Signatur: BStU, MfS, AU, Nr. 35/54, Bl. 72
Sowjetische Soldaten verhafteten den Schweißer Robert Dahlem als "Rädelsführer" des Volksaufstandes des 17. Juni 1953. Überraschenderweise wurde sein Haftbefehl wieder aufgehoben.
Im Norden der DDR war die Atmosphäre im Juni 1953 angespannt. Ursachen waren die miserable Wirtschaftslage, die katastrophale Versorgung mit Lebensmitteln, die Unzufriedenheit mit der Regierung, die Zwangskollektivierung in der Landwirtschaft und die Verfolgung des bürgerlichen Mittelstandes. Hinzu kamen die zunehmende Militarisierung der Gesellschaft und die Anwesenheit der Roten Armee. Allerdings entfaltete der Volksaufstand, wie auch in den anderen nördlichen Bezirken, im Bezirk Rostock nicht dieselbe Dynamik wie im Süden der DDR. Dennoch kam es auch hier zu Streiks, Demonstrationen und Aktionen gegen die herrschende Ordnung.
Der Betriebsleitung der Warnowwerft in Warnemünde war es am 17. Juni noch gelungen, Streiks und gewaltsame Aktionen zu verhindern. Am Morgen des 18. Juni hatte sich die Stimmung auf der Warnowwerft verschlechtert. Über den Nordwestdeutschen Rundfunk (NWDR) erfuhren die Werftarbeiter von den Ereignissen in Berlin, Halle und anderen Städten am 16./17. Juni. Sie hörten auch von den Verletzten und Toten und von den sowjetischen Panzern. Rasend schnell verbreiteten sich außerdem Nachrichten von Protesten im Dieselmotorenwerk und auf der Neptunwerft in Rostock. Der Unmut über die wirtschaftlichen Zustände und das brutale Vorgehen in Berlin und anderswo entlud sich zunächst in einer Protestversammlung der Belegschaft. Später formierte sich auch ein Protestzug.
Zu den Hauptrednern auf der Warnowwerft zählte der Schweißer Robert Dahlem. Er war Jahrgang 1922 und Sohn des KPD/SED-Spitzenfunktionärs Franz Dahlem, der als Rivale Walter Ulbrichts im Frühjahr 1953 in Ungnade gefallen war. Robert Dahlem war im Moskauer Exil der Stalin-Ära aufgewachsen und dadurch wohl auch geprägt worden. So entschied er sich nach 1945 gegen eine Karriere in der KPD/SED und arbeitete wieder in seinem Beruf. Hier, an der Basis, sah er, wie weit entfernt die Realität in der DDR von den Versprechungen und den Idealen der SED war.
Am Morgen des 18. Juni sorgte er entscheidend mit dafür, dass die Proteste auf der Warnowwerft weitergingen. In der Frühschicht scharte er rund 50 Elektro-Schweißer um sich und stellte mit ihnen einen Forderungskatalog zusammen. Später wählte man ihn in die Arbeiterkommission. Die von ihm eingebrachten Forderungen waren politischer Sprengstoff. Demnach sollten nicht nur auf der Werft und in allen anderen Industrie-Betrieben der DDR Arbeiterräte gebildet werden. Ebenso sollten sich auf dem Land Bauernräte in den Maschinen-Traktoren-Stationen und in den LPG bilden. Vertreter aller dieser Räte hätten dann auf einem Kongress eine wirkliche Arbeiter- und Bauernregierung zu wählen. Außerdem forderte Dahlem die Abschaffung der "Spitzeltätigkeit" durch die Staatssicherheit und den Abzug der sowjetischen Truppen von der Warnowwerft.
Am Morgen des 19. Juni wurde Robert Dahlem von sowjetischen Soldaten als sogenannter Rädelsführer verhaftet. Anfang Juli übergab ihn die Besatzungsmacht an die Stasi-Zentrale in Berlin. In den Verhören erklärte er mutig und offen, dass die Missstände auf der Werft und die gemachten Fehler der Regierung nicht durch Ablösung einzelner behoben werden könnten. Vielmehr müsste man eine Arbeiter- und Bauernregierung bilden, die von unten nach oben wähl- und kontrollierbar sei. Außerdem könnte man die "Speichelleckerei in der Verwaltung der Regierung und deren Institutionen" nicht beseitigen, wenn die Funktionäre nur von oben eingesetzt würden. Energisch verwahrte er sich gegen den Vorwurf faschistischer Tätigkeit, "weil meine ganze Vergangenheit gegen den Faschismus gerichtet war".
Am 15. Juli wurde der Haftbefehl überraschend aufgehoben. Vermutlich waren seine alten Kontakte in die Sowjetunion, die dortige Entstalinisierung und die persönliche Fürsprache seines Vaters bei Stasi-Minister Zaisser dafür ausschlaggebend. Es bestand angeblich kein ausreichender Haftgrund mehr. Aber erst ein halbes Jahr später, am 16. Januar 1954, stellte die Stasi auf persönliche Weisung des damaligen Generalleutnants Erich Mielke ihre Untersuchungen gegen Robert Dahlem ein. Der war jedoch inzwischen, noch im Herbst 1953, nach West-Berlin geflohen.
Hauptabteilung IX
Abteilung II/1
Berlin, den 16.01.54
Ro/Gr.
[handschriftliche Ergänzung: IX/170/54]
[Stempel: MfS 18. Jan. 1954
[handschriftliche Ergänzung: 308/54]
[Unterschrift]]
An die
Abteilung XII
im Hause
Betr.: U.-Vorgang 471/53 - Dahlem, Robert
Bezug: ohne.
Auf Anweisung des Genossen Generalleutnant Mielke wurde der im Betreff angeführte U.-Vorgang eingestellt, der Haftbefehl aufgehoben und der Häftling am 15.07.1953 aus der Haft - nach Rostock - entlassen.
Es wird gebeten, den U.-Vorgang zur Ablage zu bringen.
[Unterschrift]
(Richter)
Oberstleutnant
Hauptabteilung IX (Untersuchungsorgan)
Die Hauptabteilung IX war die für strafrechtliche Ermittlungen und Strafverfolgung zuständige Diensteinheit. Sie hatte wie die nachgeordneten Abteilung IX in den Bezirksverwaltung (BV) (Linie IX) die Befugnisse eines Untersuchungsorgans, d. h. einer kriminalpolizeilichen Ermittlungsbehörde. Ursprünglich vor allem für die sog. Staatsverbrechen zuständig, befasste sie sich in der Honecker-Ära überwiegend mit Straftaten gegen die staatliche Ordnung, vor allem mit Fällen "ungesetzlichen Grenzübertritts" und Delikten, die mit Ausreisebegehren zu tun hatten. Nach StPO der DDR standen auch die Ermittlungsverfahren der Linie IX unter Aufsicht der Staatsanwaltschaft, in der Praxis arbeitete das MfS hier jedoch weitgehend eigenständig.
Die Hauptabteilung IX und die Abteilungen IX der BV waren berechtigt, Ermittlungsverfahren einzuleiten sowie Festnahmen, Vernehmungen, Durchsuchungen, Beschlagnahmen und andere strafprozessuale Handlungen vorzunehmen sowie verpflichtet, diese Verfahren nach einer bestimmten Frist - meist durch die Übergabe an die Staatsanwaltschaft zur Anklageerhebung - zum Abschluss zu bringen (Untersuchungsvorgang). Daneben führte sie Vorermittlungen zur Feststellung von Ursachen und Verantwortlichen bei Großhavarien (industriellen Störfällen), Flugblättern widerständigen Inhalts, öffentlichen Protesten u. ä. (Vorkommnisuntersuchung, Sachverhaltsprüfung).
Die Hauptabteilung IX gehörte zeit ihres Bestehens zum Anleitungsbereich Mielkes, in den ersten Jahren in seiner Funktion als Staatssekretär und 1. stellv. Minister, ab 1957 als Minister. Ihre Leiter waren Alfred Karl Scholz (1950-1956), Kurt Richter (1956-1964), Walter Heinitz (1964-1973) und Rolf Fister (1973-1989).
1953 bestand die Hauptabteilung IX aus drei Abteilungen, die für Spionagefälle, Fälle politischer "Untergrundtätigkeit" und die Anleitung der Abt. IX der BV zuständig waren. Durch Ausgliederungen entstanden weitere Abteilungen, so u. a. für Wirtschaftsdelikte, Militärstraftaten, Delikte von MfS-Angehörigen und Fluchtfälle. Ende 1988 bestand die Hauptabteilung IX aus zehn Untersuchungsabteilungen sowie der Auswertungs- und Kontrollgruppe (AKG) und der AGL (Arbeitsgruppe des Ministers (AGM)) mit insgesamt 489 Mitarbeitern. Auf der Linie IX arbeiteten 1.225 hauptamtliche Mitarbeiter.
Die Linie IX wirkte eng mit den Abteilung XIV (Haft) und der Linie VIII (Beobachtung, Ermittlung), die für die Durchführung der Festnahmen zuständig waren, zusammen. Bei der juristischen Beurteilung von Operativen Vorgängen (OV) wurde die Hauptabteilung IX von den geheimdienstlich arbeitenden Diensteinheiten häufig einbezogen.
Abteilung zur Speicherung und Verwaltung von Informationen zu Personen und formgerecht geführten Vorgängen (Registratur und Archivaufgaben). 1950 als Abteilung Erfassung und Statistik gebildet, wurde sie 1951 in Abt. XII umbenannt und gehörte zu den auf der Linie des Ministers tätigen Diensteinheiten.
Abteilungen XII existierten in der Zentrale und dem Linienprinzip entsprechend in den BV. Die Kreisdienststellen (KD) archivierten ihre Ablagen nicht selbständig. Die HV A und die HA I besaßen jeweils eigene Registraturabteilungen, die karteimäßig mit der Zentrale verbunden waren. Die Abt. XII bestand aus den Bereichen Kartei und Archiv mit folgenden Hauptaufgaben: Kartei- bzw. Speicherführung und -änderung (Erfassung von Personen und Objekten; Registrierung von Vorgängen und archivierten Akten; Änderung von Personen- und / oder Erfassungsdaten), Archivierung, Überprüfung und Auskunftserteilung.
Die Grunddaten zu erfassten Personen und registrierten Vorgängen wurden in Karteien gespeichert. So war es möglich, jede Person zu überprüfen, zu identifizieren und ihr Verhältnis zum MfS festzustellen. Anfangs existierten für die Erfassung von Personen nur drei Kategorien: 1. "feindliche" Personen; 2. geheime Mitarbeiter (GM, GI, KW); 3. durch das MfS verhaftete Personen.
In den letzten 20 Jahren des MfS gab es im Bereich Kartei folgende wichtige Speicher: Personenkartei (F 16), Vorgangskartei (F 22, F 22 a), Feindobjektkartei (F 17), Decknamenkartei (F 77), Straßenkartei (F 78), Objektkartei für Konspirative Wohnungen und andere Objekte (F 80), IM-Vorauswahlkartei (IM-VAK). Außerdem gab es Neben- und Hilfskarteien. Allein in der Zentrale umfassten 1989 die 12 Hauptkarteien mehr als 18 Mio. Karteikarten.
Die Arbeiten in den Speichern und im Archiv erfolgten ausschließlich auf Anforderung der operativen Diensteinheiten. Diese konnten veranlassen, dass eine Person überprüft, erfasst bzw. ein Vorgang registriert (Registrierung) wurde. Um Mehrfachbearbeitungen zu vermeiden, durfte eine Person nur in einem registrierten Vorgang aktiv erfasst werden (Erfassung, aktive), umgekehrt konnten in einem Vorgang aber mehrere Personen registriert werden. Bei IM-Vorgängen wurde nur eine Person registriert, allerdings nicht bei der Hauptverwaltung A (HV A), wo neben dem IM auch Angehörige und mit dem IM in Verbindung stehende Personen im selben IM-Vorgang registriert werden konnten (Rosenholz).
Hauptaufgaben des Bereichs Archiv der Zentrale waren v. a.: Archivierung politisch- operativen Schriftgutes der Zentrale und speziellen Schriftgutes der BV; Archivierung von Schriftgut anderer staatlicher Institutionen; Erarbeitung und Speicherung von schriftlichen Auskünften; Ausleihe und Nachweisführung über Bewegung von Archivgut, Zuheftung, Kassation und Restaurierung.
Die Bestände teilten sich in die Operative Hauptablage, die Allgemeine Sachablage, den Bestand Kader und Schulung, den Bestand an Akten der Staatsanwaltschaft sowie diverse Sonderbestände und Teilablagen, darunter die Geheime Ablage sowie Akten der Verwaltung Aufklärung des Ministeriums für Nationale Verteidigung und Unterlagen aus der Zeit vor 1945, die aber bereits in den 60er Jahren in das gesonderte Archiv der HA IX/11 abgegeben wurden.
Zuletzt gab es Kategorien für ca. 30 verschiedene Erfassungsarten, die sämtlich separat geführt wurden, darunter: Untersuchungsvorgang, Operativer Vorgang, Operative Personenkontrolle, inoffizieller Mitarbeiter, Zelleninformator, Feindobjekt. Analog zur Registriernummer bei aktiven Vorgängen wurde für jede abzulegende Akte eine eigene Archivnummer vergeben.
Seit Beginn der 70er Jahre setzte das MfS zunehmend auf EDV, was in der Abteilung XII die Erfassung der zentralen Personenkartei F 16 in der elektronischen Datenbank System der automatischen Vorauswahl (SAVO) zur Folge hatte. Ab 1981 begann auch die Zentrale Auswertungs- und Informationsgruppe (ZAIG) mittels der Zentralen Personendatenbank (ZPDB) Einzelinformationen zu Personen und Sachverhalten elektronisch zu speichern. Trotzdem behielten manuell geführte Karteien und schriftliches Archiv bis zuletzt ihre grundlegende Bedeutung.
Der schriftliche richterliche Haftbefehl bildete die Grundlage für eine reguläre Verhaftung (§ 114 StPO/1949; § 142 StPO/1952; § 124 StPO/1968). Beschuldigte oder Angeklagte mussten unverzüglich, spätestens am Tage nach ihrer Ergreifung dem zuständigen Gericht vorgeführt werden (§§ 114 b, 128 StPO/1949; §§ 144, 153 StPO/1952; § 126 StPO/1968) – vor allem in den frühen 50er Jahren wurde diese Frist vom MfS teilweise überschritten und der Zeitpunkt der Festnahme entsprechend geändert. Auch wurden die Festgenommenen nicht bei Gericht vorgeführt, die vom MfS ausgewählten Haftrichter kamen zur Ausstellung des Haftbefehls in die Untersuchungshaftanstalten.
Rechtliche Voraussetzungen für den Erlass eines Haftbefehls waren ein dringender Tatverdacht und ein gesetzlich definierter Haftgrund, z. B. Fluchtverdacht oder Verdunklungsgefahr (§ 112 StPO/1949; § 141 StPO/1952; § 122 StPO/1968) sowie während des Ermittlungsverfahrens ein Antrag des Staatsanwaltes; im Hauptverfahren konnte das Gericht auch ohne Antrag einen Haftbefehl erlassen. Laut einer Richtlinie des Obersten Gerichts der DDR vom 17.10.1962 lag ein Haftgrund auch vor bei "Verbrechen im Auftrag feindlicher Agenturen, bei konterrevolutionären Verbrechen" und "bei anderen schweren Verbrechen".
Ein Untersuchungsvorgang war eine bei einem strafrechtlichen Ermittlungsverfahren des MfS und ggf. dem späteren Gerichtsverfahren entstandene Akte, die den Hergang des Strafverfahrens widerspiegelt und auch häufig Informationen zur Strafvollstreckung enthält.
Untersuchungsvorgänge zeigen die offizielle wie auch die inoffizielle Ebene des Verfahrens. Sie enthalten sowohl das strafprozessual legale Material (Haftbefehl, Vernehmungsprotokolle, Anklageschrift, Verhandlungsprotokoll, Urteil u. a.) als auch Dokumente geheimpolizeilichen Charakters, etwa zu konspirativen Ermittlungsmaßnahmen operativer Abteilungen oder Berichte von Zelleninformatoren.
Ein archivierter Untersuchungsvorgang kann bis zu sieben Bestandteile umfassen: Gerichtsakte, Beiakte zur Gerichtsakte, Handakte zur Gerichtsakte, Handakte zum Ermittlungsverfahren, Beiakte zur Handakte des Ermittlungsverfahrens, manchmal auch Vollstreckungsakten und ggf. die Akte des Revisions- oder Kassationsverfahrens.