Signatur: BStU, MfS, AU, Nr. 192/56, Bd. 4, Bl. 9
Wegen vermeintlicher "Agententätigkeit" nahm die Stasi am 30. November 1952 den ehemaligen SED-Funktionär Paul Merker fest.
Paul Merker war maßgeblich am Aufbau der SED-Herrschaft in Ostdeutschland beteiligt. Wie viele der Gründerväter der DDR war er schon in der Weimarer Zeit ein hochrangiger kommunistischer Politiker: Mitglied des Politbüros der KPD, Abgeordneter des Preußischen Landtages sowie Reichsleiter der sogenannten Revolutionären Gewerkschaftsopposition (RGO). Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten wirkte er ab 1936 zunächst in der Exil-Führung der KPD in Frankreich. 1942 floh er dann nach Mexiko, wo er als KPD-Politbüromitglied und Sekretär des Lateinamerikanischen Komitees der Bewegung "Freies Deutschland" die bestimmende Figur in der kommunistischen Emigration war. Nach Kriegsende wurde er 1946 ins Zentralsekretariat der SED berufen und blieb auch 1949 – nach dessen Umwandlung zum Politbüro – Mitglied im höchsten Parteigremium.
Am 22. August 1950, nicht einmal ein Jahr nach der Staatsgründung der DDR, wurde Merker zusammen mit anderen SED-Funktionären aus der Partei ausgeschlossen. Dieser Vorgang stand im Zusammenhang mit dem Budapester Schauprozess gegen den ungarischen Außenminister Lázló Rajk und andere hohe Funktionäre. Bei diesem Prozess wurde Noel Field, der ehemalige Leiter der Flüchtlingshilfsorganisation "Unitarian Service Committee" zur Schlüsselfigur einer imaginären Spionageorganisation stilisiert, die hochrangige Funktionäre einschloss. Das Verschwörungskonstrukt hatte eine ausgeprägt antisemitische Tendenz und diente der politischen Säuberung sowie der Schaffung von Sündenböcken, nicht nur in Ungarn. Auch Merker hatte im Exil Kontakt zu Field gehabt. Anders als andere "Belastete" wurde er aber zunächst nur aus der Partei ausgeschlossen und nicht verhaftet – wahrscheinlich weil der DDR-Staatspräsident Wilhelm Pieck seine Hand über ihn hielt. Zwei Jahre später aber, am 30. November 1952, nahm die Stasi auch Merker fest.
Stalins Tod am 5. März 1953 war für Merker eine glückliche Fügung. Die neue sowjetische Führung wandte sich nach und nach von den extremsten repressiven Exzessen ab. Bei der Staatssicherheit stellte sich Ratlosigkeit ein, wie man mit dem prominenten Häftling weiter verfahren sollte. Merker widerrief die wenigen selbstbelastenden Aussagen, die er in den ersten Wochen seiner Haft gemacht hatte. Am 31. Mai 1954 verfasste die Stasi trotzdem einen Schlussbericht und fünf Wochen später informierte die Oberste Staatsanwaltschaft die SED-Führung über den Sachstand und darüber, dass sie gegen Merker "unter Ausschluss der Öffentlichkeit" verhandeln und 15 Jahre Zuchthaus fordern wolle.
Das Urteil war gleichsam eine Verlegenheitslösung. Am 30. März 1955 erhielt das ehemalige Mitglied des SED-Politbüros Paul Merker in einem Geheimprozess eine Strafe von acht Jahren Zuchthaus. Der 1. Strafsenat des Obersten Gerichtes der DDR unter dem Vorsitz seines Vizepräsidenten Walter Ziegler warf Merker in der strafrechtlich substanzlosen Urteilsbegründung u. a. vor, er unterhalte Verbindungen, die "gegen den Bestand der Deutschen Demokratischen Republik" gerichtet seien. Diese und andere Beschuldigungen, die sich zum Teil auf Zeiten lange vor der DDR-Gründung bezogen, entbehrten jedoch jeglicher Grundlage.
Einlieferungsanzeige
Anz.-Brief-Tgb. Nr. [Auslassung]
Berlin, den 30.11.1952
Tatort: Amtsgerichtsbezirk [Auslassung]
Ergreifungsort: " [Auslassung]
Am 30.11.1952 gegen [Auslassung] Uhr wurde im Bezirk [Auslassung] im Bereich des VP-Reviers [Auslassung] wegen Agententätigkeit festgenommen:
Name: (bei Frauen auch frühere Namen angeben) Merker
Vorname: (Rufname unterstreichen) [unterstrichen: Paul] Friedrich
Beruf: Gastwirtsangestellter, zuletzt Schriftsteller
Geboren: am 01.02.1894 in Oberlösnitz; (Kreis) Dresden; (Land) [Auslassung]
Familienstand: *) [durchgestrichen: ledig] - verh. / [durchgestrichen: lebt zus. mit - getrennt lebend / gesch. von]
Bei Vorführung vor dem Richter
rotmachen!
[Passfoto aufgeklebt]
(Nur für Fingerabdruck - rechter Zeigefinger und ED-Stempel) [Auslassung]
Eine selbständige Abteilung ist eine Organisationsstruktur in der MfS-Zentrale, die durch den Minister oder einen seiner Stellvertreter direkt angeleitet und durch militärische Einzelleiter geführt wurde. Die weiter untergliederten Abteilungen prägten Linien aus (z. B. Abt. XIV; Linienprinzip) oder blieben auf die Zentrale beschränkt (z. B. Abt. X). Die eng umrissenen Zuständigkeiten mit operativer Verantwortung und Federführung orientierten sich an geheimdienstlichen Praktiken (Telefonüberwachung) oder Arbeitsfeldern (Bewaffnung, chemischer Dienst).
Ein Untersuchungsvorgang war eine bei einem strafrechtlichen Ermittlungsverfahren des MfS und ggf. dem späteren Gerichtsverfahren entstandene Akte, die den Hergang des Strafverfahrens widerspiegelt und auch häufig Informationen zur Strafvollstreckung enthält.
Untersuchungsvorgänge zeigen die offizielle wie auch die inoffizielle Ebene des Verfahrens. Sie enthalten sowohl das strafprozessual legale Material (Haftbefehl, Vernehmungsprotokolle, Anklageschrift, Verhandlungsprotokoll, Urteil u. a.) als auch Dokumente geheimpolizeilichen Charakters, etwa zu konspirativen Ermittlungsmaßnahmen operativer Abteilungen oder Berichte von Zelleninformatoren.
Ein archivierter Untersuchungsvorgang kann bis zu sieben Bestandteile umfassen: Gerichtsakte, Beiakte zur Gerichtsakte, Handakte zur Gerichtsakte, Handakte zum Ermittlungsverfahren, Beiakte zur Handakte des Ermittlungsverfahrens, manchmal auch Vollstreckungsakten und ggf. die Akte des Revisions- oder Kassationsverfahrens.