Signatur: BArch, MfS, HA II, Nr. 23812, Bl. 1-8
Im August 1985 löste der westdeutsche Nachrichtendienstbeamte Hansjoachim Tiedge mit seinem Übertritt in die DDR einen der größten Geheimdienstskandale in der Geschichte der Bundesrepublik aus. Vor und unmittelbar nach Tiedges Flucht flogen mehrere DDR-Spioninnen und -Spione auf, die daraufhin aus der Bundesrepublik abgezogen wurden.
Am 19. August 1985 reiste Hansjoachim Tiedge über Helmstedt-Marienborn in die DDR. Zu dieser Zeit war Tiedge Gruppenleiter des Referates "Nachrichtendienste der DDR" beim Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV). Auf Grund seiner Funktion und seiner 19-jährigen Tätigkeit für das BfV besaß er umfassende Kenntnisse der westdeutschen Spionageabwehr gegen die DDR.
Bis zum 23. August gab es in der Bundesrepublik keine Hinweise auf Tiedges Aufenthaltsort. Erst als der ostdeutsche Nachrichtendienst ADN meldete, dass "Tiedge […] in die DDR übergetreten [ist] und […] um Asyl ersucht" hat, wusste die westdeutsche Seite Bescheid.
Die Stasi notierte zum Motiv des Überlaufens: "Ablehnung der kapitalistischen Gesellschaftsordnung". Tatsächlich flüchtete Tiedge vor persönlichen Problemen. Hohe Schulden und übermäßiger Alkoholkonsum sowie der Tod seiner Frau hatten den Beamten in familiäre und dienstliche Schwierigkeiten gebracht.
Die Stasi dokumentierte unter dem Decknamen Aktion "Bruch" die öffentliche Berichterstattung über die sogenannte "Sekretärinnenaffäre" in der Bundesrepublik. Die zumeist weiblichen DDR-Spioninnen arbeiteten in den Vorzimmern von Bundestagsabgeordneten und Ministerien. Für die Stasi waren sie wichtige Quellen. Bereits einige Tage vor Tiedges Überlaufen meldeten sich einige Agentinnen, wie Johanna Olbrich und Erika Reißmann, nicht mehr bei ihren westdeutschen Arbeitgebern. Ob es einen Zusammenhang zwischen ihrem Verschwinden und dem Überlaufen Tiedges gab, ist nicht belegt. Das vorliegende Dokument erweckt den Anschein. Die Stasi untertitelte die Aktion "Bruch" mit "Einschätzungen und Übersichten zur Lage nach dem Übertritt des ehemaligen leitenden Mitarbeiters der Abteilung IV Spionageabwehr im BfV Köln". Es folgt eine chronologische Auflistung von Ereignissen rund um die Spionagefälle von August bis Oktober 1985.
Ich bin nicht bereit, mit offiziellen Vertretern der Bundesregierung oder mit Vertretern der Medien zu sprechen.
Berlin, den 24.08.1985 Hansjoachim Tiedge
Tagung aller Leiter der Bereiche (Referate) "Gegenspionage" der LfV's im abhörsicheren Saal der BfV-Zentrale.
Bundesinnenminister Zimmermann kündigt einschneidende strukturelle und personelle Veränderungen im BfV an sowie Maßnahmen zur Verbesserung der Organisation und Arbeitsweise des Amtes.
Feststellung der Bundesanwaltschaft, daß Sonja Lüneberg mit falscher Identität in der BRD gelebt hat (Schriftexpertise).
25.08.1985; Festnahme der Sekretärin im Bundespräsidialamt
Höke, Margarethe.
Sie soll seit längerer Zeit durch das BfV observiert worden sein.
Nach Angaben der Westpresse soll sich an diesem Tage der Geschäftsträger der DDR-Botschaft in Buenos Aires Martin Winkler abesetzt haben.
27.08.1985; Bundesinnenminister Zimmermann legt Bundeskanzler Kohl einen ersten schriftlichen Zwischenbericht über den Fall T. vor.
28.08.1985; Erste Hinweise (HA III) auf den Verdacht der Kundschaftertätigkeit der Sekretärin W., die "nicht im Kanzler-, sondern im Abteilungsleiterbau tätig ist und sich z.Z. im Urlaub befindet. Man erwartet die Enttarnung der mutmaßlichen Spionin nach Rückkehr aus dem Urlaub (bezieht sich auf Willner, Herta-Astrid
27.08.1985; Tagung der Parlamentarischen Kontrollmission für die Geheimdienste. Bundesinnenminister Zimmermann informiert das Bundeskabinett und die PKK über den derzeitigen Stand der Ermittlungen im Fall T. sowie die Fälle L., R. und H.
Vogel, Vorsitzender der PKK fordert den Rücktritt von Bundesinnenminister Zimmermann.
29.08.1985; Der Chef des BND, Hellenbroich, Heribert, wird aus dem Amt entlassen und in den einstweiligen Ruhestand versetzt. Als Nachfolger wird von Bundeskanzler Kohl der bisherige ständige Vertreter der BRD im NATO-Rat, Hans-Georg Wieck, eingesetzt.
2 Ehepaar werden wegen Spionageverdacht festgenommen:
- in London Reinhard und Sonja Schulze
- in Luzern Johann und Ingeborg Hübner
(Hübners sollten Verbindung zur Höke, Margarete unterhalten haben)
Abteilung IV (Diversion)
1959 hervorgegangen aus der Abt. III der Hauptverwaltung A (HV A); 1974-1978 nach Zusammenschluss mit der Arbeitsrichtung S der Arbeitsgruppe des Ministers (AGM) als Abteilung IV (Diversion/Sonderaufgaben) bezeichnet; 1978-1987 wieder selbständige Abteilung; 1987 größtenteils in der Abt. A XVIII der HV A aufgegangen.
Aufgaben: Infrastrukturspionage sowie Diversions- und Sabotagevorbereitung im Operationsgebiet, insbesondere in der Bundesrepublik Deutschland; u. a. durch Werbung und Führung von IM in der Bundesrepublik Deutschland und der DDR, deren Ausbildung und Einschleusung in das Bundesgebiet; die Beschaffung von Konspirativen Wohnungen (KW) und Deckadressen (IMK); Suche, Auswahl und Ausstattung von Depots für Material und von Unterkunfts- bzw. Unterschlupfobjekten sowie Aufklärung geeigneter Hubschrauberlandeplätze und Anlage von Objektvorgängen zu Personen und Einrichtungen.
Abteilung IV (Diversion)
1959 hervorgegangen aus der Abt. III der Hauptverwaltung A (HV A); 1974-1978 nach Zusammenschluss mit der Arbeitsrichtung S der Arbeitsgruppe des Ministers (AGM) als Abteilung IV (Diversion/Sonderaufgaben) bezeichnet; 1978-1987 wieder selbständige Abteilung; 1987 größtenteils in der Abt. A XVIII der HV A aufgegangen.
Aufgaben: Infrastrukturspionage sowie Diversions- und Sabotagevorbereitung im Operationsgebiet, insbesondere in der Bundesrepublik Deutschland; u. a. durch Werbung und Führung von IM in der Bundesrepublik Deutschland und der DDR, deren Ausbildung und Einschleusung in das Bundesgebiet; die Beschaffung von Konspirativen Wohnungen (KW) und Deckadressen (IMK); Suche, Auswahl und Ausstattung von Depots für Material und von Unterkunfts- bzw. Unterschlupfobjekten sowie Aufklärung geeigneter Hubschrauberlandeplätze und Anlage von Objektvorgängen zu Personen und Einrichtungen.
Hauptabteilung III (Volkswirtschaft)
Nach dem Vorbild der "Verwaltung für Wirtschaft" in der sowjetischen Hauptverwaltung für Staatssicherheit erhielt das am 8.2.1950 gebildete MfS eine Einrichtung, die zunächst unter der Bezeichnung Abteilung III bzw. Hauptabteilung III agierte. Vorläufer war die von Mielke geleitete Hauptverwaltung zum Schutz der Volkswirtschaft im MdI. Die Kernaufgaben bestanden in der Sabotageabwehr, im Schutz des Volkseigentums und in der Überwachung der Betriebe. Für die SAG Wismut wurde 1951 eine separate Struktureinheit, die Objektverwaltung "W" gegründet.
1955 wurde die systematische Überprüfung von Leitungskadern (später Sicherheitsüberprüfungen), 1957 der Aufbau des Informantennetzes, die Zusammenarbeit mit staatlichen Leitern und Parteisekretären, der Aufbau von Operativgruppen und Objektdienststellen sowie die Gewinnung von IM für Schlüsselpositionen in wirtschaftsleitenden Organen, Betrieben und Institutionen etabliert. Mit der Auflösung der Abteilung VI erhielt die HA III den Auftrag zur Sicherung volkswirtschaftlicher Maßnahmen auf dem Gebiet der Landesverteidigung.
1964 erfolgte im Zusammenhang mit den Reformen in der DDR-Volkswirtschaft die Umbenennung der HA III in HA XVIII. Die neue Struktur basierte auf dem Produktionsprinzip, das zunächst auf die führenden Wirtschaftszweige Bau und Industrie fokussiert war. Andere Wirtschaftsobjekte wurden nach dem Territorialprinzip von den Kreisdienststellen bearbeitet. Der HA XVIII in der Zentrale entsprachen gemäß dem Linienprinzip auf der Bezirksebene die Abteilungen XVIII der Bezirksverwaltungen. Sicherungsschwerpunkte waren vor allem Außenhandel, Wissenschaft und Technik sowie die Verteidigungsindustrie. Mit der Richtlinie 1/ 82 wurde der Akzent auf die Gewährleistung der inneren Stabilität verschoben. Strukturelle Auswirkungen hatte insbesondere die Hochtechnologie Mikroelektronik. 1983 wurde die für den Bereich KoKo zuständige AG BKK aus der für den Außenhandel zuständigen Abteilung 7 der HA XVIII herausgelöst.
Zuletzt wies die Organisationsstruktur 6 Arbeitsbereiche und 62 Referate auf. Sie diente vor allem der Aufklärung gegnerischer Geheimdienste ("Arbeit im und nach dem Operationsgebiet"), der inneren Abwehrarbeit in den Betrieben und Institutionen, der Gewährleistung der inneren Stabilität, der Wahrung von Sicherheit, Ordnung und Geheimnisschutz sowie der Unterstützung der Wirtschaft durch "effektivitäts- und leistungsfördernde Maßnahmen". Leiter der HA XVIII waren Knoppe (1950–1953), Hofmann (1953–1957), Weidauer (1957–1963), Mittig (1964–1974) und Kleine (1974–1989). Der hauptamtliche Mitarbeiterbestand stieg 1954–1989 von 93 auf 646, auf der gesamten Linie XVIII waren es zuletzt 1623. 1989 arbeiteten für die Linie XVIII ca. 11.000 IM.
Hauptabteilung III (Volkswirtschaft)
Nach dem Vorbild der "Verwaltung für Wirtschaft" in der sowjetischen Hauptverwaltung für Staatssicherheit erhielt das am 8.2.1950 gebildete MfS eine Einrichtung, die zunächst unter der Bezeichnung Abteilung III bzw. Hauptabteilung III agierte. Vorläufer war die von Mielke geleitete Hauptverwaltung zum Schutz der Volkswirtschaft im MdI. Die Kernaufgaben bestanden in der Sabotageabwehr, im Schutz des Volkseigentums und in der Überwachung der Betriebe. Für die SAG Wismut wurde 1951 eine separate Struktureinheit, die Objektverwaltung "W" gegründet.
1955 wurde die systematische Überprüfung von Leitungskadern (später Sicherheitsüberprüfungen), 1957 der Aufbau des Informantennetzes, die Zusammenarbeit mit staatlichen Leitern und Parteisekretären, der Aufbau von Operativgruppen und Objektdienststellen sowie die Gewinnung von IM für Schlüsselpositionen in wirtschaftsleitenden Organen, Betrieben und Institutionen etabliert. Mit der Auflösung der Abteilung VI erhielt die HA III den Auftrag zur Sicherung volkswirtschaftlicher Maßnahmen auf dem Gebiet der Landesverteidigung.
1964 erfolgte im Zusammenhang mit den Reformen in der DDR-Volkswirtschaft die Umbenennung der HA III in HA XVIII. Die neue Struktur basierte auf dem Produktionsprinzip, das zunächst auf die führenden Wirtschaftszweige Bau und Industrie fokussiert war. Andere Wirtschaftsobjekte wurden nach dem Territorialprinzip von den Kreisdienststellen bearbeitet. Der HA XVIII in der Zentrale entsprachen gemäß dem Linienprinzip auf der Bezirksebene die Abteilungen XVIII der Bezirksverwaltungen. Sicherungsschwerpunkte waren vor allem Außenhandel, Wissenschaft und Technik sowie die Verteidigungsindustrie. Mit der Richtlinie 1/ 82 wurde der Akzent auf die Gewährleistung der inneren Stabilität verschoben. Strukturelle Auswirkungen hatte insbesondere die Hochtechnologie Mikroelektronik. 1983 wurde die für den Bereich KoKo zuständige AG BKK aus der für den Außenhandel zuständigen Abteilung 7 der HA XVIII herausgelöst.
Zuletzt wies die Organisationsstruktur 6 Arbeitsbereiche und 62 Referate auf. Sie diente vor allem der Aufklärung gegnerischer Geheimdienste ("Arbeit im und nach dem Operationsgebiet"), der inneren Abwehrarbeit in den Betrieben und Institutionen, der Gewährleistung der inneren Stabilität, der Wahrung von Sicherheit, Ordnung und Geheimnisschutz sowie der Unterstützung der Wirtschaft durch "effektivitäts- und leistungsfördernde Maßnahmen". Leiter der HA XVIII waren Knoppe (1950–1953), Hofmann (1953–1957), Weidauer (1957–1963), Mittig (1964–1974) und Kleine (1974–1989). Der hauptamtliche Mitarbeiterbestand stieg 1954–1989 von 93 auf 646, auf der gesamten Linie XVIII waren es zuletzt 1623. 1989 arbeiteten für die Linie XVIII ca. 11.000 IM.
Straftaten gegen die staatliche Ordnung
Straftaten gegen die staatliche Ordnung waren Straftatbestände des 8. Kapitels des StGB/1968. Insbesondere der 2. Abschnitt ("Straftaten gegen die staatliche und öffentliche Ordnung") enthält politische Strafnormen, die für die strafrechtliche Untersuchungstätigkeit der Staatssicherheit (Untersuchungsorgan) von großer Bedeutung waren.
Das gilt vor allem für § 213 ("Ungesetzlicher Grenzübertritt"), der in der Honecker-Ära Grundlage von rund der Hälfte aller MfS-Ermittlungsverfahren war. Auch § 214 ("Beeinträchtigung staatlicher und gesellschaftlicher Tätigkeit") spielte, vor allem im Zusammenhang mit der Bekämpfung von Ausreiseantragstellern, in den 80er Jahren eine immer wichtigere Rolle.
Ähnliches gilt für § 219 ("Ungesetzliche Verbindungsaufnahme") und § 220 ("Öffentliche Herabwürdigung der staatlichen Ordnung"), die die ähnlichen, aber schwerer wiegenden Strafnormen aus dem 2. Kapitel des StGB/1968 § 100 ("Staatsfeindliche Verbindungen", ab 1979 "Landesverräterische Agententätigkeit") und § 106 ("Staatsfeindliche Hetze") weitgehend verdrängten (Staatsverbrechen).
Straftaten gegen die staatliche Ordnung
Straftaten gegen die staatliche Ordnung waren Straftatbestände des 8. Kapitels des StGB/1968. Insbesondere der 2. Abschnitt ("Straftaten gegen die staatliche und öffentliche Ordnung") enthält politische Strafnormen, die für die strafrechtliche Untersuchungstätigkeit der Staatssicherheit (Untersuchungsorgan) von großer Bedeutung waren.
Das gilt vor allem für § 213 ("Ungesetzlicher Grenzübertritt"), der in der Honecker-Ära Grundlage von rund der Hälfte aller MfS-Ermittlungsverfahren war. Auch § 214 ("Beeinträchtigung staatlicher und gesellschaftlicher Tätigkeit") spielte, vor allem im Zusammenhang mit der Bekämpfung von Ausreiseantragstellern, in den 80er Jahren eine immer wichtigere Rolle.
Ähnliches gilt für § 219 ("Ungesetzliche Verbindungsaufnahme") und § 220 ("Öffentliche Herabwürdigung der staatlichen Ordnung"), die die ähnlichen, aber schwerer wiegenden Strafnormen aus dem 2. Kapitel des StGB/1968 § 100 ("Staatsfeindliche Verbindungen", ab 1979 "Landesverräterische Agententätigkeit") und § 106 ("Staatsfeindliche Hetze") weitgehend verdrängten (Staatsverbrechen).
Spionageabwehr beinhaltete nicht nur defensives Abwehren westlicher Spionage, sondern auch offensive Bekämpfung westlicher (zumeist bundesdeutscher) Sicherheitsbehörden auf dem Gebiet der Bundesrepublik. Das MfS fasste den Spionagebegriff sehr weit, so dass auch Angehörige oppositioneller Gruppen oder westliche Korrespondenten und Diplomaten regelmäßig im Visier der Spionageabwehr standen.
Das MfS unterschied drei Arten der Spionageabwehr. Die innere Spionageabwehr agierte innerhalb der DDR. Die äußere (auch: offensive) Spionageabwehr sollte bundesdeutsche Sicherheitsbehörden direkt bekämpfen, sich dabei aber auf deren Außenstellen und nachgeordnete Diensteinheiten konzentrieren. Die Gegenspionage hatte die Aufgabe, Spione in den Zentralen bundesdeutscher Sicherheitsbehörden zu platzieren, um die westliche Spionage gegen die DDR schon im Vorfeld zu paralysieren. In der Praxis waren die Grenzen zwischen äußerer Spionageabwehr, für die die Hauptabteilung II zuständig war, und der Gegenspionage, die Sache der Abt. IX der HV A war, fließend.
Die Spionageabwehr des MfS reagierte einerseits auf die tatsächliche Spionage gegen die DDR. Vor allem der BND und sein Vorgänger, die Organisation Gehlen, unterhielten in der DDR bis zum Mauerbau 1961 ein großes Agentennetz. In den Folgejahren brachen viele Kontakte westlicher Geheimdienste zu ihren Agenten in der DDR ab, auch enttarnte die Spionageabwehr viele von ihnen.
Der BND setzte daraufhin verstärkt Bundesbürger zur Informationsgewinnung ein, die als Besucher oder Transitreisende in der DDR unterwegs waren ("Reise- und Transitspione"). Seit den 70er Jahren versuchte der BND vor allem DDR-Bürger, die als Dienstreisende in den Westen kamen, als Agenten anzuwerben. Westliche Geheimdienste betrieben in der DDR schwerpunktmäßig Militärspionage.
Das MfS ging andererseits von der unzutreffenden Annahme aus, dass politisch widerständiges Verhalten von DDR-Bürgern zumeist von westlichen Geheimdiensten inspiriert würde (Diversion, politisch-ideologische), sodass die Bekämpfung politischer Gegner oft in den Bereich der Spionageabwehr fiel, ebenso wie die Überwachung westlicher Journalisten und Diplomaten. Aufgrund des weit gefassten Spionagebegriffs waren zahlreiche MfS-Abteilungen mit Spionageabwehr befasst, was zu Ineffizienz führte. Mielke wies deshalb 1987 der Hauptabteilung II die Federführung bei der Spionageabwehr zu.
1953 bis 1955 verhaftete das MfS in drei Großaktionen 1.200 Personen in der DDR und Westberlin, die pauschal als westliche Agenten bezeichnet wurden. Tatsächlich befanden sich darunter etliche Personen, die nur politischen Widerstand gegen die SED geleistet hatten. In vielen Fällen wurden hohe Haftstrafen verhängt, mindestens zehn Menschen wurden hingerichtet. Zugleich nutzte das MfS diese Aktionen erfolgreich als Vorlagen für ausgeklügelte Pressekampagnen.
Auch in späteren Jahren wurden Erfolge der Spionageabwehr popularisiert, nicht zuletzt um spionagebereite DDR-Bürger abzuschrecken. Schwerpunktaktionen der Hauptabteilung II in den 70er und 80er Jahren richteten sich u. a. gegen Transitspione sowie gegen die Anwerbung von Angehörigen bestimmter Personengruppen durch westliche Dienste (beispielsweise Militärangehörige, Reisekader). Erfolge erzielte die HV A im Rahmen der Gegenspionage in den 70er und 80er Jahren u. a. aufgrund ihrer Top-Quellen im BND (Gabriele Gast, Alfred Spuhler), BfV (Klaus Kuron) und MAD (Joachim Krase).
Seit den 70er Jahren intensivierte das MfS die Strategie der "vorbeugenden Verhinderung": Immer mehr Bürger wurden als potenziell spionageverdächtig observiert, immer mehr Berufsgruppen zu Geheimnisträgern erklärt, das Personal der Hauptabteilung II aufgestockt, auch die Kreisdienststellen setzten nun einen Mitarbeiter ausschließlich für Aufgaben der Linie II (Linienprinzip) ein.
Generell profitierte die Spionageabwehr von der geschlossenen Gesellschaft der DDR, der flächendeckenden Observierung der Bevölkerung, der Kooperation mit anderen sozialistischen Geheimdiensten sowie der Strategie, Verdächtige mitunter über einen sehr langen Zeitraum zu observieren. Post- und Telefonkontrolle und die Funküberwachung im In- und Ausland dienten in erheblichem Maße der Spionageabwehr.
Die überzogene Sicherheitsdoktrin führte dazu, dass das MfS in der ersten Hälfte der 70er Jahre dem Hirngespinst eines Hochstaplers aufsaß und 144 DDR-Bürger als angebliche "Agenten mit spezieller Auftragsstruktur" (AsA), quasi als Eliteagenten westlicher Dienste, einstufte und es auf dieser fiktiven Grundlage zu zahlreichen Verurteilungen kam.
Vagen Schätzungen zufolge spionierten zwischen 1949 und 1989 rund 10.000 Ost- und Westdeutsche für den BND in der DDR, viele von ihnen nur für kurze Zeit und nicht in Schlüsselpositionen. Etwa 4.000 Agenten bundesdeutscher Dienste sollen in dieser Zeit durch die Spionageabwehr der DDR erkannt und festgenommen worden sein.
Etwa 90 Prozent der "Innenquellen" des BND in der DDR (Agenten, die direkt in einem auszuspionierenden Objekt tätig waren) sollen in den 70er und 80er Jahren als Doppelagenten auch dem MfS gedient haben. Darunter waren offenbar viele, die "überworben" wurden, das heißt, das MfS hatte ihre BND-Anbindung erkannt, sie aber nicht verhaftet, sondern als IM angeworben und nun gegen den BND eingesetzt.
Sichere Angaben darüber, in welchem Umfang westliche Agenten in der DDR unerkannt geblieben sind, liegen nicht vor. Insofern kann noch keine abschließende Bilanz der Wirksamkeit der Spionageabwehr gezogen werden.
Zur Seite 1 wechseln
Zur Seite 2 wechseln
Zur Seite 3 wechseln
aktuelle Seite 4
Zur Seite 5 wechseln
Zur Seite 6 wechseln
Zur Seite 7 wechseln
Zur Seite 8 wechseln
Signatur: BArch, MfS, HA II, Nr. 23812, Bl. 1-8
Im August 1985 löste der westdeutsche Nachrichtendienstbeamte Hansjoachim Tiedge mit seinem Übertritt in die DDR einen der größten Geheimdienstskandale in der Geschichte der Bundesrepublik aus. Vor und unmittelbar nach Tiedges Flucht flogen mehrere DDR-Spioninnen und -Spione auf, die daraufhin aus der Bundesrepublik abgezogen wurden.
Am 19. August 1985 reiste Hansjoachim Tiedge über Helmstedt-Marienborn in die DDR. Zu dieser Zeit war Tiedge Gruppenleiter des Referates "Nachrichtendienste der DDR" beim Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV). Auf Grund seiner Funktion und seiner 19-jährigen Tätigkeit für das BfV besaß er umfassende Kenntnisse der westdeutschen Spionageabwehr gegen die DDR.
Bis zum 23. August gab es in der Bundesrepublik keine Hinweise auf Tiedges Aufenthaltsort. Erst als der ostdeutsche Nachrichtendienst ADN meldete, dass "Tiedge […] in die DDR übergetreten [ist] und […] um Asyl ersucht" hat, wusste die westdeutsche Seite Bescheid.
Die Stasi notierte zum Motiv des Überlaufens: "Ablehnung der kapitalistischen Gesellschaftsordnung". Tatsächlich flüchtete Tiedge vor persönlichen Problemen. Hohe Schulden und übermäßiger Alkoholkonsum sowie der Tod seiner Frau hatten den Beamten in familiäre und dienstliche Schwierigkeiten gebracht.
Die Stasi dokumentierte unter dem Decknamen Aktion "Bruch" die öffentliche Berichterstattung über die sogenannte "Sekretärinnenaffäre" in der Bundesrepublik. Die zumeist weiblichen DDR-Spioninnen arbeiteten in den Vorzimmern von Bundestagsabgeordneten und Ministerien. Für die Stasi waren sie wichtige Quellen. Bereits einige Tage vor Tiedges Überlaufen meldeten sich einige Agentinnen, wie Johanna Olbrich und Erika Reißmann, nicht mehr bei ihren westdeutschen Arbeitgebern. Ob es einen Zusammenhang zwischen ihrem Verschwinden und dem Überlaufen Tiedges gab, ist nicht belegt. Das vorliegende Dokument erweckt den Anschein. Die Stasi untertitelte die Aktion "Bruch" mit "Einschätzungen und Übersichten zur Lage nach dem Übertritt des ehemaligen leitenden Mitarbeiters der Abteilung IV Spionageabwehr im BfV Köln". Es folgt eine chronologische Auflistung von Ereignissen rund um die Spionagefälle von August bis Oktober 1985.
Der Freund des BfV-Mitarbeiters Liebedanz, 1937 geboren
Regierungsdirektor, Abt. II - Rechtsextremismus (in der AKG erfaßt), tritt in die DDR über. Gegen den BfV-Mitarbeiter wird Ermittlungsverfahren eingeleitet.
Bei dem Freund handelt es sich um Eberhard Severin, der angeblich aus der DDR stammt,unter falscher Identität in der BRD lebte und den L. zur Spionagetätigkeit anwerben wollte.
30.08.1985; Die Westpresse meldet, daß der Botschaftsrat, zuletzt Geschäftsträger an der Botschaft in Buenos Aires, der DDR-Bürger Martin Winkler, 44 Jahre alt, sich am 25.08.1985 in die BRD abgesetzt hat. Er soll sich beim BND in Pullach aufhalten.
31.08.1985; Seit Anfang August soll der sowjetische Diplomat in Rom, Witail Jurtschenko, der für das KfS tätig gewesen sein soll, verschwunden sein. Es wird eine Verbindung zum Spionageskandal in der BRD konstruiert.
Anfang Sept. 1985; Der Mainzer Arzt Rudolf Gisbert Alken wechselt mit seiner 13jährigen Tochter in die DDR über. Es wird ein Ermittlungsverfahren wegen "Spionage" eingeleitet.
01.09.1985; Die älteste Tochter des T. sendet 3 Briefe an
- die Regierung der DDR, Genossen Honecker
- Franz Josef Strauß
-Ständige Vertretung der BRD in der DDR mit dem Ziel, mit ihrem Vater in Kontakt zu kommen.
Strauß besucht Leipziger Herbstmesse, nach dem Gespräch mit Genossen Honecker sagt er auf Anfrage westlicher Journalisten, er halte nichts vom Geschrei um T.
[Markierung am Ende des Absatzes.]
Zimmermann soll laut MAD-Vizechef Krase seine Dienstaufsicht über den Verfassungsschutz stark vernachlässigt haben. Bereits im Juni 1985 fanden Gespräche zwischen dem damaligen BfV-Präsidenten Hellenbroich und dem Innenminister Zimmermann zu Schwachstellen in der Spionageabwehr des BfV statt. Hellenbroich machte den Leiter der Abt. IV Rombach dafür verantwortlich. über T. wurde nicht gesprochen.
Sitzung des Bundesinnenausschusses, auf der die Existenz des Briefes des T. bekannt gegeben wurde.
03.09.1985; Der neue Präsident des BND Wieck erhält seine Ernennungsurkunde.
Sondersitzung des Bundestages
Die SPD fordert eine Abstimmung über den Rücktritt des Bundesinnenministers Zimmermann. Abstimmungsergebnis: 275:214 gegen den Antrag der SPD. Der Fall T. wird in der Sache als noch nicht ausgestanden bezeichnet.
Abteilung IV (Diversion)
1959 hervorgegangen aus der Abt. III der Hauptverwaltung A (HV A); 1974-1978 nach Zusammenschluss mit der Arbeitsrichtung S der Arbeitsgruppe des Ministers (AGM) als Abteilung IV (Diversion/Sonderaufgaben) bezeichnet; 1978-1987 wieder selbständige Abteilung; 1987 größtenteils in der Abt. A XVIII der HV A aufgegangen.
Aufgaben: Infrastrukturspionage sowie Diversions- und Sabotagevorbereitung im Operationsgebiet, insbesondere in der Bundesrepublik Deutschland; u. a. durch Werbung und Führung von IM in der Bundesrepublik Deutschland und der DDR, deren Ausbildung und Einschleusung in das Bundesgebiet; die Beschaffung von Konspirativen Wohnungen (KW) und Deckadressen (IMK); Suche, Auswahl und Ausstattung von Depots für Material und von Unterkunfts- bzw. Unterschlupfobjekten sowie Aufklärung geeigneter Hubschrauberlandeplätze und Anlage von Objektvorgängen zu Personen und Einrichtungen.
Abteilung IV (Diversion)
1959 hervorgegangen aus der Abt. III der Hauptverwaltung A (HV A); 1974-1978 nach Zusammenschluss mit der Arbeitsrichtung S der Arbeitsgruppe des Ministers (AGM) als Abteilung IV (Diversion/Sonderaufgaben) bezeichnet; 1978-1987 wieder selbständige Abteilung; 1987 größtenteils in der Abt. A XVIII der HV A aufgegangen.
Aufgaben: Infrastrukturspionage sowie Diversions- und Sabotagevorbereitung im Operationsgebiet, insbesondere in der Bundesrepublik Deutschland; u. a. durch Werbung und Führung von IM in der Bundesrepublik Deutschland und der DDR, deren Ausbildung und Einschleusung in das Bundesgebiet; die Beschaffung von Konspirativen Wohnungen (KW) und Deckadressen (IMK); Suche, Auswahl und Ausstattung von Depots für Material und von Unterkunfts- bzw. Unterschlupfobjekten sowie Aufklärung geeigneter Hubschrauberlandeplätze und Anlage von Objektvorgängen zu Personen und Einrichtungen.
Linie II (Spionageabwehr)
Die Hauptabteilung II wurde 1953 durch Fusion der Abteilungen II (Spionage) und IV (Spionageabwehr) gebildet. Sie deckte mit der ihr nachgeordneten Linie II klassische Bereiche der Spionageabwehr ab. Dazu zählte auch die interne Abwehrarbeit im MfS, etwa die Überwachung aktiver und ehemaliger MfS-Mitarbeiter, von Einrichtungen der KGB-Dienststelle Berlin-Karlshorst sowie von Objekten der sowjetischen Streitkräfte und der Sektion Kriminalistik an der Ostberliner Humboldt-Universität. Darüber hinaus betrieb die Hauptabteilung II im Rahmen der "offensiven Spionageabwehr" aktive Spionage in der Bundesrepublik; diese zielte auf westliche Geheimdienste, auf Bundeswehr, Polizei, Massenmedien, Emigrantenverbände u. a.
Die Hauptabteilung II überwachte, sicherte und kontrollierte die DDR-Botschaften im Ausland, die ausländischen diplomatischen Vertretungen in der DDR sowie das Außenministerium der DDR. DDR-Bürger, die westliche Botschaften bzw. die Ständige Vertretung der Bundesrepublik in Ostberlin aufsuchten, wurden systematisch erfasst. In den Zuständigkeitsbereich der Hauptabteilung II fielen auch die Überwachung der in der DDR lebenden Ausländer sowie die Betreuung von Funktionären und Mitgliedern illegaler, verfolgter kommunistischer Parteien, die in der DDR Aufnahme fanden.
Besondere Brisanz beinhaltete die politisch-operative Sicherung der Westkontakte von SED und FDGB. So kümmerte sich die Hauptabteilung II um die Militärorganisation der DKP ("Gruppe Ralf Forster", eine ca. 220 Bundesbürger umfassende Sabotage- und Bürgerkriegstruppe), organisierte in Absprache mit der NVA deren militärische Ausbildung, finanzierte die Gruppe und stattete sie mit Falschpapieren aus.
Die Hauptabteilung II sicherte (bis 1961 und wieder ab 1980; zwischenzeitlich gab es hierfür die Abteilung BdL II) die Abteilung Verkehr des ZK der SED ab, die kommunistische Organisationen im Westen unterstützte und dort SED-Tarnfirmen betrieb. Die Hauptabteilung II versuchte, Aktivitäten bundesdeutscher Behörden gegen DKP, SEW und SED-Tarnfirmen festzustellen und zu verhindern.
Im Ergebnis der Entspannungspolitik nahmen Begegnungen zwischen Ost- und Westdeutschen zu, westliche Medienvertreter konnten sich in der DDR akkreditieren. Das veranlasste den beträchtlichen personellen Ausbau der Hauptabteilung II. Sie war nun auch zuständig für die Überwachung westlicher Journalisten in der DDR. Ziel war es, unerwünschten Informationsabfluss und unbequeme, kritische Berichterstattung zu verhindern. 1987 übertrug Erich Mielke in der Dienstanweisung 1/87 der Hauptabteilung II die Führung der Spionageabwehr, um ein unkoordiniertes Nebeneinander verschiedener Diensteinheiten zu vermeiden.
Die Hauptabteilung II leitete von Beginn an die Operativgruppen des MfS in der Sowjetunion und Polen, seit 1989 auch in der ČSSR, Ungarn und Bulgarien. Mit den entsprechenden Spionageabwehr-Abteilungen in diesen Ländern gab es eine ausgeprägte bi- und multilaterale Zusammenarbeit, die aber erst in den frühen 80er Jahren vertraglich fixiert wurde (kommunistischer Geheimdienst). Im Dezember 1981 übernahm die Hauptabteilung II innerhalb des MfS die Federführung bei der Bekämpfung der unabhängigen polnischen Gewerkschaft "Solidarność". Schließlich unterstützte die Hauptabteilung II Sicherheitsorgane in (pro)sozialistischen Entwicklungsländern, entsandte Berater und bildete deren Geheimdienstmitarbeiter in der DDR aus.
Die Hauptabteilung II verfügte über eigene Abteilungen für Fahndung, Logistik, operative Technik und Beobachtung und war in dieser Hinsicht nicht auf andere Abteilungen angewiesen. Zum unmittelbaren Anleitungsbereich des Leiters der Hauptabteilung II gehörte die Abteilung M (Postkontrolle).
1989 zählte die Hauptabteilung II in der Ostberliner Zentrale 1.432 hauptamtliche Mitarbeiter, in den Bezirksverwaltungen (BV) auf der Linie II weitere 934. Hinzu kamen Mitarbeiter in den Kreisdienststellen (KD), die die Aufgaben der Linie II ausführten. Genaue Zahlen der Inoffiziellen Mitarbeiter (IM) ließen sich bis heute nicht ermitteln. Die Hauptabteilung II hatte mindestens 3.000 IM, die Abteilungen II der BV etwa 4.000; hinzu kamen weitere IM der KD. 1976 führte die Hauptabteilung II im Westen 109 IM. Unter den West-IM befanden sich z. T. hochkarätige Agenten.
Straftaten gegen die staatliche Ordnung
Straftaten gegen die staatliche Ordnung waren Straftatbestände des 8. Kapitels des StGB/1968. Insbesondere der 2. Abschnitt ("Straftaten gegen die staatliche und öffentliche Ordnung") enthält politische Strafnormen, die für die strafrechtliche Untersuchungstätigkeit der Staatssicherheit (Untersuchungsorgan) von großer Bedeutung waren.
Das gilt vor allem für § 213 ("Ungesetzlicher Grenzübertritt"), der in der Honecker-Ära Grundlage von rund der Hälfte aller MfS-Ermittlungsverfahren war. Auch § 214 ("Beeinträchtigung staatlicher und gesellschaftlicher Tätigkeit") spielte, vor allem im Zusammenhang mit der Bekämpfung von Ausreiseantragstellern, in den 80er Jahren eine immer wichtigere Rolle.
Ähnliches gilt für § 219 ("Ungesetzliche Verbindungsaufnahme") und § 220 ("Öffentliche Herabwürdigung der staatlichen Ordnung"), die die ähnlichen, aber schwerer wiegenden Strafnormen aus dem 2. Kapitel des StGB/1968 § 100 ("Staatsfeindliche Verbindungen", ab 1979 "Landesverräterische Agententätigkeit") und § 106 ("Staatsfeindliche Hetze") weitgehend verdrängten (Staatsverbrechen).
Straftaten gegen die staatliche Ordnung
Straftaten gegen die staatliche Ordnung waren Straftatbestände des 8. Kapitels des StGB/1968. Insbesondere der 2. Abschnitt ("Straftaten gegen die staatliche und öffentliche Ordnung") enthält politische Strafnormen, die für die strafrechtliche Untersuchungstätigkeit der Staatssicherheit (Untersuchungsorgan) von großer Bedeutung waren.
Das gilt vor allem für § 213 ("Ungesetzlicher Grenzübertritt"), der in der Honecker-Ära Grundlage von rund der Hälfte aller MfS-Ermittlungsverfahren war. Auch § 214 ("Beeinträchtigung staatlicher und gesellschaftlicher Tätigkeit") spielte, vor allem im Zusammenhang mit der Bekämpfung von Ausreiseantragstellern, in den 80er Jahren eine immer wichtigere Rolle.
Ähnliches gilt für § 219 ("Ungesetzliche Verbindungsaufnahme") und § 220 ("Öffentliche Herabwürdigung der staatlichen Ordnung"), die die ähnlichen, aber schwerer wiegenden Strafnormen aus dem 2. Kapitel des StGB/1968 § 100 ("Staatsfeindliche Verbindungen", ab 1979 "Landesverräterische Agententätigkeit") und § 106 ("Staatsfeindliche Hetze") weitgehend verdrängten (Staatsverbrechen).
1978 wurden die AIG der Bezirksverwaltungen mit der Integration des Kontrollwesens in Auswertungs- und Kontrollgruppen umgewandelt. Analog zur ZAIG waren die AKG jetzt das Funktionalorgan der Leiter der BV mit den Aufgaben Auswertung und Information, Planung, Überprüfung und Kontrolle, Erarbeitung dienstlicher Bestimmungen und Weisungen sowie EDV. Darüber hinaus wurden die AKG auch für Öffentlichkeitsarbeit zuständig, die im Ministerium noch bis 1985 der Abteilung Agitation bzw. der Arbeitsgruppe Öffentliche Verbindungen zugeordnet war. 1979 wurden auch in den meisten selbständigen Abteilungen und Hauptabteilungen der MfS-Zentrale AKG gebildet. Die AKG unterstanden den Leitern der jeweiligen Diensteinheit, wurden aber fachlich von der ZAIG angeleitet.
Konspirative Ermittlungsmethode, bei der Personen und Gegenstände mit chemischen oder radioaktiven Substanzen gekennzeichnet wurden, um bestimmte Handlungen, Wege und Beziehungen nachvollziehen zu können. Die Markierungsmittel wurden vom Operativ-technischen Sektor des MfS hergestellt oder beschafft. Radioaktive Substanzen stammten aus dem Zentralinstitut für Kernforschung Rossendorf der Akademie der Wissenschaften. Beim Umgang mit ihnen wurden häufig selbst MfS-eigene Strahlenschutzbestimmungen umgangen. Nach bisherigen Erkenntnissen wurde diese Methode von den Abteilungen 26 und M, den Hauptabteilungen VIII, VI und II sowie der HV A angewandt.
Spionageabwehr beinhaltete nicht nur defensives Abwehren westlicher Spionage, sondern auch offensive Bekämpfung westlicher (zumeist bundesdeutscher) Sicherheitsbehörden auf dem Gebiet der Bundesrepublik. Das MfS fasste den Spionagebegriff sehr weit, so dass auch Angehörige oppositioneller Gruppen oder westliche Korrespondenten und Diplomaten regelmäßig im Visier der Spionageabwehr standen.
Das MfS unterschied drei Arten der Spionageabwehr. Die innere Spionageabwehr agierte innerhalb der DDR. Die äußere (auch: offensive) Spionageabwehr sollte bundesdeutsche Sicherheitsbehörden direkt bekämpfen, sich dabei aber auf deren Außenstellen und nachgeordnete Diensteinheiten konzentrieren. Die Gegenspionage hatte die Aufgabe, Spione in den Zentralen bundesdeutscher Sicherheitsbehörden zu platzieren, um die westliche Spionage gegen die DDR schon im Vorfeld zu paralysieren. In der Praxis waren die Grenzen zwischen äußerer Spionageabwehr, für die die Hauptabteilung II zuständig war, und der Gegenspionage, die Sache der Abt. IX der HV A war, fließend.
Die Spionageabwehr des MfS reagierte einerseits auf die tatsächliche Spionage gegen die DDR. Vor allem der BND und sein Vorgänger, die Organisation Gehlen, unterhielten in der DDR bis zum Mauerbau 1961 ein großes Agentennetz. In den Folgejahren brachen viele Kontakte westlicher Geheimdienste zu ihren Agenten in der DDR ab, auch enttarnte die Spionageabwehr viele von ihnen.
Der BND setzte daraufhin verstärkt Bundesbürger zur Informationsgewinnung ein, die als Besucher oder Transitreisende in der DDR unterwegs waren ("Reise- und Transitspione"). Seit den 70er Jahren versuchte der BND vor allem DDR-Bürger, die als Dienstreisende in den Westen kamen, als Agenten anzuwerben. Westliche Geheimdienste betrieben in der DDR schwerpunktmäßig Militärspionage.
Das MfS ging andererseits von der unzutreffenden Annahme aus, dass politisch widerständiges Verhalten von DDR-Bürgern zumeist von westlichen Geheimdiensten inspiriert würde (Diversion, politisch-ideologische), sodass die Bekämpfung politischer Gegner oft in den Bereich der Spionageabwehr fiel, ebenso wie die Überwachung westlicher Journalisten und Diplomaten. Aufgrund des weit gefassten Spionagebegriffs waren zahlreiche MfS-Abteilungen mit Spionageabwehr befasst, was zu Ineffizienz führte. Mielke wies deshalb 1987 der Hauptabteilung II die Federführung bei der Spionageabwehr zu.
1953 bis 1955 verhaftete das MfS in drei Großaktionen 1.200 Personen in der DDR und Westberlin, die pauschal als westliche Agenten bezeichnet wurden. Tatsächlich befanden sich darunter etliche Personen, die nur politischen Widerstand gegen die SED geleistet hatten. In vielen Fällen wurden hohe Haftstrafen verhängt, mindestens zehn Menschen wurden hingerichtet. Zugleich nutzte das MfS diese Aktionen erfolgreich als Vorlagen für ausgeklügelte Pressekampagnen.
Auch in späteren Jahren wurden Erfolge der Spionageabwehr popularisiert, nicht zuletzt um spionagebereite DDR-Bürger abzuschrecken. Schwerpunktaktionen der Hauptabteilung II in den 70er und 80er Jahren richteten sich u. a. gegen Transitspione sowie gegen die Anwerbung von Angehörigen bestimmter Personengruppen durch westliche Dienste (beispielsweise Militärangehörige, Reisekader). Erfolge erzielte die HV A im Rahmen der Gegenspionage in den 70er und 80er Jahren u. a. aufgrund ihrer Top-Quellen im BND (Gabriele Gast, Alfred Spuhler), BfV (Klaus Kuron) und MAD (Joachim Krase).
Seit den 70er Jahren intensivierte das MfS die Strategie der "vorbeugenden Verhinderung": Immer mehr Bürger wurden als potenziell spionageverdächtig observiert, immer mehr Berufsgruppen zu Geheimnisträgern erklärt, das Personal der Hauptabteilung II aufgestockt, auch die Kreisdienststellen setzten nun einen Mitarbeiter ausschließlich für Aufgaben der Linie II (Linienprinzip) ein.
Generell profitierte die Spionageabwehr von der geschlossenen Gesellschaft der DDR, der flächendeckenden Observierung der Bevölkerung, der Kooperation mit anderen sozialistischen Geheimdiensten sowie der Strategie, Verdächtige mitunter über einen sehr langen Zeitraum zu observieren. Post- und Telefonkontrolle und die Funküberwachung im In- und Ausland dienten in erheblichem Maße der Spionageabwehr.
Die überzogene Sicherheitsdoktrin führte dazu, dass das MfS in der ersten Hälfte der 70er Jahre dem Hirngespinst eines Hochstaplers aufsaß und 144 DDR-Bürger als angebliche "Agenten mit spezieller Auftragsstruktur" (AsA), quasi als Eliteagenten westlicher Dienste, einstufte und es auf dieser fiktiven Grundlage zu zahlreichen Verurteilungen kam.
Vagen Schätzungen zufolge spionierten zwischen 1949 und 1989 rund 10.000 Ost- und Westdeutsche für den BND in der DDR, viele von ihnen nur für kurze Zeit und nicht in Schlüsselpositionen. Etwa 4.000 Agenten bundesdeutscher Dienste sollen in dieser Zeit durch die Spionageabwehr der DDR erkannt und festgenommen worden sein.
Etwa 90 Prozent der "Innenquellen" des BND in der DDR (Agenten, die direkt in einem auszuspionierenden Objekt tätig waren) sollen in den 70er und 80er Jahren als Doppelagenten auch dem MfS gedient haben. Darunter waren offenbar viele, die "überworben" wurden, das heißt, das MfS hatte ihre BND-Anbindung erkannt, sie aber nicht verhaftet, sondern als IM angeworben und nun gegen den BND eingesetzt.
Sichere Angaben darüber, in welchem Umfang westliche Agenten in der DDR unerkannt geblieben sind, liegen nicht vor. Insofern kann noch keine abschließende Bilanz der Wirksamkeit der Spionageabwehr gezogen werden.
Erstes Stadium des Strafverfahrens, steht formal unter Leitung des Staatsanwaltes (§ 87 StPO/1968). Die eigentlichen Ermittlungen werden von den staatlichen Untersuchungsorganen (Polizei, MfS, Zoll) durchgeführt (§ 88 StPO/1968) und vom Staatsanwalt beaufsichtigt (§ 89 StPO/1968).
Tatsächlich waren für die Ermittlungen des MfS lediglich die zuvor vom MfS ausgewählten Staatsanwälte der Abteilungen IA zuständig, die gemäß MfS-internen Regelungen keine Einsicht in Unterlagen oder Ermittlungen, die nicht der StPO entsprachen, bekommen durften. Faktisch gab es daher eine doppelte Aktenführung in der zuständigen Linie IX: den internen Untersuchungsvorgang und die für Staatsanwaltschaft und Gericht bestimmte Gerichtsakte und somit keine wirksame staatsanwaltschaftliche Aufsicht über die MfS-Ermittlungen. Einleitung wie auch Einstellung des Ermittlungsverfahrens konnten selbständig von den Untersuchungsorganen verfügt werden (§§ 98, 141 StPO/1968).
Mit dem Ermittlungsverfahren verbunden waren Eingriffe in die persönliche Freiheit Beschuldigter durch die Untersuchungsorgane wie die Beschuldigten- und Zeugenvernehmung, die Durchsuchung, die Beschlagnahme, die Festnahme oder die Untersuchungshaft. In der Tätigkeit des MfS stellte das Ermittlungsverfahren einen besonders wirksamen Teil des repressiven Vorgehens gegen politische Gegner dar.
Das MfS hat als ein Instrument der DDR, insbesondere der SED-Führung, die politischen Interessen des Staates inoffiziell in der Bundesrepublik Deutschland unterstützt. Die Westarbeit des MfS bestand aus Spionageaktivitäten, also der nachrichtendienstlichen Beschaffung von Informationen, Patenten, Verfahren und Mustern durch das MfS.
Die Bezeichnungen Westarbeit und Spionage meinen in diesem Kontext das, was beim MfS mit "operative Arbeit im und nach dem Operationsgebiet" bezeichnet wird. Im engeren Sinne also die Arbeit mit Inoffiziellen Mitarbeitern im "Operationsgebiet", bei dem es sich überwiegend um die Bundesrepublik Deutschland und Westberlin handelte, aber auch die in der NATO und der Europäischen Gemeinschaft verbundenen Staaten einschloss.
Im weiteren Sinne fallen darunter auch die Funkaufklärung und der Einsatz von Offizieren im besonderen Einsatz in Botschaften, Konsulaten usw. Erfolgte diese operative Arbeit bis Anfang der 70er Jahre wesentlich "illegal", ergaben sich mit der zunehmenden Anerkennung der DDR auch verstärkt "legale" Zugänge über die Einrichtung von Botschaften, von denen aus das MfS mit "legal abgedeckten Residenturen" arbeiten konnte.
Für die Beschaffung von wissenschaftlich-technischen, politischen und militärischen Informationen war vor allem die Hauptverwaltung A zuständig, aber nahezu gleichrangig zahlreiche Abwehrdiensteinheiten des MfS. Die Hauptabteilung I, in der DDR für die Absicherung des Militärkomplexes verantwortlich, erkundete auch die Bundeswehr, den Bundesgrenzschutz, den Zollgrenzdienst, die Bayerische Grenzpolizei und diverse Einrichtungen der NATO.
Die Hauptabteilung II, mit der "offensiven Abwehr" ausländischer Nachrichtendienste in der DDR befasst, arbeitete zeitweise auch gegen den Bundesnachrichtendienst, das Bundesamt und die Landesämter für Verfassungsschutz sowie den Militärischen Abschirmdienst. Die Hauptabteilung VI überwachte neben dem Ein-, Ausreise- und Transitverkehr in der DDR auch den über innerdeutsche Grenzen hinaus von und nach Westberlin.
Die Hauptabteilung VII unterhielt im "Operationsgebiet" ebenfalls ein Netz, das im klassischen Sinne kriminelle Aktivitäten wie Schmuggel aufzuklären hatte. Die Hauptabteilung VIII war für Ermittlungen und Beobachtungen zuständig. Zugleich war sie Servicediensteinheit für alle Diensteinheiten des MfS, indem sie den Informationsbedarf über Bundesbürger bediente.
Neben der Sicherungsarbeit in den Bereichen Staatsapparat, Blockparteien und "politischer Untergrundtätigkeit" war die Hauptabteilung XX im "Operationsgebiet" für alle Einrichtungen zuständig, die sich mit der DDR befassten. Im Visier der Hauptabteilung XXII standen links- und rechtsextremistische, überwiegend terroristische Gruppen.
Schließlich wäre auf Hauptabteilungsebene noch die Zentrale Kontrollgruppe anzuführen, die sich mit besonders DDR-kritischen Gruppen befasste, wie z. B. der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte oder den Fluchthilfeorganisationen. Mit der Westarbeit waren nicht allein die zentralen Abwehrdiensteinheiten befasst, sondern ihre Linien (Linienprinzip) erstreckten sich meist auch auf Bezirks- und im Einzelfall auf Kreisverwaltungsebene des MfS.
In den Kontext der Westarbeit sind auch die etwa 400 Entführungen von Bürgern aus der Bundesrepublik Deutschland und Westberlin zu zählen sowie vereinzelte Versuche und Erwägungen, Bürger zu töten, wobei bislang ein Mord nicht nachgewiesen ist. Das MfS selbst verstand unter der "Arbeit im und nach dem Operationsgebiet" die "Gesamtheit der politisch-operativen Kräfte des MfS im Operationsgebiet und die Nutzung solcher Personen aus dem Operationsgebiet, die zur Erfüllung operativer Aufgaben geeignet sind".
Die HV A und ihre Abteilungen XV in den Bezirksverwaltungen arbeiteten nach Schwerpunkten im "Operationsgebiet", ihre innere Struktur drückte die entsprechende Interessenlage aus.
Demnach konzentrierte sich die Abt. I auf Politik und strategische Absichten der Bundesregierung, die Abt. II auf die Parteien, Gewerkschaften, Landsmannschaften im "Operationsgebiet", die Abt. III steuerte die operative Arbeit der "legal abgedeckten Residenturen" in DDR-Botschaften, Konsulaten und Handelseinrichtungen, und die Abt. IV beschäftigte sich mit den militärischen Zentren" in der Bundesrepublik Deutschland, wozu das Bundesministerium der Verteidigung, Wehrbezirkskommandos der Bundeswehr und diverse US-amerikanische Einrichtungen gehörten. Die Abt. IX befasste sich mit westlichen Nachrichtendiensten, die Abt. XI mit den USA und die Abt. XII mit der NATO.
Die Abteilungen XIII bis XV gehörten zum Sektor Wissenschaft und Technik, der systematisch Patente, Verfahren und Muster für die DDR- und osteuropäische Forschung und Wirtschaft beschaffte. Schwerpunkte waren die Fachgebiete Energie, Biologie, Chemie, Elektronik, Elektrotechnik und Maschinenbau sowie das Bemühen, die Embargopolitik zu unterlaufen. Für offizielle, mithin dienstliche Kontakte zwischen beispielsweise DDR- und bundesdeutschen Wissenschaftlern oder Politikern war eigens die Abt. XVI der HV A zuständig, die auf diesem Weg an relevante Informationen gelangen sollte.
Während all diese Abteilungen der HV A überwiegend informationsbeschaffend tätig waren, verfügte sie mit der Abt. X eigens über eine Struktureinheit, die systematisch aktive Maßnahmen in der Bundesrepublik zu entfalten suchte.
Zur Seite 1 wechseln
Zur Seite 2 wechseln
Zur Seite 3 wechseln
Zur Seite 4 wechseln
aktuelle Seite 5
Zur Seite 6 wechseln
Zur Seite 7 wechseln
Zur Seite 8 wechseln
Signatur: BArch, MfS, HA II, Nr. 23812, Bl. 1-8
Im August 1985 löste der westdeutsche Nachrichtendienstbeamte Hansjoachim Tiedge mit seinem Übertritt in die DDR einen der größten Geheimdienstskandale in der Geschichte der Bundesrepublik aus. Vor und unmittelbar nach Tiedges Flucht flogen mehrere DDR-Spioninnen und -Spione auf, die daraufhin aus der Bundesrepublik abgezogen wurden.
Am 19. August 1985 reiste Hansjoachim Tiedge über Helmstedt-Marienborn in die DDR. Zu dieser Zeit war Tiedge Gruppenleiter des Referates "Nachrichtendienste der DDR" beim Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV). Auf Grund seiner Funktion und seiner 19-jährigen Tätigkeit für das BfV besaß er umfassende Kenntnisse der westdeutschen Spionageabwehr gegen die DDR.
Bis zum 23. August gab es in der Bundesrepublik keine Hinweise auf Tiedges Aufenthaltsort. Erst als der ostdeutsche Nachrichtendienst ADN meldete, dass "Tiedge […] in die DDR übergetreten [ist] und […] um Asyl ersucht" hat, wusste die westdeutsche Seite Bescheid.
Die Stasi notierte zum Motiv des Überlaufens: "Ablehnung der kapitalistischen Gesellschaftsordnung". Tatsächlich flüchtete Tiedge vor persönlichen Problemen. Hohe Schulden und übermäßiger Alkoholkonsum sowie der Tod seiner Frau hatten den Beamten in familiäre und dienstliche Schwierigkeiten gebracht.
Die Stasi dokumentierte unter dem Decknamen Aktion "Bruch" die öffentliche Berichterstattung über die sogenannte "Sekretärinnenaffäre" in der Bundesrepublik. Die zumeist weiblichen DDR-Spioninnen arbeiteten in den Vorzimmern von Bundestagsabgeordneten und Ministerien. Für die Stasi waren sie wichtige Quellen. Bereits einige Tage vor Tiedges Überlaufen meldeten sich einige Agentinnen, wie Johanna Olbrich und Erika Reißmann, nicht mehr bei ihren westdeutschen Arbeitgebern. Ob es einen Zusammenhang zwischen ihrem Verschwinden und dem Überlaufen Tiedges gab, ist nicht belegt. Das vorliegende Dokument erweckt den Anschein. Die Stasi untertitelte die Aktion "Bruch" mit "Einschätzungen und Übersichten zur Lage nach dem Übertritt des ehemaligen leitenden Mitarbeiters der Abteilung IV Spionageabwehr im BfV Köln". Es folgt eine chronologische Auflistung von Ereignissen rund um die Spionagefälle von August bis Oktober 1985.
04.09.1985; Hellenbroich kündigt an, vor einem (bisher noch nicht einberufenen) parlamentarischen Untersuchungsausschuß bisher nicht bekannte Fakten auszusagen.
Auf Antrag der SPD tagt eine Sondersitzung des Verteidigungsausschusses zur Schadensbewertung im Fall Höke. Schaden ist noch nicht genau bestimmbar.
Sitzung der Parlamentarischen Kontrollkommission für die Geheimdienstezu der Verantwortlichkeit des Bundesinnenministers Zimmermann im Fall T. Entscheidung auf die nächste Sitzung am 25.09.1985 vertagt.
Die SPD-Landesregierung von Nordrhein-Westfalen verabschiedete eine Novelle zum Verfassungsschutzgesetz, daß die Wiederaufnahme von Datenüberprüfung in den Melderegistern der Einwohnermeldeämter gesetzlich gestattet.
05.09.1985; Laut Angaben des DDR-Rechtsanwaltes Vogel wurden seitens des T. versorgungsmäßige Maßnahmen für seine drei Töchter über ihn eingeleitet.
06.09.1985; Der PKW der Sonja Lüneburg wird in Köln aufgefunden. Es können keine Hinweise zum Aufenthaltsort der vermißten L. erarbeitet werden.
10.09.1985; T. schreibt einen Brief an seine Töchter, in dem er Verständnis für seine Handlung von ihnen erbittet.
13.09.1985; Der Botschaftsrat der Botschaft der UdSSR in London, Oleg Gordjewskij, ist zu den Briten übergetreten und hat Verrat begangen. Aus Großbritannien wurden 25 sowjetische Diplomaten ausgewiesen. Es wird die Version vertreten, G. ist Doppelagent und hat sich nach dem Übertritt des Tiedge in Sicherheit gebracht.
14.09.1985; Der 1963 verstorbene FDP-Politiker Döring soll angeblich nach Angaben des ehemaligen FDP-Vorsitzenden Mende von dem früheren Bonner Korrespondenten des ND Harri Czepuk vergiftet worden sein. D. war Verbindungsmann der FDP zum BND.
17.09.1985; In einem Eilbrief, der über eine Anwaltspraxis in der DDR dem ehemaligen Dienstvorgesetzten von Herta Astrid Willner zugeleitet wurde, teilt das Ehepaar Herbert und Herta Astrid Willner ihre Kündigung zum 16.09.85 und ihren Übertritt in die DDR mit. Zu dem Ehepaar lagen seit längerer Zeit mehrere Verdachtshinweise der "geheimdienstlichen Agententätigkeit" dem Verfassungsschutz vor.
Abteilung IV (Diversion)
1959 hervorgegangen aus der Abt. III der Hauptverwaltung A (HV A); 1974-1978 nach Zusammenschluss mit der Arbeitsrichtung S der Arbeitsgruppe des Ministers (AGM) als Abteilung IV (Diversion/Sonderaufgaben) bezeichnet; 1978-1987 wieder selbständige Abteilung; 1987 größtenteils in der Abt. A XVIII der HV A aufgegangen.
Aufgaben: Infrastrukturspionage sowie Diversions- und Sabotagevorbereitung im Operationsgebiet, insbesondere in der Bundesrepublik Deutschland; u. a. durch Werbung und Führung von IM in der Bundesrepublik Deutschland und der DDR, deren Ausbildung und Einschleusung in das Bundesgebiet; die Beschaffung von Konspirativen Wohnungen (KW) und Deckadressen (IMK); Suche, Auswahl und Ausstattung von Depots für Material und von Unterkunfts- bzw. Unterschlupfobjekten sowie Aufklärung geeigneter Hubschrauberlandeplätze und Anlage von Objektvorgängen zu Personen und Einrichtungen.
Abteilung IV (Diversion)
1959 hervorgegangen aus der Abt. III der Hauptverwaltung A (HV A); 1974-1978 nach Zusammenschluss mit der Arbeitsrichtung S der Arbeitsgruppe des Ministers (AGM) als Abteilung IV (Diversion/Sonderaufgaben) bezeichnet; 1978-1987 wieder selbständige Abteilung; 1987 größtenteils in der Abt. A XVIII der HV A aufgegangen.
Aufgaben: Infrastrukturspionage sowie Diversions- und Sabotagevorbereitung im Operationsgebiet, insbesondere in der Bundesrepublik Deutschland; u. a. durch Werbung und Führung von IM in der Bundesrepublik Deutschland und der DDR, deren Ausbildung und Einschleusung in das Bundesgebiet; die Beschaffung von Konspirativen Wohnungen (KW) und Deckadressen (IMK); Suche, Auswahl und Ausstattung von Depots für Material und von Unterkunfts- bzw. Unterschlupfobjekten sowie Aufklärung geeigneter Hubschrauberlandeplätze und Anlage von Objektvorgängen zu Personen und Einrichtungen.
Straftaten gegen die staatliche Ordnung
Straftaten gegen die staatliche Ordnung waren Straftatbestände des 8. Kapitels des StGB/1968. Insbesondere der 2. Abschnitt ("Straftaten gegen die staatliche und öffentliche Ordnung") enthält politische Strafnormen, die für die strafrechtliche Untersuchungstätigkeit der Staatssicherheit (Untersuchungsorgan) von großer Bedeutung waren.
Das gilt vor allem für § 213 ("Ungesetzlicher Grenzübertritt"), der in der Honecker-Ära Grundlage von rund der Hälfte aller MfS-Ermittlungsverfahren war. Auch § 214 ("Beeinträchtigung staatlicher und gesellschaftlicher Tätigkeit") spielte, vor allem im Zusammenhang mit der Bekämpfung von Ausreiseantragstellern, in den 80er Jahren eine immer wichtigere Rolle.
Ähnliches gilt für § 219 ("Ungesetzliche Verbindungsaufnahme") und § 220 ("Öffentliche Herabwürdigung der staatlichen Ordnung"), die die ähnlichen, aber schwerer wiegenden Strafnormen aus dem 2. Kapitel des StGB/1968 § 100 ("Staatsfeindliche Verbindungen", ab 1979 "Landesverräterische Agententätigkeit") und § 106 ("Staatsfeindliche Hetze") weitgehend verdrängten (Staatsverbrechen).
Straftaten gegen die staatliche Ordnung
Straftaten gegen die staatliche Ordnung waren Straftatbestände des 8. Kapitels des StGB/1968. Insbesondere der 2. Abschnitt ("Straftaten gegen die staatliche und öffentliche Ordnung") enthält politische Strafnormen, die für die strafrechtliche Untersuchungstätigkeit der Staatssicherheit (Untersuchungsorgan) von großer Bedeutung waren.
Das gilt vor allem für § 213 ("Ungesetzlicher Grenzübertritt"), der in der Honecker-Ära Grundlage von rund der Hälfte aller MfS-Ermittlungsverfahren war. Auch § 214 ("Beeinträchtigung staatlicher und gesellschaftlicher Tätigkeit") spielte, vor allem im Zusammenhang mit der Bekämpfung von Ausreiseantragstellern, in den 80er Jahren eine immer wichtigere Rolle.
Ähnliches gilt für § 219 ("Ungesetzliche Verbindungsaufnahme") und § 220 ("Öffentliche Herabwürdigung der staatlichen Ordnung"), die die ähnlichen, aber schwerer wiegenden Strafnormen aus dem 2. Kapitel des StGB/1968 § 100 ("Staatsfeindliche Verbindungen", ab 1979 "Landesverräterische Agententätigkeit") und § 106 ("Staatsfeindliche Hetze") weitgehend verdrängten (Staatsverbrechen).
Spionageabwehr beinhaltete nicht nur defensives Abwehren westlicher Spionage, sondern auch offensive Bekämpfung westlicher (zumeist bundesdeutscher) Sicherheitsbehörden auf dem Gebiet der Bundesrepublik. Das MfS fasste den Spionagebegriff sehr weit, so dass auch Angehörige oppositioneller Gruppen oder westliche Korrespondenten und Diplomaten regelmäßig im Visier der Spionageabwehr standen.
Das MfS unterschied drei Arten der Spionageabwehr. Die innere Spionageabwehr agierte innerhalb der DDR. Die äußere (auch: offensive) Spionageabwehr sollte bundesdeutsche Sicherheitsbehörden direkt bekämpfen, sich dabei aber auf deren Außenstellen und nachgeordnete Diensteinheiten konzentrieren. Die Gegenspionage hatte die Aufgabe, Spione in den Zentralen bundesdeutscher Sicherheitsbehörden zu platzieren, um die westliche Spionage gegen die DDR schon im Vorfeld zu paralysieren. In der Praxis waren die Grenzen zwischen äußerer Spionageabwehr, für die die Hauptabteilung II zuständig war, und der Gegenspionage, die Sache der Abt. IX der HV A war, fließend.
Die Spionageabwehr des MfS reagierte einerseits auf die tatsächliche Spionage gegen die DDR. Vor allem der BND und sein Vorgänger, die Organisation Gehlen, unterhielten in der DDR bis zum Mauerbau 1961 ein großes Agentennetz. In den Folgejahren brachen viele Kontakte westlicher Geheimdienste zu ihren Agenten in der DDR ab, auch enttarnte die Spionageabwehr viele von ihnen.
Der BND setzte daraufhin verstärkt Bundesbürger zur Informationsgewinnung ein, die als Besucher oder Transitreisende in der DDR unterwegs waren ("Reise- und Transitspione"). Seit den 70er Jahren versuchte der BND vor allem DDR-Bürger, die als Dienstreisende in den Westen kamen, als Agenten anzuwerben. Westliche Geheimdienste betrieben in der DDR schwerpunktmäßig Militärspionage.
Das MfS ging andererseits von der unzutreffenden Annahme aus, dass politisch widerständiges Verhalten von DDR-Bürgern zumeist von westlichen Geheimdiensten inspiriert würde (Diversion, politisch-ideologische), sodass die Bekämpfung politischer Gegner oft in den Bereich der Spionageabwehr fiel, ebenso wie die Überwachung westlicher Journalisten und Diplomaten. Aufgrund des weit gefassten Spionagebegriffs waren zahlreiche MfS-Abteilungen mit Spionageabwehr befasst, was zu Ineffizienz führte. Mielke wies deshalb 1987 der Hauptabteilung II die Federführung bei der Spionageabwehr zu.
1953 bis 1955 verhaftete das MfS in drei Großaktionen 1.200 Personen in der DDR und Westberlin, die pauschal als westliche Agenten bezeichnet wurden. Tatsächlich befanden sich darunter etliche Personen, die nur politischen Widerstand gegen die SED geleistet hatten. In vielen Fällen wurden hohe Haftstrafen verhängt, mindestens zehn Menschen wurden hingerichtet. Zugleich nutzte das MfS diese Aktionen erfolgreich als Vorlagen für ausgeklügelte Pressekampagnen.
Auch in späteren Jahren wurden Erfolge der Spionageabwehr popularisiert, nicht zuletzt um spionagebereite DDR-Bürger abzuschrecken. Schwerpunktaktionen der Hauptabteilung II in den 70er und 80er Jahren richteten sich u. a. gegen Transitspione sowie gegen die Anwerbung von Angehörigen bestimmter Personengruppen durch westliche Dienste (beispielsweise Militärangehörige, Reisekader). Erfolge erzielte die HV A im Rahmen der Gegenspionage in den 70er und 80er Jahren u. a. aufgrund ihrer Top-Quellen im BND (Gabriele Gast, Alfred Spuhler), BfV (Klaus Kuron) und MAD (Joachim Krase).
Seit den 70er Jahren intensivierte das MfS die Strategie der "vorbeugenden Verhinderung": Immer mehr Bürger wurden als potenziell spionageverdächtig observiert, immer mehr Berufsgruppen zu Geheimnisträgern erklärt, das Personal der Hauptabteilung II aufgestockt, auch die Kreisdienststellen setzten nun einen Mitarbeiter ausschließlich für Aufgaben der Linie II (Linienprinzip) ein.
Generell profitierte die Spionageabwehr von der geschlossenen Gesellschaft der DDR, der flächendeckenden Observierung der Bevölkerung, der Kooperation mit anderen sozialistischen Geheimdiensten sowie der Strategie, Verdächtige mitunter über einen sehr langen Zeitraum zu observieren. Post- und Telefonkontrolle und die Funküberwachung im In- und Ausland dienten in erheblichem Maße der Spionageabwehr.
Die überzogene Sicherheitsdoktrin führte dazu, dass das MfS in der ersten Hälfte der 70er Jahre dem Hirngespinst eines Hochstaplers aufsaß und 144 DDR-Bürger als angebliche "Agenten mit spezieller Auftragsstruktur" (AsA), quasi als Eliteagenten westlicher Dienste, einstufte und es auf dieser fiktiven Grundlage zu zahlreichen Verurteilungen kam.
Vagen Schätzungen zufolge spionierten zwischen 1949 und 1989 rund 10.000 Ost- und Westdeutsche für den BND in der DDR, viele von ihnen nur für kurze Zeit und nicht in Schlüsselpositionen. Etwa 4.000 Agenten bundesdeutscher Dienste sollen in dieser Zeit durch die Spionageabwehr der DDR erkannt und festgenommen worden sein.
Etwa 90 Prozent der "Innenquellen" des BND in der DDR (Agenten, die direkt in einem auszuspionierenden Objekt tätig waren) sollen in den 70er und 80er Jahren als Doppelagenten auch dem MfS gedient haben. Darunter waren offenbar viele, die "überworben" wurden, das heißt, das MfS hatte ihre BND-Anbindung erkannt, sie aber nicht verhaftet, sondern als IM angeworben und nun gegen den BND eingesetzt.
Sichere Angaben darüber, in welchem Umfang westliche Agenten in der DDR unerkannt geblieben sind, liegen nicht vor. Insofern kann noch keine abschließende Bilanz der Wirksamkeit der Spionageabwehr gezogen werden.
Zur Seite 1 wechseln
Zur Seite 2 wechseln
Zur Seite 3 wechseln
Zur Seite 4 wechseln
Zur Seite 5 wechseln
aktuelle Seite 6
Zur Seite 7 wechseln
Zur Seite 8 wechseln
Auskunft der HA II zu Hansjoachim Tiedge Dokument, 3 Seiten
Zur Situation der Sicherheitsdienste der Bundesrepublik nach Hansjoachim Tiedges Übertritt in die DDR Dokument, 2 Seiten
Erfassungsbogen der HA VII zu Hansjoachim Tiedge Dokument, 1 Seite
Pressemeldung zum Verschwinden Hansjoachim Tiedges Dokument, 1 Seite