Signatur: BStU, MfS, BV Suhl, AKG, Nr. 274, Bl. 63
Am Abend des 4. Dezember 1989 zogen tausende Demonstranten vor die Tore des Stasi-Bezirksamts in Suhl. Was wenige Wochen vorher noch unmöglich schien, galt jetzt als machbar. Doch weder die Protestierenden noch die Stasi-Mitarbeiter konnten den Ausgang dieser Grenzüberschreitung abschätzen.
In den Tagen und Wochen vor dem 4. Dezember 1989 war der Alltag der Suhler Stasi-Mitarbeiter geprägt von Durchhalteparolen und dem Bekenntnis zur Richtigkeit des eigenen Handelns. Angesichts der wachsenden Demonstrationszüge wollten führende Offiziere die Loyalität ihrer rund 1.700 Mitarbeiter durch eingeschliffene Feindbilder erhalten. Am 10. Oktober – noch Tage bevor in Suhl die erste öffentliche Protestveranstaltung stattfand – klagte Abteilungsleiter Oberst Hans Höfer über eine "Hetze wie noch nie" und "Scharfmacher" aus den Reihen der Bürgerrechtsbewegung "Neues Forum". Höfer befahl seinen Mitarbeitern, der "Taktik der Partei" zu folgen.
Erst im November schlug die Suhler Stasi-Leitung neue Töne an. Mit der Maueröffnung am 9. November und dem Rücktritt von DDR-Regierung und SED-Politbüro waren die bisherigen Auftrag- und Befehlsgeber der Geheimpolizisten abgetreten. Am 27. November sprach Generalmajor Gerhard Lange, Chef des Stasi-Bezirksamtes Suhl, erstmals vor seinen leitenden Mitarbeitern von "Deformationen und Fehlentwicklungen" – ohne dabei die Rolle der Stasi zu erwähnen. Am 3. Dezember schließlich – einen Tag vor der Suhler Demonstration – wurde der ehemalige Minister für Staatssicherheit Erich Mielke aus der SED ausgeschlossen. Gleichzeitig wurde der langjährige 1. Sekretär der Suhler SED-Bezirksleitung, Hans Albrecht, wegen Untreue und Amtsmissbrauch angeklagt.
Für die Suhler Stasi-Mitarbeiter ereignete sich der Protestzug am 4. Dezember 1989 nicht unvorbereitet. Bereits Wochen zuvor hatte der noch amtierende Minister Erich Mielke angeordnet, Demonstranten den Zutritt zu Dienststellen und Objekten der Stasi unter allen Umständen zu verwehren.
Mielke und Lange ging es nicht nur darum, die über Jahrzehnte angehäuften Unterlagen zu zerstören. Vielmehr war beiden die außerordentliche Signalwirkung einer Betretung der Stasi-Dienstgebäude bewusst: Die Suhler Demonstranten forderten und erzwangen nichts weniger als den Zutritt zum bestgesichertsten und meistgefürchteten Ort ihres Bezirkes. Noch wenige Wochen zuvor schien es unvorstellbar, auch nur ein Foto vor den Toren der Suhler Stasi-"Burg" zu schießen, geschweige denn einen Fuß in die absolute Tabuzone des Unterdrückungsapparats zu setzen. Die Stasi-Offiziere hinter dem Eingangstor erlebten am Abend des 4. Dezember den endgültigen Verlust ihres zuvor unangetasteten Machtanspruchs.
In einem Fernschreiben von Mielkes Nachfolger Wolfgang Schwanitz, welches Lange noch am Vormittag des 4. Dezember erhielt, wurde dazu aufgefordert, das Eindringen "unberechtigter Personen" in Stasi-Liegenschaften "unbedingt zu verhindern": "Es sind alle zur Verfügung stehenden Mittel, Löscheinrichtungen und übergebene spezielle Mittel – außer gezielte Schusswaffenanwendung – zum Einsatz zu bringen."
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[Stempel:GVS; [unleserlich]; [Auslassung]; GFS-Nr.: [handschriftliche Ergänzung: 17]; Datum 04.12.[unleserlich]; Zeit [handschriftliche Ergänzung: 16:25]; Sig. [Unterschrift unleserlich]; Empf. verst. um: [Auslassung]; um: [Auslassung]]
alle leiter der kreis- und bezirksaemter fuer ns
am heutigen tag drang eine grosze menschenmenge gewaltsam in das ba erfurt ein. weitere objekte sind bedroht. die situation ist noch nicht bereinigt. aus diesem anlasz wird angewiesen, sofort alle moeglichen zusaetzlichen masznahmen einzuleiten, um die objektsicherung zu verstaerken und kurzfristig zusaetzliche sparrmasznahmen durchzusetzen. der zutritt unberechtigter personen ist [unterstrichen: unbedingt zu verhindern.] es sind alle zur verfuegung stehenden mittel, loescheinrichtungen und uebergebene spezielle mittel - auszer gezielte schuszwaffen anwendung - zum einsatz zu bringen. alle verfuegbaren kraefte sind auf diese situation einzustellen und entsprechend zu orientieren, um die vorgenannte aufgabe voll durchzusetzen. mit der volkspolizei sind weitere abstimmungen zum einsatz zusaetzlicher kraefte herbeizufuehren.
afns, leiter
schwanitz
generalleutnant
Entwurf eines Fernschreibens des Leiters des AfNS-Bezirksamtes Suhl Generalmajor Gerhard Lange Dokument, 5 Seiten
Aufzeichnungen eines Stasi-Offiziers der Dienststelle Hildburghausen über eine Beratung am 4. Dezember 1989 Dokument, 2 Seiten
Anordnung vom Leiter des Bezirksamts Suhl zur Vernichtung von Unterlagen Dokument, 5 Seiten
Fernschreiben von Schwanitz an die Leiter der Bezirks- und Kreisämter mit der Anweisung, das Eindringen von Demonstranten zu verhindern Dokument, 1 Seite