Signatur: BStU, MfS, ZAIG, Nr. 5351, Bl. 32-39
Über einhunderttausend DDR-Bürger haben ihr Land im ersten Halbjahr 1989 verlassen. Die Stasi versuchte die Stimmungslage bei den Daheimgebliebenen zu erkunden und musste feststellen: Unzufriedenheit beherrschte die gesamte Gesellschaft.
Im ersten Halbjahr 1989 hatten über einhunderttausend DDR-Bürger einen Antrag auf Ausreise in die Bundesrepublik gestellt. Doch das Verfahren war für die Antragsteller zum einen wenig erfolgversprechend und zum anderen sehr langwierig. Im Mai 1989 eröffnete sich eine neue Möglichkeit. Ungarn begann die Grenzanlagen nach Österreich abzubauen und damit durchlässiger zu machen. Die ersten Wagemutigen riskierten im Juni und Juli 1989 den immer noch gefährlichen Weg über die "grüne Grenze". Andere suchten die bundesdeutschen Botschaften in Budapest, Warschau oder Prag auf, in der Hoffnung von dort in die Bundesrepublik abgeschoben zu werden. Aus Dutzenden wurden bald Hunderte, aus Hunderten Tausende und Zehntausende.
Die Zentrale Auswertungs- und Informationsgruppe versuchte, die Motive für die Fluchtwelle herauszuarbeiten und interessierte sich im vorliegenden Bericht für die Reaktion der Daheimgebliebenen auf die ständig steigende Ausreisewelle.
Einen absoluten Schwerpunkt in den Diskussionen bilden Probleme der Anwendung und Durchsetzung des Leistungsprinzips in allen gesellschaftlichen Bereichen. Die strikte Durchsetzung des sozialistischen Leistungsprinzips wird dabei als entscheidende Voraussetzung für die Verbesserung der Lage in der Volkswirtschaft angesehen.
Von Wirtschaftskadern in Kombinaten und Betrieben wird dahingehend argumentiert, unser gesamtes ökonomisches System sei nicht zwingend genug auf Leistung orientiert. Die Notwendigkeit einer strikten Anwendung des Leistungsprinzips sei zwar theoretisch begründet, es werde aber nicht genügend praxiswirksam.
Die angewandten Bewertungsmaßstäbe für erbrachte Leistungen seien nicht wirksam genug. Eine effektive Stimulierung zu hohen Arbeitsergebnissen fehle häufig. Verbreitet sei es so, daß jeder sein Geld bekomme, ob er viel oder wenig gearbeitet habe. Negative Auswirkungen dieser Situation zeigten sich immer deutlicher in abnehmender Leistungsbereitschaft und nachlassender Arbeitsdisziplin, insbesondere bei Jugendlichen, sowie in einer zunehmenden Scheu bei Werktätigen, Verantwortung zu übernehmen.
Insbesondere im Zusammenhang mit der Vorbereitung des XII. Parteitages der SED bestehen in ausgeprägter Form Erwartungshaltungen hinsichtlich zwingender Maßnahmen zur Anwendung und Durchsetzung des Leistungsprinzips in allen gesellschaftlichen Bereichen.
3. Reisemöglichkeiten von DDR-Bürgern
Die bestehenden Reisemöglichkeiten für DDR-Bürger werden in breiten Teilen der Bevölkerung als unbefriedigend bewertet, wobei in erster Linie Vergleiche angestellt werden zu Reisemöglichkeiten für BRD-Bürger
Hauptsächlich Jugendliche äußern Unzufriedenheit bezüglich beschränkter Reisemöglichkeiten in das nichtsozialistische Ausland. Sie wollen nicht erst "bis zur Rente warten," argumentieren sie, um in andere Länder reisen zu können.
Es wird aber auch verwiesen auf großzügigere Regelungen, die in anderen sozialistischen Staaten im Ergebnis des KSZE-Prozesses eingeführt worden seien.
Die ZAIG war das "Funktionalorgan" des Ministers für Staatssicherheit, die Schaltstelle im MfS, in der nahezu alle komplexen Stabsfunktionen konzentriert waren: die zentrale Auswertung und Information, einschließlich der Berichterstattung an die politische Führung, die Optimierung der entsprechenden Verfahren und Strukturen im Gesamtapparat des MfS, die zentralen Kontrollen und Untersuchungen und die Analyse der operativen Effektivität des MfS, die zentrale Planung und die Erarbeitung dienstlicher Bestimmungen, zudem die übergeordneten Funktionen im Bereich EDV sowie die Gewährleistung des internationalen Datenaustauschsystems der kommunistischen Staatssicherheitsdienste (SOUD). Nach der Eingliederung der Abteilung Agitation 1985 waren auch die Öffentlichkeitsarbeit und die Traditionspflege des MfS in der ZAIG als "Bereich 6" funktional verankert. Die ZAIG war im direkten Anleitungsbereich des Ministers angesiedelt; ihr waren zuletzt die formal selbständigen Abt. XII, XIII (Rechenzentrum) und die Rechtsstelle fachlich unterstellt.
Die ZAIG geht auf die nach dem Juniaufstand 1953 gegründete und von Heinz Tilch geleitete Informationsgruppe (IG) der Staatssicherheitszentrale zurück, die erstmals eine regelmäßige Lage- und Stimmungsberichterstattung für die Partei- und Staatsführung hervorbrachte. Diese entwickelte sich 1955/56 zur Abteilung Information mit drei Fachreferaten, wurde aber 1957 als Resultat des Konfliktes zwischen Ulbricht und Wollweber wieder stark reduziert. 1957 erhielt die Abteilung mit Irmler einen neuen Leiter, der jedoch bereits 1959 vom ehemaligen stellv. Leiter der HV A Korb abgelöst und zum Stellvertreter zurückgestuft wurde. Gleichzeitig wurde die Diensteinheit in Zentrale Informationsgruppe (ZIG) umbenannt; von da an lief auch die bisher eigenständige Berichterstattung der HV A über sie. 1960 wurde die Berichterstattung an die politische Führung durch einen Ministerbefehl präzise geregelt, und die ZIG erhielt mit der Neueinrichtung von Informationsgruppen in den BV und operativen HA einen soliden Unterbau.
1965 wurde die ZIG in ZAIG umbenannt und ein einheitliches Auswertungs- und Informationssystem eingeführt, das die Recherche und Selektion von Daten sowie die Organisierung von Informationsflüssen gewährleistete. In den operativen HA und BV erhielt die ZAIG mit den AIG entsprechende "Filialen". Im gleichen Jahr ging Korb in den Ruhestand, Irmler wurde wieder Leiter der Diensteinheit.
1968 wurde auch das Kontrollwesen der Staatssicherheit in die ZAIG eingegliedert, das im Dezember 1953 mit der Kontrollinspektion seinen ersten organisatorischen Rahmen erhalten hatte und 1957 mit der Umbenennung in AG Anleitung und Kontrolle erheblich qualifiziert worden war.
1969 erhielt die ZAIG auch die Verantwortung für den Einsatz der EDV. Das im Aufbau begriffene Rechenzentrum (Abt. XIII) wurde ihr unterstellt. In der ersten Hälfte der 70er Jahre bildeten sich vier Arbeitsbereiche der ZAIG heraus. Bereich 1: konkrete Auswertungs- und Informationstätigkeit und Berichterstattung an die politische Führung; Bereich 2: Kontrollwesen, die Erarbeitung von dienstlichen Bestimmungen sowie Prognose- und Planungsaufgaben; Bereich 3: Fragen der EDV; Bereich 4: Pflege und Weiterentwicklung der "manuellen" Bestandteile des Auswertungs- und Informationssystems. 1979 erhielt dieser Bereich auch die Verantwortung für das SOUD ("ZAIG/5").
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Reaktionen der Bevölkerung zur Fluchtwelle aus der DDR Dokument, 8 Seiten
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