Signatur: BStU, MfS, BV Suhl, Abt. XX, Nr. 486, Bl. 1
Ab den 1970er Jahren zog es unangepasste Jugendliche aus der gesamten DDR zum Wasunger Karneval. Das MfS interessierte sich für deren Personalien.
Der traditionsreiche Wasunger Karneval wurde Mitte der 1970er Jahre zu einem beliebten Reiseziel unangepasster Jugendlicher. Sie wollten dem grauen DDR-Alltag entfliehen und suchten in der thüringischen Provinz ein paar Tage voller Spaß, Alkohol und Abwechslung. Die selbsternannten "Kunden" wurden dabei durch die Stasi systematisch überwacht, wie aufgefundene Unterlagen, Fotografien und Filme dokumentieren.
Aus der gesamten DDR reisten Jugendliche in die thüringische Provinz. Ihre Ausrüstung bestand oft nur aus einigen Flaschen Bier und einer Decke. Wer die Kontrollpunkte der Transport- und Volkspolizei passieren konnte und es bis Wasungen schaffte, übernachtete dort, wo er konnte: in Schlafsälen, in Kellern, in Scheunen oder auf Dachböden. In der Besuchermenge bildeten die "Kunden" eine Gruppe, die sich deutlich von dem traditionellen Karnevalsumzug abhob. Statt Prinzenkostüm oder Narrenkappe trugen sie lange Haare, Bärte, Jeans und Parka.
Die unkontrollierte Ankunft von mehreren hundert unangepassten Jugendlichen forderte die "staatlichen Organe" der DDR heraus. Denn die "Kunden" folgten nicht dem Umzugstreiben oder lauschten den Büttenreden, sondern sie stürmten überfallartig die wenigen Kneipen der Kleinstadt.
Wenn die MfS-Bezirksverwaltung Suhl während des Wasunger Karnevals von 1977 die Personalien unangepasster Jugendlicher ermittelte, wurden entsprechend den Wohnorten die jeweiligen MfS-Bezirksverwaltungen informiert. Für die weitere "Bearbeitung" zuständig waren dann die Abteilungen XX der jeweiligen Bezirksverwaltung, verantwortlich unter anderem für die Überwachung der Jugend. Dazu wollte die Geheimpolizei in Erfahrung bringen, ob die identifizierten "negativ-dekadenten" Jugendlichen im Folgejahr erneut in die thüringische Provinz reisen wollten. Denn ihre erneute Teilnahme am Wasunger Karneval - womöglich zusammen mit weiteren Personen - sollte verhindert werden.
Ausnahme
Alle BV/Stellvertreter Operativ
Traditioneller Wasunger Karneval vom 2.-7.2.1978
In Auswertung der Sicherungsmaßnahmen zum Wasunger Karneval 1977 wurden ihrer Abteilung roem 20 die bei der Karnevalsveranstaltung festgestellten Personalien der identifizierten negativ-dekadenten Jugendlichen ihres Verantwortungsbereiches übersandt.
Da zum Karneval 1978 erneut eine Anreise negativ-dekadenter Jugendlicher beabsichtigt ist, bitte ich um Feststellung der Absichten, der 1977 in Wasungen festgestellten negativ dekadenten uvv [Anmerkung: "vv" ist das sogenannte "Irrungszeichen" bei Fernschreiben und zeigt eine Korrektur an] Jugendlicher und ihres Umgangskriesvv Umgangskreises sowie der Vorhaben anderer dekadenter Personen ihres Verantwortungsbereiches zum Wasunger Karneval 1978.
Plaene und Absichten negativ-dekadenter Jugendlicher zum Auftreten während des Wasunger Karneval 1978 und Vereinbarungen zum Treffen mit negativen gruppierungen aus anderen Bezirken, bitte ich fernschriftlich der Abteilung roem 20 der BV Suhl mitzuteilen.
Gleichzeitig bitte ich Sie um Einleitung von Maßnahmen, die eine Anreise solcher Personen aus ihrem Verantwortungsbereich weitgehend verhindern.
BV Suhl
Stellvertreter Operativ
Dr. Mangold / OSL
[Unterschrift]
Eine selbständige Abteilung ist eine Organisationsstruktur in der MfS-Zentrale, die durch den Minister oder einen seiner Stellvertreter direkt angeleitet und durch militärische Einzelleiter geführt wurde. Die weiter untergliederten Abteilungen prägten Linien aus (z. B. Abt. XIV; Linienprinzip) oder blieben auf die Zentrale beschränkt (z. B. Abt. X). Die eng umrissenen Zuständigkeiten mit operativer Verantwortung und Federführung orientierten sich an geheimdienstlichen Praktiken (Telefonüberwachung) oder Arbeitsfeldern (Bewaffnung, chemischer Dienst).
Im Zusammenhang mit der Verwaltungsreform der DDR vom Sommer 1952 wurden die fünf Länderverwaltungen für Staatssicherheit (LVfS) in 14 Bezirksverwaltungen umgebildet. Daneben bestanden die Verwaltung für Staatssicherheit Groß-Berlin und die Objektverwaltung "W" (Wismut) mit den Befugnissen einer BV. Letztere wurde 1982 als zusätzlicher Stellvertreterbereich "W" in die Struktur der BV Karl-Marx-Stadt eingegliedert.
Der Apparat der Zentrale des MfS Berlin und der der BV waren analog strukturiert und nach dem Linienprinzip organisiert. So waren die Hauptabteilung II in der Zentrale bzw. die Abteilungen II der BV für die Schwerpunkte der Spionageabwehr zuständig usw. Auf der Linie der Hauptverwaltung A waren die Abteilung XV der BV aktiv. Einige Zuständigkeiten behielt sich die Zentrale vor: so die Militärabwehr (Hauptabteilung I) und die internationalen Verbindungen (Abteilung X) oder die Arbeit des Büros für Besuchs- und Reiseangelegenheiten in Westberlin (Abteilung XVII). Für einige Aufgabenstellungen wurde die Bildung bezirklicher Struktureinheiten für unnötig erachtet. So gab es in den 60er und 70er Jahren für die Abteilung XXI und das Büro der Leitung II Referenten für Koordinierung (RfK) bzw. Offiziere BdL II. Für spezifische Aufgaben gab es territorial bedingte Diensteinheiten bei einigen BV, z. B. in Leipzig ein selbständiges Referat (sR) Messe, in Rostock die Abt. Hafen.
An der Spitze der BV standen der Leiter (Chef) und zwei Stellv. Operativ. Der Stellv. für Aufklärung fungierte zugleich als Leiter der Abt. XV. Die Schaffung des Stellvertreterbereichs Operative Technik im MfS Berlin im Jahre 1986 führte in den BV zur Bildung von Stellv. für Operative Technik/Sicherstellung.
Zuführungen und Zurückweisungen rund um den Wasunger Karneval 1989 Dokument, 1 Seite
Überwachungsvideo von "Kunden" auf dem Wasunger Karneval Video, 47 Minuten, 32 Sekunden
"Operative Information" der MfS-Kreisdienststelle in Oranienburg zum Wasunger Karneval Dokument, 1 Seite
Geheimer Bericht an die SED-Führung im Bezirk Suhl zum Wasunger Karneval 1978 Dokument, 3 Seiten