Signatur: BStU, MfS, BV Rostock, AU, Nr. 37/53, HA, Bl. 127
Weil sie während des Volksaufstandes die Losungen "Russki go hom", "Nieder mit dem Iwan" und "Nieder mit Grotewohl" an Häuser in Binz schrieben, wurden vier Personen vom Bezirksgericht Rostock zu drakonischen Strafen verurteilt.
Im Norden der DDR war die Atmosphäre im Juni 1953 angespannt. Ursachen waren die miserable Wirtschaftslage, die katastrophale Versorgung mit Lebensmitteln, die Unzufriedenheit mit der Regierung, die Zwangskollektivierung in der Landwirtschaft und die Verfolgung des bürgerlichen Mittelstandes. Hinzu kamen die zunehmende Militarisierung der Gesellschaft und die Anwesenheit der Roten Armee. Allerdings entfaltete der Volksaufstand, wie auch in den anderen nördlichen Bezirken, im Bezirk Rostock nicht dieselbe Dynamik wie im Süden der DDR. Dennoch kam es auch hier zu Streiks, Demonstrationen und Aktionen gegen die herrschende Ordnung.
Von Stralsund sprang der Funke auf die Insel Rügen über. Hier reichten die Ereignisse von ganz persönlichen Widerstandshandlungen bis hin zu großen Arbeitsniederlegungen. Am 17. Juni 1953 hörten vier Angestellte der DDR-Handelsorganisation (HO) des Kreises Bergen heimlich im Kulturraum der HO die Nachrichten des Senders RIAS. So erfuhren sie von den Streiks und Demonstrationen in Berlin.
Sie beschlossen, ebenfalls etwas gegen die DDR-Regierung und die Rote Armee zu unternehmen. Sie wollten in den Nachtstunden Sprüche an Häuserwänden in Binz anbringen. Inzwischen war durch das sowjetische Militär der Ausnahmezustand verhängt worden. Deshalb beteiligte sich einer der Angestellten nicht mehr am nächtlichen Treffen. Die anderen drei wurden von einem Volkspolizisten gesehen und aufgefordert, nach Hause zu gehen. Auf dem Heimweg malten sie trotzdem an drei Stellen die Sprüche "Russki go hom", "Nieder mit dem Iwan" und "Nieder mit Grotewohl".
Eine Volkspolizeistreife entdeckte einen der Beteiligten und nahm ihn fest. Kurz darauf wurden auch die anderen drei verhaftet. Polizei und Stasi fotografierten die beschriebenen Flächen und ließen dann die Sprüche sofort entfernen. Auf diese Weise konnte die Aktion keine große öffentliche Wirkung erzielen.
Bereits am 22. Juni fand am Bezirksgericht Rostock der Prozess statt. Er endete mit drakonischen Strafen. Acht Jahre Zuchthaus erhielt der Dekorateur, der die Sprüche angemalt hatte. Vier Jahre Zuchthaus gab es für die beiden Kollegen, die aufgepasst hatten, drei Jahre Zuchthaus für denjenigen, der nur bei den Absprachen dabei gewesen war.
Einer der Verurteilten focht das Urteil an. Auch der Staatsanwalt sah nach wenigen Tagen ein, dass das Strafmaß im Verhältnis zu ähnlich gelagerten Fällen in anderen Bezirken zu hart ausgefallen war. Er legte Protest zugunsten der Verurteilten ein. Im Juli 1953 wurde das Urteil vom Obersten Gericht der DDR geändert: Der Hauptbeschuldigte erhielt eine Zuchthausstrafe von vier Jahren, die beiden anderen Beteiligten jeweils zwei Jahre. Das Verfahren gegen den Vierten wurde eingestellt. Der hauptangeklagte Dekorateur musste über drei Jahre seiner Haftstrafe verbüßen, die anderen beiden jeweils 18 Monate.
I Ks. 170/53.
[handschriftliche Ergänzung: abt. XII]
[handschriftliche Ergänzung: Archiv Nr. 37/53]
In der Strafsache gegen
1.) den Maler [anonymisiert], geb. am [anonymisiert] in Hemer, Krs. Iserlohn, wohnhaft in Bergen, [anonymisiert],
2.) den Kraftfahrer [anonymisiert], geb. am [anonymisiert] in Schwanneberg, Krs. Prenzlau, wohnhaft in Binz/Rg., [anonymisiert],
3.) den Instrukteur [anonymisiert], geb. am [anonymisiert] in Stettin, wohnhaft in Binz/Rg., [anonymisiert],
4.) den Verkaufsstellenleiter [anonymisiert], geb. am [anonymisiert] in Kiel, wohnhaft in Binz/Rg., [anonymisiert],
wegen Verbr. gem. Art. 6 der Verf. d. DDR. und III A III KR.Dir. 38,
hat der I. Strafsenat des Bezirksgerichts Rostock in der Sitzung am 22. Juni 1953 unter Mitwirkung der Richter
Direktor Schmiege als Vorsitzendem,
TAN-Bearbeiter [anonymisiert], Warnemünde
Arbeiter [anonymisiert], Rostock
als Schöffen
für Recht erkannt:
[anonymisiert]
[anonymisiert]
[anonymisiert]
[anonymisiert] und
[anonymisiert]
werden wegen Verb. nach Artikel 6 der Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik und Art. III A III der Kontrollratsdirektive 38 unter Anrechnung der Untersuchungshaft wie folgt verurteilt:
Der Angeklagte [anonymisiert] zu 8 - acht - Jahren Zuchthaus,
die Angeklagten [anonymisiert] und [anonymisiert] zu je 4 - vier - Jahren Zuchthaus,
der Angeklagte [anonymisiert] zu 3 - drei - Jahren Zuchthaus.
Des weiteren unterliegen sämtliche Angeklagten den Beschränkungen der Ziffern 3-9 des Artikels IX der Direktive 38, wobei hinsichtlich der Ziffer 7 des Artikels IX die Beschränkungen auf 5 Jahre festgesetzt wird.
Die Kosten des Verfahrens werden den Angeklagten auferlegt.
[Stempel]
[Unterschrift: unleserlich]
Untersuchungshaft ist eine freiheitsentziehende Zwangsmaßnahme zur Sicherung des Strafverfahrens. Die Untersuchungshaft begann nach der Verkündung des Haftbefehls durch einen Richter und endete mit der Überstellung in den Strafvollzug nach Erlangung der Rechtskraft einer Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe, selten auch mit der Freilassung.
Voraussetzungen für die Anordnung der Untersuchungshaft waren ein dringender Tatverdacht sowie entweder Fluchtverdacht oder Verdunklungsgefahr (§ 112 StPO/1949, § 141 StPO/1952, § 122 StPO/1968). Der Vollzug der Untersuchungshaft war gesetzlich mit nur einem StPO-Paragraphen geregelt (§ 116 StPO/1949, § 147 StPO/1952, § 130 StPO/1968), alles Weitere in internen Ordnungen. Er erfolgte für Beschuldigte, deren Ermittlungsverfahren von der Staatssicherheit geführt wurden, in MfS-Untersuchungshaftanstalten in Berlin bzw. den Bezirksstädten der DDR.
Die Haftbedingungen waren dort von Willkür, völliger Isolation und daraus resultierender Desorientierung der Häftlinge gekennzeichnet. Für den Vollzug der Untersuchungshaft war im MfS die Linie XIV (Abt. XIV) zuständig; die Vernehmungen oblagen den Untersuchungsführern der Linie IX (HA IX).
Ein Untersuchungsvorgang war eine bei einem strafrechtlichen Ermittlungsverfahren des MfS und ggf. dem späteren Gerichtsverfahren entstandene Akte, die den Hergang des Strafverfahrens widerspiegelt und auch häufig Informationen zur Strafvollstreckung enthält.
Untersuchungsvorgänge zeigen die offizielle wie auch die inoffizielle Ebene des Verfahrens. Sie enthalten sowohl das strafprozessual legale Material (Haftbefehl, Vernehmungsprotokolle, Anklageschrift, Verhandlungsprotokoll, Urteil u. a.) als auch Dokumente geheimpolizeilichen Charakters, etwa zu konspirativen Ermittlungsmaßnahmen operativer Abteilungen oder Berichte von Zelleninformatoren.
Ein archivierter Untersuchungsvorgang kann bis zu sieben Bestandteile umfassen: Gerichtsakte, Beiakte zur Gerichtsakte, Handakte zur Gerichtsakte, Handakte zum Ermittlungsverfahren, Beiakte zur Handakte des Ermittlungsverfahrens, manchmal auch Vollstreckungsakten und ggf. die Akte des Revisions- oder Kassationsverfahrens.
Streifenbericht der Volkspolizei über die Festnahme von drei Personen wegen Anbringens einer "Hetzschrift" Dokument, 1 Seite
Aufhebung des ersten Urteils gegen Ernst Jennrich Dokument, 7 Seiten
Urteil gegen einen Arbeiter aus Güstrow wegen des Schreibens einer "Hetzlosung" während des Volksaufstandes Dokument, 1 Seite
Urteil gegen Beteiligte einer Streikkundgebung während des Volksaufstandes in Groß Dölln Dokument, 3 Seiten