Haftbefehl des Amtsgerichts Frankfurt (Oder) gegen einen Teilnehmer der Proteste in Fürstenberg
Signatur: BStU, MfS, BV Frankfurt, AU, Nr. 98/53, Bd. 2, Bl. 5
Auch in der sozialistischen Musterstadt "Stalinstadt" im Bezirk Frankfurt (Oder) kam es am 17. Juni 1953 zu Streiks und Demonstrationen. Nachdem Demonstranten die SED-Kreisleitung im nahegelegenen Fürstenberg erstürmt und demoliert hatten, verhafteten Volkspolizei und Staatssicherheit 95 Personen.
Vom 16. bis 21. Juni 1953 kam es in fast 700 Städten und Gemeinden der DDR zu Demonstrationen und Streiks. Begann der 17. Juni noch als Arbeiteraufstand, entwickelte er sich schnell zum Volksaufstand weiter. Er nahm vielerorts revolutionäre Züge an, bevor er mit Hilfe von russischen Panzern unterdrückt wurde. SED und Stasi bezeichneten die Vorkommnisse offiziell als einen vom westlichen Ausland gesteuerten "Putschversuch faschistischer Agenten und Provokateure".
Im brandenburgischen Bezirk Frankfurt (Oder) gingen die ersten Streiks von Bauarbeitern aus, die zwar in Berlin wohnten, aber in den Randgebieten Berlins arbeiteten. Hauptanliegen der Streiks im Bezirk war der Sturz der Regierung. Eisenhüttenstadt, das vor 1961 noch "Stalinstadt" hieß, war eine auf dem Reißbrett entworfenen Retortenstadt. Sie war ab 1950 bei Fürstenberg auf freiem Gelände als Wohnsiedlung für die Arbeitskräfte des neuen Hüttenwerkes an der Oder gebaut worden.
Am 17. Juni begannen bei Schichtwechsel um 14:00 Uhr die ersten Bauarbeiter in Stalinstadt mit Streiks. Sie marschierten über den riesigen Bauplatz und forderten ihre Kollegen auf teilzunehmen. Von der Stalinstadt marschierten einige tausend Demonstranten ins nahe gelegene Fürstenberg, das heute Teil von Eisenhüttenstadt ist. Hier zogen sie zur SED-Kreisleitung. Sie forderten die dortigen Funktionäre auf, mit ihnen zu sprechen. Diese lehnten jedoch jeden Dialog mit den Streikenden ab. Daraufhin erstürmten die Demonstranten die Kreisleitung und demolierten sie. Auch die Kreisregistrierabteilung der Kasernierten Volkspolizei wurde zerstört und deren Leiter niedergeschlagen.
Nach den Aktionen in Fürstenberg verhafteten Polizei und Staatssicherheit 95 Personen, von denen nur 19 Personen älter als 24 Jahre waren. Das Bezirksgericht erhob Anklage. Der 18-jährige Werner Unger erhielt acht Jahre Zuchthaus, die anderen Mitangeklagten Haftstrafen von ein bis drei Jahren. In dem vorliegenden Haftbefehl wird einer der Arbeiter für seine Teilnahme am Streik und der Äußerung "Nieder mit Pieck und Konsorten" der "Boykotthetze" beschuldigt.
Metadaten
- Diensteinheit:
- Amtsgericht Frankfurt/Oder, Kreisgerichtsdirektor
- Datum:
- 18.6.1953
- Rechte:
- BStU
- Überlieferungsform:
- Dokument
Das Amtsgericht
Frankfurt/Oder, den 18. Juni 1953
Fernsprecher: [Auslassung]
Geschäftsnummer:
[Auslassung]
(Bei Eingaben stets anzuführen.
Haftbefehl
Der Arbeiter [anonymisiert]
geb. am [anonymisiert] in Bitterfeld
wohnhaft Fürstenberg-Oder, [anonymisiert]
ist in Untersuchungshaft zu bringen.
Er wird beschuldigt, Boykotthetze gegen demokratische Einrichtungen und Organisationen betrieben zu haben, indem er in einer Zusammenrottung in Fürstenberg teilnahm und mehrmals mit den anderen schrie: "Nieder mit Pieck und Konsorten " .
- Verbrechen gemäss Artikel 6 der Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik -
Er ist dieser Straftat dringend verdächtig und da mehr als 2 Jahre Freiheitsentzug angedroht sind,ist der Erlass des Haftbefehls nach der StPO begründet.
Gegen diesen Haftbefehl ist das Rechtsmittel der Beschwerde zulässig.
[Stempel: Frankfurt-Oder (Stadt)]
[Unterschrift]
( Reichelt )
Kreisgerichtsdirektor