"Gesamtanalyse" der SED-Kreisleitung zum Volksaufstand in Gera
Signatur: BStU, MfS, SdM, Nr. 249, Bl. 56-59
Wie in vielen anderen Städten der DDR, kam es am 17. Juni 1953 auch in Gera zu Aufständen. Eine "Gesamtanalyse" der SED-Kreisleitung der Staatssicherheit gibt Aufschluss über die Entwicklung des Volksaufstands in Gera und das staatliche Vorgehen gegen die Streikenden.
Vom 16. bis 21. Juni 1953 kam es in fast 700 Städten und Gemeinden der DDR zu Demonstrationen und Streiks. Begann der 17. Juni noch als Arbeiteraufstand, entwickelte er sich schnell zum Volksaufstand weiter. Er nahm vielerorts revolutionäre Züge an, bevor er mit Hilfe von russischen Panzern unterdrückt wurde. SED und Stasi bezeichneten die Vorkommnisse offiziell als einen vom westlichen Ausland gesteuerten "Putschversuch faschistischer Agenten und Provokateure".
Tatsächlich war der 17. Juni 1953 Ausdruck der Unzufriedenheit weiter Teile der DDR-Bevölkerung. Zunächst entzündeten sich die Proteste an sozialen Fragen. Die Menschen stellten Forderungen, die ihren Arbeits- und Lebensalltag betrafen, wie "Senkung der Arbeitsnormen und der HO-Preise". Bald forderten die Demonstranten im ganzen Land jedoch den Rücktritt der Regierung, freie Wahlen, Pressefreiheit, die Freilassung aller politischen Gefangenen und schließlich auch die deutsche Wiedervereinigung.
Die wichtigsten Zentren des Volksaufstandes in Thüringen lagen im Bezirk Gera, im Osten der Region. Ein wichtiger Grund dafür war der Uran-Bergbau in dieser Gegend. Östlich von Gera lag ein wichtiges Abbaugebiet der SAG Wismut, einer sowjetisch kontrollierten Gesellschaft und dem weltweit größten Bergbaubetrieb in diesem Bereich. Wie in den anderen über das gesamte Erzgebirge verteilten Revieren der Wismut, schürften hier tausende Kumpel Uranerz in großem Stil für die Sowjetunion. Das taten sie unter zum Teil schwierigen Arbeitsbedingungen, unter hohem Leistungsstress und geringer Rücksicht der Betriebsleitung auf die Gesundheit der Kumpel. Entsprechend unzufrieden waren viele Wismut-Angehörige mit ihrer Lage.
Die SED-Kreisleitung der Bezirksverwaltung Gera sandte an die Bezirksleitung in Berlin die vorliegende "Gesamtanalyse" zu den Vorfällen vom 17. Juni 1953. Darin wird deutlich, dass die von der SED eigens eingesetzten "Agitationsgruppen" die Streikhandlungen in den Betrieben nicht mehr aufhalten konnten.
Metadaten
- Diensteinheit:
- Bezirksverwaltung Gera, SED-Kreisleitung
- Datum:
- 24.6.1953
- Rechte:
- BStU
- Überlieferungsform:
- Dokument
Folgende Industriezweige wurden erfasst:
3 Betriebe des Schwermaschinenbaus
7 Betriebe der Leichtindustrie
1 Bau-Betrieb (Bauunion Jena)
1 RAW
Teilweise Wismut-Objekte
Bei Beginn dieser Streikbewegung setzte die Partei sofort Agitationsgruppen in diesen Betrieben ein. Diese erwiesen sich jedoch als zu schwach, was sich darin zeigte, daß sie die Argumente der feindlichen Elemente nicht bzw. nur teilweise widerlegen, konnten.
Die Agitationseinsätze erwiesen sich als wirkungslos, so daß die Arbeiter zur Demonstration auf die Straße gingen. Während der Demonstration und der dabei hervorgerufenen Provokationen agitierte ein Teil der Gruppen weiter, wurde jedoch durch die grosse Ausdehnung der Demonstration immer machtloser. Die Partei verlor die Übersicht und es kam dadurch nicht zur Einleitung von geschlossenen Aktionen, so daß dadurch die gesamte Kampfkraft der Partei gelähmt war.
Die Haltung der Betriebsparteiorganisationen war so, daß sie politisch nicht stark genug waren und das Vertrauen der Arbeiter zum Teil nicht besassen. Ihre Argumente, die sie den feindlichen Elementen entgegenhielten, trugen nicht dazu bei, die Streikbewegung schon im Keim zu ersticken.
Es zeigte sich in der Praxis, daß dort, wo eine starke BPObestand, die das Vertrauen der Arbeiter besaß, keine Arbeitsniederlegungen vorgekommen sind. Als Beispiel gelten hierfür die Großbetriebe "Maxhütte und "Wilhelm-Pieck-Werk Schwarza" sowie das Dolomitenwerk Wünschendorf.
Die Mitglieder der Partei in den streikenden Betrieben nahmen zu Anfang dieser Bewegung eine schwankende Haltung ein. Nach Ausweitung der Streikbewegung ging ein Teil zu dieser über. Aus Berichten ist zu entnehmen, daß ein Teil der Mitglieder ihre Parteiabzeichen entfernten, einzelne sogar das Parteidokument zurückgaben.
Die Kreisleitung der Partei reagierte auf die Streikbewegung mit Agitationsgruppen. Da sie jedoch nicht rechtzeitig über die "Vorkommnisse in den Betrieben informiert waren, wurden sie von der plötzlichen Ausweitung der Streikbewegung erdrückt und es zeigte sich, daß die Kreisleitung mit den Massen bzw. mit den Betriebsparteiorganisationen nicht fest verbunden war.
Nachdem die Massen auf den Strassen waren und die Provokateure wüteten, war man auf die Sicherheit der Gebäude der Partei bedacht und nicht mehr in der Lage, eine feste Kampffront gegen die Streikenden in Bewegung zu bringen.
Die Bezirksleitung der Partei reagierte ebenfalls mit Agitationsgruppen auf die ersten Anzeichen der Streikbewegung. Bei der schnellen Ausweitung dieser Bewegung stellte sich heraus, daß für sie die Übersicht immer schwieriger wurde und sie nicht in jedem Falle die richtigen Maßnahmen treffen konnten. Erschwert wurde die Arbeit des Sekretariats der Bezirksleitung der Partei dadurch, daß der 1. Sekretär an diesem Morgen in Berlin beim ZK weilte. Die übrigen Sekretäre waren in ihren Entscheidungen zaghaft und zum Teil ohne Entschlußkraft. Die "Verbindung zu den Massen war ebenfalls nicht da, so daß sich die Sekretäre in den grösseren Betrieben der Bezirkshauptstadt noch nicht haben sehen lassen.
Die staatlichen Organe, die, sobald der staatsfeindliche Charakter erkennbar wurde, zum Einsatz kamen, wurden in jedem Falle ihren Aufgaben gerecht.