Signatur: BStU, MfS, AU, Nr. 35/54, Bl. 4-5
Der Schweißer Robert Dahlem war entscheidend an den Protesten auf der Warnowerft am 18. Juni 1953 beteiligt. Schon einen Tag später wurde er durch sowjetische Soldaten verhaftet.
Im Norden der DDR war die Atmosphäre im Juni 1953 angespannt. Ursachen waren die miserable Wirtschaftslage, die katastrophale Versorgung mit Lebensmitteln, die Unzufriedenheit mit der Regierung, die Zwangskollektivierung in der Landwirtschaft und die Verfolgung des bürgerlichen Mittelstandes. Hinzu kamen die zunehmende Militarisierung der Gesellschaft und die Anwesenheit der Roten Armee. Allerdings entfaltete der Volksaufstand, wie auch in den anderen nördlichen Bezirken, im Bezirk Rostock nicht dieselbe Dynamik wie im Süden der DDR. Dennoch kam es auch hier zu Streiks, Demonstrationen und Aktionen gegen die herrschende Ordnung.
Der Betriebsleitung der Warnowwerft in Warnemünde war es am 17. Juni noch gelungen, Streiks und gewaltsame Aktionen zu verhindern. Am Morgen des 18. Juni hatte sich die Stimmung auf der Warnowwerft verschlechtert. Über den Nordwestdeutschen Rundfunk (NWDR) erfuhren die Werftarbeiter von den Ereignissen in Berlin, Halle und anderen Städten am 16./17. Juni. Sie hörten auch von den Verletzten und Toten und von den sowjetischen Panzern. Rasend schnell verbreiteten sich außerdem Nachrichten von Protesten im Dieselmotorenwerk und auf der Neptunwerft in Rostock. Der Unmut über die wirtschaftlichen Zustände und das brutale Vorgehen in Berlin und anderswo entlud sich zunächst in einer Protestversammlung der Belegschaft. Später formierte sich auch ein Protestzug.
Zu den Hauptrednern auf der Warnowwerft zählte der Schweißer Robert Dahlem. Er war Jahrgang 1922 und Sohn des KPD/SED-Spitzenfunktionärs Franz Dahlem, der als Rivale Walter Ulbrichts im Frühjahr 1953 in Ungnade gefallen war. Robert Dahlem war im Moskauer Exil der Stalin-Ära aufgewachsen und dadurch wohl auch geprägt worden. So entschied er sich nach 1945 gegen eine Karriere in der KPD/SED und arbeitete wieder in seinem Beruf. Hier, an der Basis, sah er, wie weit entfernt die Realität in der DDR von den Versprechungen und den Idealen der SED war.
Am Morgen des 18. Juni sorgte er entscheidend mit dafür, dass die Proteste auf der Warnowwerft weitergingen. In der Frühschicht scharte er rund 50 Elektro-Schweißer um sich und stellte mit ihnen einen Forderungskatalog zusammen. Später wählte man ihn in die Arbeiterkommission. Die von ihm eingebrachten Forderungen waren politischer Sprengstoff. Demnach sollten nicht nur auf der Werft und in allen anderen Industrie-Betrieben der DDR Arbeiterräte gebildet werden. Ebenso sollten sich auf dem Land Bauernräte in den Maschinen-Traktoren-Stationen und in den LPG bilden. Vertreter aller dieser Räte hätten dann auf einem Kongress eine wirkliche Arbeiter- und Bauernregierung zu wählen. Außerdem forderte Dahlem die Abschaffung der "Spitzeltätigkeit" durch die Staatssicherheit und den Abzug der sowjetischen Truppen von der Warnowwerft.
Am Morgen des 19. Juni wurde Robert Dahlem von sowjetischen Soldaten als sogenannter Rädelsführer verhaftet. Anfang Juli übergab ihn die Besatzungsmacht an die Stasi-Zentrale in Berlin. Der offizielle Haftbefehl vom 6. Juli warf ihm vor, "nach dem 08. Mai 1945 durch faschistische Propaganda den Frieden des Deutschen Volkes gefährdet zu haben, indem er ... mittels links-radikaler, opportunistischer und faschistischer Losungen ... zum Sturz der Regierung der Werktätigen aufforderte".
Stadtbezirksgericht Mitte
- Haftrichter -
- Straf - Senat - Kammer -
Berlin, den 06.07.53
Fernsprecher:
Aktenzeichen: Hs.C. [handschriftliche Ergänzung: 457/53]
(In allen Zuschriften anzugeben)
Haftbefehl
Der Elektro-Schweißer Dahlem, [unterstrichen: Robert] [durchgestrichen: Franz]
geb. am [anonymisiert] in [anonymisiert]
wh.: Warnemünde, [anonymisiert]
ist zur Untersuchungshaft zu bringen.
Er wird beschuldigt, nach dem 8. Mai 1945 durch faschistische Propaganda den Frieden des Deutschen Volkes gefährdet zu haben,
indem er als Belegschaftsmitglied der Warnow-Werft mittels links-radikaler, opportunistischer und faschistischer Losungen seine Betriebskollegen am 19.06.53
b.w.
St P.
Nr. 4 Haftbefehl (§§ 142ff. StPO) - Allgem. Vordr.
(79) Wolff, Berlin C2 B17278 53 4
Der schriftliche richterliche Haftbefehl bildete die Grundlage für eine reguläre Verhaftung (§ 114 StPO/1949; § 142 StPO/1952; § 124 StPO/1968). Beschuldigte oder Angeklagte mussten unverzüglich, spätestens am Tage nach ihrer Ergreifung dem zuständigen Gericht vorgeführt werden (§§ 114 b, 128 StPO/1949; §§ 144, 153 StPO/1952; § 126 StPO/1968) – vor allem in den frühen 50er Jahren wurde diese Frist vom MfS teilweise überschritten und der Zeitpunkt der Festnahme entsprechend geändert. Auch wurden die Festgenommenen nicht bei Gericht vorgeführt, die vom MfS ausgewählten Haftrichter kamen zur Ausstellung des Haftbefehls in die Untersuchungshaftanstalten.
Rechtliche Voraussetzungen für den Erlass eines Haftbefehls waren ein dringender Tatverdacht und ein gesetzlich definierter Haftgrund, z. B. Fluchtverdacht oder Verdunklungsgefahr (§ 112 StPO/1949; § 141 StPO/1952; § 122 StPO/1968) sowie während des Ermittlungsverfahrens ein Antrag des Staatsanwaltes; im Hauptverfahren konnte das Gericht auch ohne Antrag einen Haftbefehl erlassen. Laut einer Richtlinie des Obersten Gerichts der DDR vom 17.10.1962 lag ein Haftgrund auch vor bei "Verbrechen im Auftrag feindlicher Agenturen, bei konterrevolutionären Verbrechen" und "bei anderen schweren Verbrechen".
Untersuchungshaft ist eine freiheitsentziehende Zwangsmaßnahme zur Sicherung des Strafverfahrens. Die Untersuchungshaft begann nach der Verkündung des Haftbefehls durch einen Richter und endete mit der Überstellung in den Strafvollzug nach Erlangung der Rechtskraft einer Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe, selten auch mit der Freilassung.
Voraussetzungen für die Anordnung der Untersuchungshaft waren ein dringender Tatverdacht sowie entweder Fluchtverdacht oder Verdunklungsgefahr (§ 112 StPO/1949, § 141 StPO/1952, § 122 StPO/1968). Der Vollzug der Untersuchungshaft war gesetzlich mit nur einem StPO-Paragraphen geregelt (§ 116 StPO/1949, § 147 StPO/1952, § 130 StPO/1968), alles Weitere in internen Ordnungen. Er erfolgte für Beschuldigte, deren Ermittlungsverfahren von der Staatssicherheit geführt wurden, in MfS-Untersuchungshaftanstalten in Berlin bzw. den Bezirksstädten der DDR.
Die Haftbedingungen waren dort von Willkür, völliger Isolation und daraus resultierender Desorientierung der Häftlinge gekennzeichnet. Für den Vollzug der Untersuchungshaft war im MfS die Linie XIV (Abt. XIV) zuständig; die Vernehmungen oblagen den Untersuchungsführern der Linie IX (HA IX).
Ein Untersuchungsvorgang war eine bei einem strafrechtlichen Ermittlungsverfahren des MfS und ggf. dem späteren Gerichtsverfahren entstandene Akte, die den Hergang des Strafverfahrens widerspiegelt und auch häufig Informationen zur Strafvollstreckung enthält.
Untersuchungsvorgänge zeigen die offizielle wie auch die inoffizielle Ebene des Verfahrens. Sie enthalten sowohl das strafprozessual legale Material (Haftbefehl, Vernehmungsprotokolle, Anklageschrift, Verhandlungsprotokoll, Urteil u. a.) als auch Dokumente geheimpolizeilichen Charakters, etwa zu konspirativen Ermittlungsmaßnahmen operativer Abteilungen oder Berichte von Zelleninformatoren.
Ein archivierter Untersuchungsvorgang kann bis zu sieben Bestandteile umfassen: Gerichtsakte, Beiakte zur Gerichtsakte, Handakte zur Gerichtsakte, Handakte zum Ermittlungsverfahren, Beiakte zur Handakte des Ermittlungsverfahrens, manchmal auch Vollstreckungsakten und ggf. die Akte des Revisions- oder Kassationsverfahrens.
Signatur: BStU, MfS, AU, Nr. 35/54, Bl. 4-5
Der Schweißer Robert Dahlem war entscheidend an den Protesten auf der Warnowerft am 18. Juni 1953 beteiligt. Schon einen Tag später wurde er durch sowjetische Soldaten verhaftet.
Im Norden der DDR war die Atmosphäre im Juni 1953 angespannt. Ursachen waren die miserable Wirtschaftslage, die katastrophale Versorgung mit Lebensmitteln, die Unzufriedenheit mit der Regierung, die Zwangskollektivierung in der Landwirtschaft und die Verfolgung des bürgerlichen Mittelstandes. Hinzu kamen die zunehmende Militarisierung der Gesellschaft und die Anwesenheit der Roten Armee. Allerdings entfaltete der Volksaufstand, wie auch in den anderen nördlichen Bezirken, im Bezirk Rostock nicht dieselbe Dynamik wie im Süden der DDR. Dennoch kam es auch hier zu Streiks, Demonstrationen und Aktionen gegen die herrschende Ordnung.
Der Betriebsleitung der Warnowwerft in Warnemünde war es am 17. Juni noch gelungen, Streiks und gewaltsame Aktionen zu verhindern. Am Morgen des 18. Juni hatte sich die Stimmung auf der Warnowwerft verschlechtert. Über den Nordwestdeutschen Rundfunk (NWDR) erfuhren die Werftarbeiter von den Ereignissen in Berlin, Halle und anderen Städten am 16./17. Juni. Sie hörten auch von den Verletzten und Toten und von den sowjetischen Panzern. Rasend schnell verbreiteten sich außerdem Nachrichten von Protesten im Dieselmotorenwerk und auf der Neptunwerft in Rostock. Der Unmut über die wirtschaftlichen Zustände und das brutale Vorgehen in Berlin und anderswo entlud sich zunächst in einer Protestversammlung der Belegschaft. Später formierte sich auch ein Protestzug.
Zu den Hauptrednern auf der Warnowwerft zählte der Schweißer Robert Dahlem. Er war Jahrgang 1922 und Sohn des KPD/SED-Spitzenfunktionärs Franz Dahlem, der als Rivale Walter Ulbrichts im Frühjahr 1953 in Ungnade gefallen war. Robert Dahlem war im Moskauer Exil der Stalin-Ära aufgewachsen und dadurch wohl auch geprägt worden. So entschied er sich nach 1945 gegen eine Karriere in der KPD/SED und arbeitete wieder in seinem Beruf. Hier, an der Basis, sah er, wie weit entfernt die Realität in der DDR von den Versprechungen und den Idealen der SED war.
Am Morgen des 18. Juni sorgte er entscheidend mit dafür, dass die Proteste auf der Warnowwerft weitergingen. In der Frühschicht scharte er rund 50 Elektro-Schweißer um sich und stellte mit ihnen einen Forderungskatalog zusammen. Später wählte man ihn in die Arbeiterkommission. Die von ihm eingebrachten Forderungen waren politischer Sprengstoff. Demnach sollten nicht nur auf der Werft und in allen anderen Industrie-Betrieben der DDR Arbeiterräte gebildet werden. Ebenso sollten sich auf dem Land Bauernräte in den Maschinen-Traktoren-Stationen und in den LPG bilden. Vertreter aller dieser Räte hätten dann auf einem Kongress eine wirkliche Arbeiter- und Bauernregierung zu wählen. Außerdem forderte Dahlem die Abschaffung der "Spitzeltätigkeit" durch die Staatssicherheit und den Abzug der sowjetischen Truppen von der Warnowwerft.
Am Morgen des 19. Juni wurde Robert Dahlem von sowjetischen Soldaten als sogenannter Rädelsführer verhaftet. Anfang Juli übergab ihn die Besatzungsmacht an die Stasi-Zentrale in Berlin. Der offizielle Haftbefehl vom 6. Juli warf ihm vor, "nach dem 08. Mai 1945 durch faschistische Propaganda den Frieden des Deutschen Volkes gefährdet zu haben, indem er ... mittels links-radikaler, opportunistischer und faschistischer Losungen ... zum Sturz der Regierung der Werktätigen aufforderte".
zum Sturz der Regierung der Werktätig auffordert.
Strafbar nach § 110, 73 des StGB. und Artikel III A III der Kontrollratsdirektive 38.
Er ist dieser Straftat dringend verdächtig und wegen der Höhe der zu erwartenden Strafe besteht Fluchtverdacht.
- Gegen diesen Haftbefehl ist das Rechtsmittel der Beschwerde zulässig. -
[Stempel]
[Unterschrift]
(Fuhrmann)
Richter
Der schriftliche richterliche Haftbefehl bildete die Grundlage für eine reguläre Verhaftung (§ 114 StPO/1949; § 142 StPO/1952; § 124 StPO/1968). Beschuldigte oder Angeklagte mussten unverzüglich, spätestens am Tage nach ihrer Ergreifung dem zuständigen Gericht vorgeführt werden (§§ 114 b, 128 StPO/1949; §§ 144, 153 StPO/1952; § 126 StPO/1968) – vor allem in den frühen 50er Jahren wurde diese Frist vom MfS teilweise überschritten und der Zeitpunkt der Festnahme entsprechend geändert. Auch wurden die Festgenommenen nicht bei Gericht vorgeführt, die vom MfS ausgewählten Haftrichter kamen zur Ausstellung des Haftbefehls in die Untersuchungshaftanstalten.
Rechtliche Voraussetzungen für den Erlass eines Haftbefehls waren ein dringender Tatverdacht und ein gesetzlich definierter Haftgrund, z. B. Fluchtverdacht oder Verdunklungsgefahr (§ 112 StPO/1949; § 141 StPO/1952; § 122 StPO/1968) sowie während des Ermittlungsverfahrens ein Antrag des Staatsanwaltes; im Hauptverfahren konnte das Gericht auch ohne Antrag einen Haftbefehl erlassen. Laut einer Richtlinie des Obersten Gerichts der DDR vom 17.10.1962 lag ein Haftgrund auch vor bei "Verbrechen im Auftrag feindlicher Agenturen, bei konterrevolutionären Verbrechen" und "bei anderen schweren Verbrechen".
Ein Untersuchungsvorgang war eine bei einem strafrechtlichen Ermittlungsverfahren des MfS und ggf. dem späteren Gerichtsverfahren entstandene Akte, die den Hergang des Strafverfahrens widerspiegelt und auch häufig Informationen zur Strafvollstreckung enthält.
Untersuchungsvorgänge zeigen die offizielle wie auch die inoffizielle Ebene des Verfahrens. Sie enthalten sowohl das strafprozessual legale Material (Haftbefehl, Vernehmungsprotokolle, Anklageschrift, Verhandlungsprotokoll, Urteil u. a.) als auch Dokumente geheimpolizeilichen Charakters, etwa zu konspirativen Ermittlungsmaßnahmen operativer Abteilungen oder Berichte von Zelleninformatoren.
Ein archivierter Untersuchungsvorgang kann bis zu sieben Bestandteile umfassen: Gerichtsakte, Beiakte zur Gerichtsakte, Handakte zur Gerichtsakte, Handakte zum Ermittlungsverfahren, Beiakte zur Handakte des Ermittlungsverfahrens, manchmal auch Vollstreckungsakten und ggf. die Akte des Revisions- oder Kassationsverfahrens.
Ermittlungssache gegen den Schweißer Robert Dahlem Dokument, 1 Seite
Einstellung des Untersuchungsvorgangs gegen Robert Dahlem Dokument, 1 Seite
Bitte um Aufhebung des Haftbefehls gegen Robert Dahlem Dokument, 1 Seite
Haftbefehl gegen einen Mann, der Fotos des Volksaufstandes in Rathenow gemacht hatte Dokument, 1 Seite