsenwerk Niedersedlitz
8 Unterschriften: - leserlich:
[anonymisiert], [anonymisiert], [anonymisiert], [anonymisiert]
ABUS Niedersedlitz
8 Unterschriften -
leserlich: [anonymisiert], [anonymisiert], [anonymisiert], [anonymisiert], [anonymisiert], [anonymisiert], [anonymisiert]
Plattenwerk Meissen, Werk Nds.
2 Unterschriften:
[anonymisiert], [anonymisiert]
Glühlampenwerk Dresden
2 Unterschriften: unleserlich
KMB Leipzig Konstruktionsabt. Niedersedlitz
1 Unterschrift: [anonymisiert]
f.d.R.d.A. [Auslassung]