Erklärung der AG Staatsbürgerschaftsrecht anlässlich des Tages der Menschenrechte
Signatur: BStU, MfS, HA XX/9, Nr. 1652, Bl. 277-280
Im Vorfeld der "Kampfdemonstration" am 17. Januar 1988 anlässlich des 69. Jahrestages der Ermordung von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg richtete die AG Staatsbürgerschaftsrecht eine Erklärung an Innenminister Friedrich Dickel.
Am 17. Januar 1988 fand anlässlich des 69. Jahrestages der Ermordung von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg die alljährliche "Kampfdemonstration" in Ost-Berlin statt. An der Veranstaltung, an der traditionell die Partei- und Staatsführung teilnahm, beteiligten sich nach Angaben des Neuen Deutschland "über 200.000" Menschen.
Teilnehmen wollten auch über hundert Angehörige unabhängiger Menschenrechtsgruppen und Ausreisewillige. Ihre Transparente waren mit Luxemburg-Zitaten beschriftet wie "Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden" und "Wer sich nicht bewegt, spürt die Fesseln nicht". Bürgerrechtler forderten politischen Wandel in der DDR, Ausreisewillige, die ihren bislang erfolglosen Ausreiseantrag durchsetzen wollten, demonstrierten für das Recht auf Freizügigkeit.
Etliche Bürgerrechtsaktivistinnen und -aktivisten waren seit September 1987 in der Arbeitsgruppe "Staatsbürgerschaftsrecht der DDR" organisiert, die Rechtsberatungen für Ausreisewillige durchführte. Sie hatte am 10. Dezember 1987 mit einer Erklärung zum Tag der Menschenrechte auf sich aufmerksam gemacht, gerichtet an Innenminister Friedrich Dickel. Darin prangerte sie die Beschneidung der Menschenrechte in der DDR an. Erwin Grünberg, Günter Jeschonnek und Kai Wieckberg unterzeichneten für die AG Staatsbürgerschaftsrecht das Schreiben mit ihrem vollen Namen.
Metadaten
- Erklaerung -
Anlaesslich des Tages der Menschenrechte am 10.Dezember 1987 will die Arbeitsgruppe "Staatsbuergerschaftsrecht der DDR" auf Menschenrechtsverletzungen in der DDR aufmerksam machen.
Im Gegensatz zu offiziellen Erklaerungen von Repraesentanten der DDR-Regierung, wonach die Menschenrechte in ihrer Gesamtheit von zivilen, politischen, sozialen und kulturellen Rechten in der DDR ihre Verwirklichung finden, kommen wir zu dem Ergebnis, dass sowohl voelkerrechtlich verbriefte Menschenrechte als auch innerstaatliches Recht verletzt werden.
Im besonderen meinen wir die von den staatlichen Organen angewandte Rechtspraxis hinsichtlich der Entlassung aus der Staatsbuergerschaft der DDR, der Familienzusammenfuehrung und Eheschliessung, der Reisefreiheit von DDR-Buergern und Auslaendern, sowie der Strafgesetze der DDR.
1.
Obwohl die Verfassung der DDR (Artikel 19/4) eindeutig festlegt, dass die Bedingungen fuer den Erwerb und den Verlust der Staatsbuergerschaft der DDR durch Gesetz bestimmt werden, begruenden die staatlichen Organe fuer Innere Angelegenheiten ihre Bearbeitungsweise von Entlassungsantraegen aus der Staatsbuergerschaft der DDR entweder gar nicht oder mit nicht existentem innerstaatlichem Recht ("Dienststellenrecht, Sondergenehmigungen, Sondergesetze"). Dies geschieht unter Missachtung der Allgemeinen Erklaerung der Menschenrechte (Artikel 13/2, 15/2), der Internationalen Konvention ueber zivile und politische Rechte (Artikel 2, 5, 12, 169 18, 26), der Schlussakte von Helsinki und dem Abschliesenden Dokument des Madrider KSZE-Folgetreffens, der Verfassung der DDR (Artikel 4, 8, 19, 20/1, 89/3), sowie unter Missachtung des Staatsbuergerschaftsgesetzes der DDR (Paragraphen 2 und 10) und der dazugehoerigen Durchfuehrungsverordnung (Paragraphen 4/5 und 8/2).
Mit dieser Praxis verweisen die staatlichen Organe die gesetzlich berechtigten Antragsteller in einen gesetzlosen Raum und entziehen ihnen damit die legitime Rechtsfaehigkeit wie auch den garantierten Rechtsschutz. Ausserdem sprechen sie diesen Staatsbuergern das Recht zur Eingabe ab; erklaeren sich in diesen Angelegenheiten fuer allein zustaendig und verweigern jedem Antragsteller das Mitspracherecht.
Die Entscheidung in Staatsbuergerschaftsangelegenheiten wird zu einer allein staatsrechtlichen Angelegenheit erklaert, d.h., der Staatsbuerger muss sich als Eigentum des Staates verstehen. Vielfaeltige Diskriminierung und Menschenrechtsverletzungen gegenueber den Antragstellern sind die Folge:
- Antragsteller muessen in der Regel jahrelang auf die Entscheidung der staatlichen Organe warten, ohne jemals konkrete Anhaltspunkte ueber den Stand der Bearbeitung ihres Anliegens erfahren.
- Objektive Kriterien fuer die Entscheidungsfindung werden ihnen nicht mitgeteilt; auch das erfolgt ohne Benennung gesetzlicher Grundlagen.