Signatur: BStU, MfS, AU, Nr. 4862/70, Bl. 71
Die Rolling-Stones-Anhängerin Evelies Gerhardt äußerte in einem Flugblatt ihren Unmut über Erwachsene ohne Verständnis für Aussehen und Musikgeschmack junger Beat-Fans. Was die Stasi aufhorchen ließ, war jedoch der enthaltene Aufruf zu einem Treffen am 7. Oktober 1969 in der Nähe des West-Berliner Springer-Hochhauses und der Staatsgrenze, wo die britische Band angeblich spielen sollte.
In den 60er Jahren trat der Beat seinen Siegeszug um die Welt an. Mit der Musik von Bands wie den Beatles oder den Rolling Stones entwickelten junge Leute neue Vorlieben und distanzierten sich von der Generation ihrer Eltern. Eine neue Lebensart entstand vor allem im Westen, aber verzögert, abgeschwächt und verzerrt auch hinter dem Eisernen Vorhang. Nach dem Beginn der zweiten Entstalinisierung 1961 unter Nikita Chruschtschow lockerte 1963 auch die SED für kurze Zeit einige Verbote und Bevormundungen gegenüber Jugendlichen. In der Folge formierten sich auch hier Beat-Bands und Gruppen, die als westlich geltende Musik spielten.
Nach dem Sturz Chruschtschows beendete die SED jedoch diese kurze Phase der Liberalisierung auf dem "Kahlschlagplenum" im Dezember 1965. Funktionäre von SED und FDJ beäugten die Jugendlichen, die sich an westlicher Musik orientierten, zunehmend argwöhnisch, weil sich hier junge Menschen abseits der staatlich kontrollierten Massenorganisationen zusammenfanden. Dieser westliche Einfluss auf die eigene Gesellschaft erschien auch der Stasi gefährlich. Sie vermutete den direkten Versuch westlicher "Feindzentralen", die Jugend für sich zu gewinnen und damit einen Nährboden für Untergrundtätigkeiten in der DDR zu legen.
Im September 1969 gab der auch im Osten bekannte Moderator Kai Blömer in der RIAS-II-Sendung "Treffpunkt" bekannt, die Rolling Stones würden am 7. Oktober 1969 ein Konzert auf dem Springer-Hochhaus geben. Dies war nur ein Scherz, wie Blömer noch in derselben Sendung klarstellte. Unter DDR-Jugendlichen verbreitete sich dennoch ungehindert das Gerücht, dass am 20. Jahrestag der Gründung der DDR in West-Berlin ein Konzert der britischen Rockband stattfinden würde. Junge Leute aus der ganzen DDR verabredeten sich daraufhin für diesen Tag in Ost-Berlin. Die Stasi befürchtete einen gegen das SED-Regime gerichteten Aufruhr der Jugendlichen und wollte eine Menschenansammlung unweit der Staatsgrenze um jeden Preis verhindern, zumal wegen des Feiertages viele Berlinerinnen und Berliner sowie Gäste zum Volksfest ins Stadtzentrum strömten.
Aus diesem Grund verhinderte die Geheimpolizei bereits im Vorfeld im Rahmen der Aktion "Stafette" beabsichtigte Reisen von "negativen Jugendlichen" nach Berlin. Neben der "Rückführung in Heimatorte" wurden Aufenthaltsbeschränkungen und Berlin-Verbote erteilt sowie sogenannte "Aussprachen" mit den jungen Stones-Fans geführt. Die Zugänge zur Leipziger Straße wurden durch Volkspolizei, Staatssicherheit und FDJ-Ordnungsgruppen hermetisch abgeriegelt. Trotzdem hatten sich dort am Nachmittag des angekündigten Konzerts etwa 2.000 Jugendliche versammelt, die ihre Idole sehen wollten. Bis in die Nacht kam es seitens der Staatsmacht zu "Maßnahmen gegen kleinere Gruppen negativer Jugendlicher". Es folgten zahlreiche Verhaftungen wegen "Rowdytums" und "Zusammenrottung".
Im vorliegenden mit "Hallo Fans" überschriebenen Flugblatt kritisieren die Verfasserinnen das Unverständnis der "Alten" gegenüber dem neuen Kleidungs- und Musikgeschmack vieler Jugendlicher. Es folgt ein Aufruf zu einem Treffen am 7. Oktober unweit des Axel-Springer-Hochhauses. Da im Text an keiner Stelle die Rede von einem Konzert der Rolling Stones ist, richtete sich der Appell höchstwahrscheinlich an bereits über das Gerücht informierte Jugendliche in Ost-Berlin. Eine der Autorinnen des Flugblatts, Evelies Gerhardt, wurde daraufhin wegen "Staatsverleumdung und versuchter Zusammenrottung" verhaftet.
Protest+Hallo+Fans+weitergeben+Protest+Hallo+Fans+weitergeben+Protest+Hallo+Fans
weitergeben!!!
Protest!!!
+Hallo+Fans+
Sagt bloß, Euch gefällt es hier!?!?!
Man kann sich ja nichts erlauben, schon hängt einem ein Bulle am Arsch!
Genauso sieht es aus, mit den Haaren. "Geh ja immer schön zum Friseur, am liebsten Topp! Und Du bist ein gemachter Mann!"
Lange Haare sind bei den "Alten" verpönt. Warum? Weil sie eben alt sind und uns nicht verstehen!
Sie sollen uns in Ruhe lassen, sie sollen uns leben lassen, wie es uns gefällt!!!
Am liebsten in Parker und Lewies. Praktisch, finden wir...aber die "Alten" sind dagegen. Fast alle.
-Man stinkt einem das an.-
Dieses ewige Gespött, Gelächter oder der erhobene Zeigefinger. Sie sollen uns unseren Weg gehen lassen.
Außerdem dieses ewige Getuhe. "Ja, wir machen alles für unsere soz. Jugend"
Kann man auslegen, wie man es will. Jedenfalls unsere Musik gefällt den Herrschaften nicht. Wie man es einschätzt haben sie für unsere Musik nicht viel übrig.
Sieht man ja auch an den "vielen" Beat-Bands und an den vielen Tanzmöglichkeiten!!!
Kinderchen, tanzen dürft Ihr, aber immer schön artig bleiben, nur nichts kaputt machen!
Kennt Ihr schon den neuen Tanz? Also, ein Schritt vor, ein großer Wirbel- und zwei Schritt zurück.
So sieht es man aus.-
Großer Wirbel um uns und nichts kommt dabei heraus.
Wir hoffen, daß wir einige Zustimmung gefunden haben!!! Treffpunkt, 7. Oktober!!! [Handschriftliche Ergänzung durchgestrichen: Milchbar]; [handschriftliche Ergänzung: Axel Cäsar Springer]
Wer will uns denn, wer kann uns; denn. [Unterstrichen: Keiner! Na, also!]
Eine selbständige Abteilung ist eine Organisationsstruktur in der MfS-Zentrale, die durch den Minister oder einen seiner Stellvertreter direkt angeleitet und durch militärische Einzelleiter geführt wurde. Die weiter untergliederten Abteilungen prägten Linien aus (z. B. Abt. XIV; Linienprinzip) oder blieben auf die Zentrale beschränkt (z. B. Abt. X). Die eng umrissenen Zuständigkeiten mit operativer Verantwortung und Federführung orientierten sich an geheimdienstlichen Praktiken (Telefonüberwachung) oder Arbeitsfeldern (Bewaffnung, chemischer Dienst).
Regime, auch Regimeverhältnisse, bezeichnet die Gesamtheit der Verhältnisse und Lebensbedingungen eines Landes oder geographischen Raumes (z. B. politische Entwicklungen, administrative Strukturen, kulturelle Besonderheiten, behördliche Sicherheitsvorkehrungen), deren Kenntnis für ein effektives und unauffälliges nachrichtendienstliches Handeln notwendig war. Mit diesen Kenntnissen sollten vor allem das IM-Netz im Westen und der grenzüberschreitende Agentenreiseverkehr geschützt werden.
So sollten IM im Westeinsatz wissen, wie die bundesdeutsche Spionageabwehr arbeitete, wie streng Meldeformalitäten in Hotels gehandhabt wurden, wie man sich als durchschnittlicher Bundesbürger verhielt usw. Die Abteilung VI der HV A hatte die Aufgabe, systematisch Informationen über das Regime im Operationsgebiet zu sammeln und in der SIRA-Teildatenbank 13 nachzuweisen.
Ein Untersuchungsvorgang war eine bei einem strafrechtlichen Ermittlungsverfahren des MfS und ggf. dem späteren Gerichtsverfahren entstandene Akte, die den Hergang des Strafverfahrens widerspiegelt und auch häufig Informationen zur Strafvollstreckung enthält.
Untersuchungsvorgänge zeigen die offizielle wie auch die inoffizielle Ebene des Verfahrens. Sie enthalten sowohl das strafprozessual legale Material (Haftbefehl, Vernehmungsprotokolle, Anklageschrift, Verhandlungsprotokoll, Urteil u. a.) als auch Dokumente geheimpolizeilichen Charakters, etwa zu konspirativen Ermittlungsmaßnahmen operativer Abteilungen oder Berichte von Zelleninformatoren.
Ein archivierter Untersuchungsvorgang kann bis zu sieben Bestandteile umfassen: Gerichtsakte, Beiakte zur Gerichtsakte, Handakte zur Gerichtsakte, Handakte zum Ermittlungsverfahren, Beiakte zur Handakte des Ermittlungsverfahrens, manchmal auch Vollstreckungsakten und ggf. die Akte des Revisions- oder Kassationsverfahrens.
Beginn einer freiheitsentziehenden Maßnahme, Ergreifung eines Beschuldigten oder Angeklagten aufgrund eines richterlichen Haftbefehls (§ 114 StPO/1949, § 142 StPO/1952, §§ 6 Abs. 3, 124 StPO/1968). Zu unterscheiden von der vorläufigen Festnahme und der Zuführung.
Bericht zu einer vermuteten Verteilung von Flugblättern Dokument, 1 Seite
Bericht über die Verhaftung zweier Jugendlicher wegen des Verteilens von Flugblättern Dokument, 5 Seiten
Auswertung eines IM-Berichts über ein Gerücht zu einem Rolling-Stones-Konzert Dokument, 2 Seiten
Information zu einem Konzert auf dem Axel-Springer-Hochhaus Dokument, 1 Seite