Signatur: BStU, MfS, BV Karl-Marx-Stadt, Abt. XX, Nr. 309, Bl. 636
Am 23. Juni 1953, nur wenige Tage nach den Ereignissen vom Volksaufstand des 17. Juni, erreichte die Kreisdienststelle für Staatssicherheit in Freiberg ein Drohbrief der "Widerstandsbewegung S Sachsen". Diese kündigte in dem Brief an, die Opfer des Volksaufstands zu rächen.
Vom 16. bis 21. Juni 1953 kam es in fast 700 Städten und Gemeinden der DDR zu Demonstrationen und Streiks. Begann der 17. Juni noch als Arbeiteraufstand, entwickelte er sich schnell zum Volksaufstand weiter. Er nahm vielerorts revolutionäre Züge an, bevor er mit Hilfe von russischen Panzern unterdrückt wurde. SED und Stasi bezeichneten die Vorkommnisse offiziell als einen vom westlichen Ausland gesteuerten "Putschversuch faschistischer Agenten und Provokateure".
Während in anderen Regionen Sachsens hunderte Betriebe bestreikt wurden, kam es im Bezirk Karl-Marx-Stadt am 17. Juni 1953 zu weitaus weniger Streiks und Demonstrationen. Die Streikzentren lagen neben der Stadt Karl-Marx-Stadt in den Städten Freiberg, Crimmitschau, Tannenberg, Penig, und in Werdau. Eine Besonderheit der Streiks im Bezirk war, dass sie erst in der Nacht vom 17. zum 18. Juni begannen. Grund für die Arbeitsniederlegung war hier neben Normenerhöhung und der Verschlechterung der Lebensbedingungen vor allem die Verhängung des Ausnahmezustandes selbst.
Auf der Baustelle der neuen Zinkhütte in Freiberg legten am 18. Juni 1953 1.300 Bauarbeiter des VEB Bau-Union Dresden die Arbeit nieder. Eine der Ursachen des Streiks waren die äußerst schlechten Arbeitsbedingungen, die sich vor allem in katastrophalen Unterkünften für die Bauleute zeigten. In einer Versammlung wählten die Bauarbeiter eine Streikleitung und fassten ihre Forderungen zusammen. Diese beinhalteten unter anderem: Abschaffung der neuen Normen, Rücktritt der Regierung, Neuwahlen und Aufhebung des Ausnahmezustands.
Ein kleiner Teil der Bauleute nahm am Nachmittag die Arbeit wieder auf. Die Mehrheit streikte aber bis zum 21. Juni. Diesem Streik folgten auch einige andere Betriebe in der Umgebung. Ab dem 19. Juni versuchten Agitatoren der SED und sowjetisches Militär, die Streiks zu beenden. Am gleichen Tag gab es Meldungen über Festnahmen. Dabei wurden neun Personen im Raum Freiberg verhaftet. Am 22. Juni 1953 hatte sich aus Sicht der SED-Führung die Lage im Freiberger Gebiet wieder beruhigt. Damit war das Aufbegehren jedoch noch nicht zu Ende. Die Stasi-Dienststelle in Freiberg meldete noch tagelang das Auftauchen von politischen Flugblättern, "Hetzparolen" an Häuserwänden und Drohgebärden der Bevölkerung gegen die Staatsmacht.
Die illegale "Widerstandsbewegung S Sachsen" verfasste einen Drohbrief an die Freiberger Dienststelle der Staatssicherheit. Darin wird der Volksaufstand vom 17. Juni als Ausdruck eines ungebrochenen "Willen zur Freiheit und wahren Demokratie" beschworen. Weiterhin droht die Widerstandsbewegung den Stasi-Mitarbeitern: "Eure Namen, Eure Anschriften, Eure Decknamen und die Namen Eurer Spitzel sind uns genauestens bekannt."
Bezirksverwaltung Karl-Marx-Stadt
- E nsatzleitung-
Karl-Marx-Stadt, den 23.06.1953
Ih.
Betr.: Durchsage derDienststelle Freiberg, Gen. Bojak, 10.30 Uhr
Am 23.06. 1953 9.00 Uhr erhielt die Kreisdienststelle Freiberg durch die Post einen Brief einer illegalen Bewegung S Sachsen. Es war ein gelblicher Umschlag adressiert an den Staatlichen Sicherheitsdienst, Freiberg, Leipziger Str. 5. Auf der Rückseite des Umschlags war ein Siegel mit der Inschrift: Wiederstandsbewegung Sachsen und in der Mitte dieses Stempels ein S.
Der Brief wurde am 22.06.1953 in Freiberg 12.00 Uhr abgestempelt. Der Briefbogen ist ein weißer Durchschlagbogen Größe Din A 5
Der Inhalt des Briefes ist folgender:
An den
Staatlichen Sicherheitsdienst
Freiberg
Leipziger Str. 5
Arbeiterfäuste gegen Sowjetpanzer! Am 17.06.1953 erhob sich ein seit Jahren geknechtetes Volk gegen seine Unterdrücker. Die deutsche Arbeiterschaft der sowjetisch-besetzten Zone bewies.der ganzen Welt, daß sie durch die 12 Jahre Hitlerdiktatur und die 8 Jahre bolschewistischer Unterdrückung durch das terroristische SED-Regime ungebrochen den Willen zur Freiheit und wahren Demokratie in einer spontan sich entwickelnden Protestdemonstration zum Ausdruck bringen kann. Die ermordeten Arbeiter klagen Euch an, Euch Verbrecher, Euch Verräter, Euch ehrloses Gesindel. Die Freiheit des deutschen Volkes in der Ostzone kann jedoch durch Euer rafiniert ausgedachtes Spitzelsystem und durch sowjetische Panzer auf die Dauer nicht unterdrückt werden. Auch in Euren Reihen befinden sich Wiederstandskämpfer, die uns laufend die von Euch begangenen Verbrechen mitteilen. Eure Namen, Eure Anschriften, Eure Decknamen und die Namen Eurer Spitzel sind uns genauestens bekannt. Der Tag, an dem das Blut der ermordeten Arbeiter des 17. Juni gerächt wird, ist nicht mehr fern. Jetzt gibt es kein Zurück mehr. Tot den Verrätern, nieder mit Zaiser und Ulbricht.
Es lebe die Freiheit!
[Dieser Absatz wurde handschriftlich anteilig markiert.]
blauer Stempel
Wiederstandsbewegung S
Sachsen
entgegengenommen: [Unterschrift]; ( Ihle )
[Stempel: MfS/Ch 26; [Kürzel unleserlich]
Eing. am [handschriftliche Ergänzung: 23.06.53]
Tgb.Nr. [handschriftliche Ergänzung: 2499]
Weiter an:
[handschriftliche Ergänzung: Eins.ltg.]]
[handschriftliche Ergänzung: ehemalige Sekretären beobachten!
mit Freiberg absprechen!]
[handschriftliche Ergänzung: Mit Freiberg gesprochen
12h
[Kürzel unleserlich]
N.S. Brief war mit Schreibmaschine geschrieben
Umschlag auch.; [Kürzel unleserlich]]
Im Zusammenhang mit der Verwaltungsreform der DDR vom Sommer 1952 wurden die fünf Länderverwaltungen für Staatssicherheit (LVfS) in 14 Bezirksverwaltungen umgebildet. Daneben bestanden die Verwaltung für Staatssicherheit Groß-Berlin und die Objektverwaltung "W" (Wismut) mit den Befugnissen einer BV. Letztere wurde 1982 als zusätzlicher Stellvertreterbereich "W" in die Struktur der BV Karl-Marx-Stadt eingegliedert.
Der Apparat der Zentrale des MfS Berlin und der der BV waren analog strukturiert und nach dem Linienprinzip organisiert. So waren die Hauptabteilung II in der Zentrale bzw. die Abteilungen II der BV für die Schwerpunkte der Spionageabwehr zuständig usw. Auf der Linie der Hauptverwaltung A waren die Abteilung XV der BV aktiv. Einige Zuständigkeiten behielt sich die Zentrale vor: so die Militärabwehr (Hauptabteilung I) und die internationalen Verbindungen (Abteilung X) oder die Arbeit des Büros für Besuchs- und Reiseangelegenheiten in Westberlin (Abteilung XVII). Für einige Aufgabenstellungen wurde die Bildung bezirklicher Struktureinheiten für unnötig erachtet. So gab es in den 60er und 70er Jahren für die Abteilung XXI und das Büro der Leitung II Referenten für Koordinierung (RfK) bzw. Offiziere BdL II. Für spezifische Aufgaben gab es territorial bedingte Diensteinheiten bei einigen BV, z. B. in Leipzig ein selbständiges Referat (sR) Messe, in Rostock die Abt. Hafen.
An der Spitze der BV standen der Leiter (Chef) und zwei Stellv. Operativ. Der Stellv. für Aufklärung fungierte zugleich als Leiter der Abt. XV. Die Schaffung des Stellvertreterbereichs Operative Technik im MfS Berlin im Jahre 1986 führte in den BV zur Bildung von Stellv. für Operative Technik/Sicherstellung.
Die Kreisdienststellen waren neben den Objektdienststellen die territorial zuständigen Diensteinheiten. Sie waren entsprechend den regionalen Gegebenheiten unterschiedlich strukturiert und personell ausgestattet. Einige verfügten über ein Referat zur komplexen Spionageabwehr oder zur Sicherung der Volkswirtschaft und andere nur über spezialisierte Mitarbeiter in diesen Bereichen. Ihre Aufgaben waren die Kontrolle der Wirtschaft, des Verkehrswesens, des Staatsapparates, des Gesundheitswesens, der kulturellen Einrichtungen, der Volksbildung, ggf. von Einrichtungen des Hoch- und Fachschulwesens, wissenschaftlich-technischer Einrichtungen sowie die Überwachung besonders interessierender Personenkreise.
Die Kreisdienststellen waren maßgeblich an den Genehmigungsverfahren für dienstliche bzw. private Auslandsreisen beteiligt, führten Sicherheitsüberprüfungen durch und erstellten Stimmungs- und Lageberichte. Zur Realisierung der Aufgaben bedurfte es einer engen Zusammenarbeit mit den Partnern des POZW, insbesondere mit der Volkspolizei, den Räten und anderen Einrichtungen der Kreise. Die Kreisdienststellen unterhielten ständige Verbindungen zu den SED Kreisleitungen. Zwei Drittel der hauptamtlichen Mitarbeiter der Kreisdienststellen waren operativ tätig. Die Kreisdienststellen führten 50 Prozent der IM und bearbeiteten etwa 60 Prozent der OV zu einzelnen Personen oder Gruppen.
Die Kreisdienststellen gliederten sich in 2 bis 16 Fachreferate sowie das Referat Auswertung und Information (ZAIG) und die Wache/Militärische Sicherungsgruppe. In jeder Kreisdienststelle gab es einen Offizier, der teilweise oder ganz (IM-führender Mitarbeiter/XV) für die Belange der HV A vor Ort zuständig war.
Regime, auch Regimeverhältnisse, bezeichnet die Gesamtheit der Verhältnisse und Lebensbedingungen eines Landes oder geographischen Raumes (z. B. politische Entwicklungen, administrative Strukturen, kulturelle Besonderheiten, behördliche Sicherheitsvorkehrungen), deren Kenntnis für ein effektives und unauffälliges nachrichtendienstliches Handeln notwendig war. Mit diesen Kenntnissen sollten vor allem das IM-Netz im Westen und der grenzüberschreitende Agentenreiseverkehr geschützt werden.
So sollten IM im Westeinsatz wissen, wie die bundesdeutsche Spionageabwehr arbeitete, wie streng Meldeformalitäten in Hotels gehandhabt wurden, wie man sich als durchschnittlicher Bundesbürger verhielt usw. Die Abteilung VI der HV A hatte die Aufgabe, systematisch Informationen über das Regime im Operationsgebiet zu sammeln und in der SIRA-Teildatenbank 13 nachzuweisen.