Signatur: BArch, MfS, HA VII/3
Der westdeutsche Verfassungsschutzmitarbeiter Hansjoachim Tiedge sorgte 1985 mit seinem Übertritt in die DDR für einen Skandal. Seine Beweggründe waren weniger politisch, sondern privaten Problemen geschuldet.
Am 19. August 1985 reiste Hansjoachim Tiedge über Helmstedt-Marienborn in die DDR. Zu dieser Zeit war Tiedge Gruppenleiter des Referates "Nachrichtendienste der DDR" beim Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV). Auf Grund seiner Funktion und seiner 19-jährigen Tätigkeit für das BfV besaß er umfassende Kenntnisse der westdeutschen Spionageabwehr gegen die DDR.
Bis zum 23. August gab es in der Bundesrepublik keine Hinweise auf Tiedges Aufenthaltsort. Erst als der ostdeutsche Nachrichtendienst ADN meldete, dass "Tiedge […] in die DDR übergetreten [ist] und […] um Asyl ersucht" hat, wusste die westdeutsche Seite Bescheid.
Die Stasi notierte zum Motiv des Überlaufens: "Ablehnung der kapitalistischen Gesellschaftsordnung". Tatsächlich flüchtete Tiedge vor persönlichen Problemen. Hohe Schulden und übermäßiger Alkoholkonsum sowie der Tod seiner Frau hatten den Beamten in familiäre und dienstliche Schwierigkeiten gebracht.
[Erfassungsbogen der HA VII zu Hans Joachim Tiedge:
Teil I
Kennziffer gemäß Rahmenkatalog Abschnitt I/1; [Auslassung]; [handschriftlicher Eintrag: III/1]
[Auslassung]; [Auslassung]; [handschriftlicher Eintrag: III/1/48]
Ereigniszeit; [Auslassung]; [handschriftlicher Eintrag: III/1]
op. int. Zeitraum; [Auslassung];[handschriftlicher Eintrag: V/1.2.]
Rechtsnormen; [Auslassung]; [Auslassung]
weitere Deskriptoren; [Auslassung]; [handschriftlicher Eintrag: III/2/45+60+59]
[Auslassung]; [Auslassung]; [Auslassung]
[Auslassung]; [Auslassung]; [handschriftlicher Eintrag: III/3.2/32]
[Auslassung]; [Auslassung]; [Auslassung]
DOKNR/SI; [Auslassung]; [Auslassung]
Teil II
Ortsangaben - territorial - DDR; [Auslassung]; [Auslassung]
[Auslassung]; [Auslassung]; [Auslassung]
Ortsangaben - territorial - Ausland; [Auslassung]; [handschriftlicher Eintrag: I/2.4/16]
[Auslassung]; [Auslassung]; [Auslassung]
Objekte - DDR; [Auslassung]; [handschriftlicher Eintrag: I/2.1.1.-II/1.1.; III/3.2/50]
[Auslassung]; [Auslassung]; [Auslassung]
Objekte - Ausland; [Auslassung]; [Auslassung]
[Auslassung]; [Auslassung]; [Auslassung]
[Auslassung]; [Auslassung]; [Auslassung]
[Auslassung]; [Auslassung]; [Auslassung]
Teil III/1
Tiedge
Name
Hansjoachim
Vorname
24.06.1937 Berlin
geb. am/PKZ/in
BRD [handschriftliche Ergänzung/19.12.85 DDR]
Staatsangehörigkeit
5000 Köln 91
Wohnort
Kollwitzweg 7
Beamter/Jurist
Tätigkeit/Qualifikation
Bundesministerium des Innern
Arbeitsstelle
Zuzug; noch nicht in der DDR wohnhaft;
op. int. Personenmerkmale
[Auslassung]
[handschriftlicher Eintrag: 2015]
Ablage [handschriftlicher Eintrag: D]
[Auslassung]
DOKNR/PI
Erfassende DE
Teil IV
Erfassungsdatum; [Auslassung]; [Auslassung]; [Auslassung]
Erfassungsort; [Auslassung]; [Auslassung]; [Auslassung]
Reg.-Nr.; AV; Motiv: Ablehnung der kap. Gesellschaftsordn.
Bearbeitungsmaßnahmen; [Auslassung]
AV-Direkteinweisung; 17.10.85 nach 1156 Berlin, Franz-Jacob-Str. 12
Bearbeitungsergebnisse; [Auslassung]
Kategorisierung; [Auslassung]
Pol.-op. Schwerpunktbereiche/Schwerpunkte; [Auslassung]
Quelle [Auslassung]; Nutzung [Auslassung]
Verteiler [Auslassung]]
Hauptabteilung VII (Ministerium des Innern, Deutsche Volkspolizei)
Die Hauptabteilung VII und die ihr zugeordnete Linie VII waren für das Ministerium des Innern (MdI) und die ihm nachgeordneten Bereiche zuständig, d.h. für die Kriminalpolizei (insbesondere deren Arbeitsrichtung I/K I), die Schutz-, Verkehrs- und Bereitschaftspolizei, die Kampfgruppen, den Betriebsschutz, den Strafvollzug, das Pass- und Meldewesen, die Feuerwehr, das Deutsche Rote Kreuz, das Zentrale Aufnahmeheim in Röntgental, das Archivwesen, Geodäsie und Kartographie sowie die Politische Verwaltung des MdI, die medizinischen Einrichtungen der Volkspolizei und die Bereiche Innere Angelegenheiten der staatlichen Verwaltungen.
Zum Teil reichte der Verantwortungsbereich der Hauptabteilung bzw. Linie VII über das MdI hinaus, so etwa gegenüber der Zivilverteidigung, die seit 1977 dem MfNV unterstand. Andere nachgeordnete Bereiche des MdI wurden indes aus fachlichen Gründen von anderen Diensteinheiten der Staatssicherheit abgesichert, so etwa die Arbeitsrichtung Observation der Kriminalpolizei (I/U) (durch die Hauptabteilung VIII), das Wachkommando Missionsschutz (durch die HA II) oder die Transport- und Wasserschutzpolizei (durch die HA XIX).
Gegenüber den Kampfgruppen sowie den lokalen Abteilungen Innere Angelegenheiten teilte sich die Linie VII die Zuständigkeit mit anderen Diensteinheiten. Die Abteilung VII der Verwaltung Groß-Berlin war zeitweise auch für die "Bearbeitung" der Polizei von Westberlin zuständig.
Gleichwohl fungierte die Linie VII als Generalbevollmächtigter des Mielke-Imperiums gegenüber der Volkspolizei. Hatte sie in den 50er Jahren vor allem gegen auffällige Volkspolizisten ermittelt sowie vermutete Spionage aufgedeckt, durchleuchtete sie die Polizei in den späteren Jahren immer stärker prophylaktisch, knüpfte ein weites Netz von Zuträgern im dienstlichen wie im privaten Bereich der Volkspolizisten und beeinflusste auch zunehmend die fachlichen Entscheidungen auf Leitungsebene.
Verfügte die Abteilungen VII im MfS 1958 über 38 Mitarbeiter in drei Referaten, so wurde sie im Folgejahr zur HA aufgewertet und wuchs bis 1989 auf 319 hauptamtliche Geheimpolizisten in acht Abteilungen an. Hinzu kamen 510 Mitarbeiter in den Abteilungen VII der BV sowie 264 sogenannte Abwehroffiziere Volkspolizei, seit 1981 der verlängerte Arm der Linie VII in den KD.
Quelle war eine zentrale IM-Kategorie der Hauptverwaltung A. Als Quelle wurden im sogenannten Operationsgebiet tätige inoffizielle Mitarbeiter bezeichnet, die in der Lage waren, an geheime Informationen über Aktivitäten und Absichten sowie Ressourcen und interne Lagebedingungen gegnerischer Einrichtungen zu gelangen.
Es wurden zwei Typen von Quellen unterschieden:
Zuletzt besaß die HV A (einschließlich der ihr nachgeordneten Abteilungen XV der BV) in der Bundesrepublik und Westberlin 133 A-Quellen und 449 O-Quellen.
Spionageabwehr beinhaltete nicht nur defensives Abwehren westlicher Spionage, sondern auch offensive Bekämpfung westlicher (zumeist bundesdeutscher) Sicherheitsbehörden auf dem Gebiet der Bundesrepublik. Das MfS fasste den Spionagebegriff sehr weit, so dass auch Angehörige oppositioneller Gruppen oder westliche Korrespondenten und Diplomaten regelmäßig im Visier der Spionageabwehr standen.
Das MfS unterschied drei Arten der Spionageabwehr. Die innere Spionageabwehr agierte innerhalb der DDR. Die äußere (auch: offensive) Spionageabwehr sollte bundesdeutsche Sicherheitsbehörden direkt bekämpfen, sich dabei aber auf deren Außenstellen und nachgeordnete Diensteinheiten konzentrieren. Die Gegenspionage hatte die Aufgabe, Spione in den Zentralen bundesdeutscher Sicherheitsbehörden zu platzieren, um die westliche Spionage gegen die DDR schon im Vorfeld zu paralysieren. In der Praxis waren die Grenzen zwischen äußerer Spionageabwehr, für die die Hauptabteilung II zuständig war, und der Gegenspionage, die Sache der Abt. IX der HV A war, fließend.
Die Spionageabwehr des MfS reagierte einerseits auf die tatsächliche Spionage gegen die DDR. Vor allem der BND und sein Vorgänger, die Organisation Gehlen, unterhielten in der DDR bis zum Mauerbau 1961 ein großes Agentennetz. In den Folgejahren brachen viele Kontakte westlicher Geheimdienste zu ihren Agenten in der DDR ab, auch enttarnte die Spionageabwehr viele von ihnen.
Der BND setzte daraufhin verstärkt Bundesbürger zur Informationsgewinnung ein, die als Besucher oder Transitreisende in der DDR unterwegs waren ("Reise- und Transitspione"). Seit den 70er Jahren versuchte der BND vor allem DDR-Bürger, die als Dienstreisende in den Westen kamen, als Agenten anzuwerben. Westliche Geheimdienste betrieben in der DDR schwerpunktmäßig Militärspionage.
Das MfS ging andererseits von der unzutreffenden Annahme aus, dass politisch widerständiges Verhalten von DDR-Bürgern zumeist von westlichen Geheimdiensten inspiriert würde (Diversion, politisch-ideologische), sodass die Bekämpfung politischer Gegner oft in den Bereich der Spionageabwehr fiel, ebenso wie die Überwachung westlicher Journalisten und Diplomaten. Aufgrund des weit gefassten Spionagebegriffs waren zahlreiche MfS-Abteilungen mit Spionageabwehr befasst, was zu Ineffizienz führte. Mielke wies deshalb 1987 der Hauptabteilung II die Federführung bei der Spionageabwehr zu.
1953 bis 1955 verhaftete das MfS in drei Großaktionen 1.200 Personen in der DDR und Westberlin, die pauschal als westliche Agenten bezeichnet wurden. Tatsächlich befanden sich darunter etliche Personen, die nur politischen Widerstand gegen die SED geleistet hatten. In vielen Fällen wurden hohe Haftstrafen verhängt, mindestens zehn Menschen wurden hingerichtet. Zugleich nutzte das MfS diese Aktionen erfolgreich als Vorlagen für ausgeklügelte Pressekampagnen.
Auch in späteren Jahren wurden Erfolge der Spionageabwehr popularisiert, nicht zuletzt um spionagebereite DDR-Bürger abzuschrecken. Schwerpunktaktionen der Hauptabteilung II in den 70er und 80er Jahren richteten sich u. a. gegen Transitspione sowie gegen die Anwerbung von Angehörigen bestimmter Personengruppen durch westliche Dienste (beispielsweise Militärangehörige, Reisekader). Erfolge erzielte die HV A im Rahmen der Gegenspionage in den 70er und 80er Jahren u. a. aufgrund ihrer Top-Quellen im BND (Gabriele Gast, Alfred Spuhler), BfV (Klaus Kuron) und MAD (Joachim Krase).
Seit den 70er Jahren intensivierte das MfS die Strategie der "vorbeugenden Verhinderung": Immer mehr Bürger wurden als potenziell spionageverdächtig observiert, immer mehr Berufsgruppen zu Geheimnisträgern erklärt, das Personal der Hauptabteilung II aufgestockt, auch die Kreisdienststellen setzten nun einen Mitarbeiter ausschließlich für Aufgaben der Linie II (Linienprinzip) ein.
Generell profitierte die Spionageabwehr von der geschlossenen Gesellschaft der DDR, der flächendeckenden Observierung der Bevölkerung, der Kooperation mit anderen sozialistischen Geheimdiensten sowie der Strategie, Verdächtige mitunter über einen sehr langen Zeitraum zu observieren. Post- und Telefonkontrolle und die Funküberwachung im In- und Ausland dienten in erheblichem Maße der Spionageabwehr.
Die überzogene Sicherheitsdoktrin führte dazu, dass das MfS in der ersten Hälfte der 70er Jahre dem Hirngespinst eines Hochstaplers aufsaß und 144 DDR-Bürger als angebliche "Agenten mit spezieller Auftragsstruktur" (AsA), quasi als Eliteagenten westlicher Dienste, einstufte und es auf dieser fiktiven Grundlage zu zahlreichen Verurteilungen kam.
Vagen Schätzungen zufolge spionierten zwischen 1949 und 1989 rund 10.000 Ost- und Westdeutsche für den BND in der DDR, viele von ihnen nur für kurze Zeit und nicht in Schlüsselpositionen. Etwa 4.000 Agenten bundesdeutscher Dienste sollen in dieser Zeit durch die Spionageabwehr der DDR erkannt und festgenommen worden sein.
Etwa 90 Prozent der "Innenquellen" des BND in der DDR (Agenten, die direkt in einem auszuspionierenden Objekt tätig waren) sollen in den 70er und 80er Jahren als Doppelagenten auch dem MfS gedient haben. Darunter waren offenbar viele, die "überworben" wurden, das heißt, das MfS hatte ihre BND-Anbindung erkannt, sie aber nicht verhaftet, sondern als IM angeworben und nun gegen den BND eingesetzt.
Sichere Angaben darüber, in welchem Umfang westliche Agenten in der DDR unerkannt geblieben sind, liegen nicht vor. Insofern kann noch keine abschließende Bilanz der Wirksamkeit der Spionageabwehr gezogen werden.
Zur Situation der Sicherheitsdienste der Bundesrepublik nach Hansjoachim Tiedges Übertritt in die DDR Dokument, 2 Seiten
Auskunft der HA II zu Hansjoachim Tiedge Dokument, 3 Seiten
Pressemeldung zum Verschwinden Hansjoachim Tiedges Dokument, 1 Seite
Einschätzungen und Übersicht zur Lage nach dem Übertritt Tiedges Dokument, 8 Seiten