Signatur: BStU, MfS, SdM, Nr. 2356, Bl. 439-443
Der ehemalige Chef der Spionageabteilung HV A, Markus Wolf, äußerte sich im November 1989 zu einer möglichen Neuausrichtung des Ministeriums für Staatssicherheit.
Im November 1989 mussten SED und Staatssicherheit unter dem Druck der Bürgerbewegung immer weiter zurückweichen. Die Diktatur befand sich in einer offenen Krise. Davon blieb auch das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) nicht verschont.
Die Amtszeit von Erich Mielke in der Staatssicherheit endete am 18. November 1989 mit der Umwandlung des Ministeriums für Staatssicherheit in das Amt für Nationale Sicherheit (AfNS) und der Wahl des neuen Amtschefs, Generalleutnant Wolfgang Schwanitz, durch die Volkskammer.
Mielkes Nachfolger mussten sich nun daran machen, die Staatssicherheit an die sich wandelnden Verhältnisse anzupassen. Dabei kam Markus Wolf ins Spiel, der 1987 ausgeschiedene, aber noch sehr aktive frühere Spionagechef. In einem Thesenpapier für den neuen Amtschef Schwanitz fasste er die aus seiner Sicht wichtigsten Aspekte zusammen.
In dem vorliegenden Dokument legt Markus Wolf, Hoffnungsträger aller Perestroika-Anhänger in der Staatssicherheit und in der SED, seine Vorstellungen über eine Reform des Ministeriums dar. Dieser war für Mielkes Nachfolger, Wolfgang Schwanitz, bestimmt. Aus seinen Unterlagen stammt das hier dokumentierte Exemplar. Die Unterstreichungen fertigte offenbar Schwanitz, der den Text aufmerksam gelesen und einzelne Passagen wenige Tage später in einer eigenen Rede zum Kurswechsel der Staatssicherheit verwendet hat (siehe 21.11.1989).
Der Text enthält scharfe Kritik an Mielkes Amtsführung, die als "absurder Absolutismus" bezeichnet wird, an seinem habituellen "Stalinismus" und an dem Feindbild der Staatssicherheit, der "ideologischen Diversion", mit dem jede kritische Äußerung kriminalisiert werden konnte. Wolf fordert einen Generationswechsel in der Stasi-Führung und eine öffentliche Auseinandersetzung mit der Vergangenheit sowie die Rehabilitierung einiger Opfer aus den 50er Jahren.
4. Die Denkstrukturen im Ministerium zu den Fragen der Macht waren praktisch auf die [unterstrichen: Erhaltung der Macht der politischen Führung, die des Ministers auf den jeweiligen Generalsekretär ausgerichtet.] Innerhalb des Ministeriums auf die [unterstrichen: Alleinherrschaft des Ministers.] Dies nahm zunehmend Formen eines absurden Absolutismus mit an byzantinischen Feudalismus erinnernden Zutaten an. [unterstrichen: Die Parteiorganisation wurde zum Erfüllungsgehilfen degradiert.] (Beispiele) [unterstrichen: Jeder Widerspruch wurde unterdrückt.]
Dies setzte [handschriftliche Ergänzung: sich] mit von politischen Einsichten und charakterlichen Eigenschaften bedingten Unterschieden in vielen Bereichen fort. Deshalb kann eine Gesundung des Ministeriums und Vertrauen bei den Mitarbeitern [unterstrichen: nur durch konsequente Auswechslung vieler Leiter und Einsetzung vor allem jüngerer Kader erfolgen, die] das Vertrauen der Mitarbeiter genießen.
5. Bei einem [unterstrichen: Minister, der sich noch Jahre nach dem XX. Parteitag offen zum Stalinismus bekannte] und vor hunderten von Leitern Stalin hochleben ließ ist anzunehmen, [unterstrichen: daß es Vorgänge gab, deren Aufdeckung jetzt nicht zu umgehen, die von hoher Brisanz und deren öffentliche Klärung mit namentlicher Festlegung der Verantwortung
für die Wiederherstellung des Ansehens der Mehrheit der Mitarbeiter, die sauber geblieben sind, von großer Bedeutung ist.]
Wenn von Walter Janka die Rede ist, tauchen sofort andere Namen auf [unterstrichen: (Merker, Kreikemeyer, Ende, Bender usw.)] - [durchgestrichen: aber] [handschrifltiche Ergänzung: und mit Sicherheit] viele andere, die als Folge von Diffamierungen der politischen Führung, aber auch die Orientierung des Ministers durch operative Maßnahmen und die Arbeit des Untersuchungsorgans mit unzulässigen Mitteln und Methoder Opfer von Repressalien wurden. [unterstrichen: Viele werden sich jetzt zu Wort melden und öffentliche Rehabilitierung fordern. Diese muß erfolgen.]
6. Es gibt Hinweise,[unterstrichen: daß in der Vergangenheit auf Beschwerden Betroffener Untersuchungen erfolgten, deren Ergebnisse systematisch wegmanipuliert wurden.] Vorgänge, Dokumente und Belege sollen auf Weisung beseitigt worden sein. Diesen Hinweisen muß durch eine [unterstrichen: integre Untersuchungskommission] nachgegangen werden.
Die Umwandlung des MfS in ein AfNS erfolgte im Zusammenhang mit der Neubildung der Regierung durch Ministerpräsident Hans Modrow am 17./18.11.1989. Zum Leiter des Amtes wurde Schwanitz gewählt. War Mielke als Minister für Staatssicherheit noch dem Vorsitzenden des Nationalen Verteidigungsrates der DDR und faktisch dem SED-Generalsekretär unterstellt gewesen, so ordnete man Schwanitz dem Vorsitzenden des Ministerrates unter. In der Regierungserklärung wurde dem neuen Amt vorgegeben, dass »neues Denken in Fragen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit« auch von diesem Bereich erwartet werde und dass der Apparat zu verkleinern sei. Näheres hätte in einem Gesetz geregelt werden müssen, das geplant wurde, aber nie verabschiedet worden ist. Noch am Tag seiner Wahl informierte der neue Amtschef die Mitarbeiter der Staatssicherheit, dass der »Prozess der revolutionären Erneuerung« vorbehaltlos zu unterstützen sei. Kommissionen zur Neustrukturierung wurden eingerichtet und die Diensteinheiten aufgefordert, eigene Vorschläge einzubringen. Dies waren Versuche einer technokratischen Reform, die von der alten Generalsriege angeleitet wurden. Angekündigt wurde, das Personal abzubauen – zuerst ging es um 10 %, zwei Wochen später war die Vorgabe bereits eine Reduktion um 50 %. Das alte Feindbild sollte nicht mehr gelten: »Andersdenkende« seien jetzt zu tolerieren, nur »Verfassungsfeinde« zu bekämpfen. Unklar blieb, wer Letzteren in einer Zeit zuzurechnen war, in der die Verfassung selbst zur Disposition stand. Zugleich wurde die Aktenvernichtung in diesen Wochen fortgesetzt, viele inoffizielle Mitarbeiter »abgeschaltet«. Die Mitarbeiter waren zunehmend verunsichert und demotiviert. Anfang Dezember beschleunigte sich der revolutionäre Umbruch: Am 1.12.1989 wurde die führende Rolle der SED aus der Verfassung gestrichen, am 3. trat das ZK der SED zurück, am 4. und 5.12. besetzten aufgebrachte Bürger KD und Bezirksämter des AfNS. Die Stasi-Mitarbeiter leisteten keinen gewaltsamen Widerstand. Am 5.12. trat das Kollegium des AfNS zurück. In den folgenden Tagen wurden die Leiter der meisten Hauptabteilungen und der Bezirksämter abgesetzt. Am 7.12.1989 forderte der Zentrale Runde Tisch die Auflösung des AfNS – auch mit den Stimmen der SED-Sprecher. Am 14.12. wurde durch den Ministerrat beschlossen, das AfNS aufzulösen und durch einen sehr viel kleineren Verfassungsschutz (ca. 10 000 Mitarbeiter) und einen mit ca. 4000 Mitarbeitern gegenüber der HV A fast unveränderten Nachrichtendienst zu ersetzen. In diese Dienste sollten keine ehemaligen Führungskader der Staatssicherheit übernommen werden. Parallel dazu bestand aber das »AfNS in Auflösung« fort, dessen Leiter den alten Apparat abwickeln sollten. Das war eine Ambivalenz, die das allgemeine Misstrauen weiter verstärkte und die Forderung nach vollständiger Auflösung der Geheimpolizei wieder lauter werden ließ.
Hauptverwaltung (HV) war eine Organisationseinheit in der MfS-Zentrale, die bereits ausdifferenzierte Aufgabenkomplexe in einer hierarchisch gegliederten Einheit zusammenfasst. Überwiegend durch Stellvertreter des Ministers direkt geleitet. Über das Gründungsjahrzehnt des MfS hinweg hatte nur die HV A als echte HV Bestand. Daneben war Hauptverwaltung eine Bezeichnung für Diensteinheiten im MfS ohne strukturell berechtigenden Hintergrund.
Die Hauptverwaltung A (HV A) war die Spionageabteilung des MfS, deren Bezeichnung sich an die der Spionageabteilung des KGB, 1. Verwaltung, anlehnt. Der Ordnungsbuchstabe A wurde in der Bundesrepublik oftmals, aber unzutreffenderweise mit "Aufklärung" aufgelöst. Die HV A wurde 1951 als Institut für Wirtschaftswissenschaftliche Forschung (IWF) gebildet und ging im September 1953 als HA XV in das Staatssekretariat für Staatssicherheit ein. Sie wurde im MfS von 1956 bis zur Auflösung im Juni 1990 als HV A bezeichnet.
Der Schwerpunkt nachrichtendienstlicher Tätigkeit der HV A lag in der Bundesrepublik Deutschland und Westberlin, wo sie mit Objektquellen, d. h. den IM in den nachrichtendienstlichen Zielobjekten, aktiv war.
Die HV A gliederte sich 1956 in 15, 1989 in 20 Abteilungen.
Für die operative Arbeit gegen das Bundeskanzleramt und wichtige Bundesministerien war die Abteilung I, für die gegen die bundesdeutschen Parteien die Abteilung II und für die Arbeit außerhalb Deutschlands die Abteilung III zuständig. Für die Infiltration der USA war die Abteilung XI, für die NATO und die Europäischen Gemeinschaften die Abteilung XII verantwortlich. Mit der Militärspionage war die Abteilung IV befasst, mit der Unterwanderung gegnerischer Nachrichtendienste die Abteilung IX.
Innerhalb der Hauptverwaltung war vornehmlich der Sektor Wissenschaft und Technik (SWT) mit Wissenschafts- und Technikspionage befasst, der zu diesem Zweck die Abteilung XIII bis XV sowie die Arbeitsgruppen 1, 3 und 5 unterhielt sowie eine eigene Auswertungsabteilung, die Abteilung V bzw. ab 1959 Abteilung VII.
Leiter der HV A waren 1951/52 Anton Ackermann, kurzzeitig Richard Stahlmann, 1952-1986 Markus Wolf, dann Werner Großmann und 1989/90 Bernd Fischer. Von anfangs zwölf Mitarbeitern wuchs der Apparat bis 1955 auf 430, bis 1961 auf 524 Mitarbeiter und erreichte bis 1972 einen Umfang von 1.066 hauptamtlichen Mitarbeitern. Bis 1989 wuchs die HV A auf 3.299 hauptamtliche Mitarbeiter, hinzu kamen 701 OibE (1985: 1.006) sowie 778 HIM. OibE und HIM arbeiteten verdeckt in der DDR und im Operationsgebiet. Insgesamt verfügte die HV A also zuletzt über 4.778 Mitarbeiter.
Die Anzahl der von der HV A geführten IM umfasste im Jahre 1989 rund 13.400 in der DDR und weitere 1.550 in der Bundesrepublik. Über 40 Jahre hinweg werden nach Hochrechnungen insgesamt rund 6.000 Bundesbürger und Westberliner IM der HV A gewesen sein.
1971 hervorgegangen aus dem Büro der Leitung. Seine Aufgaben waren
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Signatur: BStU, MfS, SdM, Nr. 2356, Bl. 439-443
Der ehemalige Chef der Spionageabteilung HV A, Markus Wolf, äußerte sich im November 1989 zu einer möglichen Neuausrichtung des Ministeriums für Staatssicherheit.
Im November 1989 mussten SED und Staatssicherheit unter dem Druck der Bürgerbewegung immer weiter zurückweichen. Die Diktatur befand sich in einer offenen Krise. Davon blieb auch das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) nicht verschont.
Die Amtszeit von Erich Mielke in der Staatssicherheit endete am 18. November 1989 mit der Umwandlung des Ministeriums für Staatssicherheit in das Amt für Nationale Sicherheit (AfNS) und der Wahl des neuen Amtschefs, Generalleutnant Wolfgang Schwanitz, durch die Volkskammer.
Mielkes Nachfolger mussten sich nun daran machen, die Staatssicherheit an die sich wandelnden Verhältnisse anzupassen. Dabei kam Markus Wolf ins Spiel, der 1987 ausgeschiedene, aber noch sehr aktive frühere Spionagechef. In einem Thesenpapier für den neuen Amtschef Schwanitz fasste er die aus seiner Sicht wichtigsten Aspekte zusammen.
In dem vorliegenden Dokument legt Markus Wolf, Hoffnungsträger aller Perestroika-Anhänger in der Staatssicherheit und in der SED, seine Vorstellungen über eine Reform des Ministeriums dar. Dieser war für Mielkes Nachfolger, Wolfgang Schwanitz, bestimmt. Aus seinen Unterlagen stammt das hier dokumentierte Exemplar. Die Unterstreichungen fertigte offenbar Schwanitz, der den Text aufmerksam gelesen und einzelne Passagen wenige Tage später in einer eigenen Rede zum Kurswechsel der Staatssicherheit verwendet hat (siehe 21.11.1989).
Der Text enthält scharfe Kritik an Mielkes Amtsführung, die als "absurder Absolutismus" bezeichnet wird, an seinem habituellen "Stalinismus" und an dem Feindbild der Staatssicherheit, der "ideologischen Diversion", mit dem jede kritische Äußerung kriminalisiert werden konnte. Wolf fordert einen Generationswechsel in der Stasi-Führung und eine öffentliche Auseinandersetzung mit der Vergangenheit sowie die Rehabilitierung einiger Opfer aus den 50er Jahren.
Stimmungsberichte wurden zu allen Fragen eingeholt, analysiert, weitergeleitet. Mit welchem Ergebnis? Welche Berichte wurden wann an welchen Verteilerkreis weitergegeben, wer legte ihn fest, mit welchem Recht? Ich rede von der Zeit, als ich noch begrenzten Einblick hatte.
2. [unterstrichen: Wer wurde alles operativ bearbeitet - mit welchem Recht?]
Genosse Mielke ist stolz auf die Erfindung des Begriffs [unterstrichen: "ideologische Diversion"] - diesen im rechtlichen Sinne verschwommenen Kautschukterminus, der später strafrechtlich untersetzt wurde und die [unterstrichen: Möglichkeit schuf, rede Abweichung von der Politik der Partei- und Staatsführung, die mit irgendwelchen Absichten westlicher Stellen zu korrespondieren schien, zu kriminalisieren] und zum Gegenstand operativer Maßnahmen zu machen. Eine Folge war auch der Standardbegriff - [unterstrichen: "feindlich-negative Kräfte".]
Eine Folge war - siehe P. 1 - ein so [unterstrichen: dichtes Gefüge der Präsenz, operativer Maßnahmen] und unterschiedlicher repressiver Schritte, daß [unterstrichen: beim Bürger der Eindruck der Allgegenwart der Staatssicherheit] entstehen mußte, der bei vielen Angst auslöste, die nun in Haß umschlägt.
3. Wenn solche Kräfte in einzelnen Situationen als konterrevolutionär bezeichnet wurden, die mit allen Mitteln der Staatsmacht zu bekämpfen sind - was Wunder, [unterstrichen: daß es dann auch zu Übergriffen kommt,] die nun das MfS so ungemein belasten. Wer hat den für den Einsatz zuständigen Leitern und Kommandeuren Orientierungen und Weisungen gegeben, mit denen die Einsatzkräfte aufgeheizt wurden Welche Ausbildung gab es für solche Einsätze? [unterstrichen: Wurden in der ganzen Welt vorhandene Erfahrungen berücksichtigt, wie bei solch hochemotionalisierten Veranstaltungen und Demonstrationen deeskaliert und die Einsatzkräfte, auch deren Emotionen, taktisch auf solche Möglichkeiten vorbereitet werden?]
Die Umwandlung des MfS in ein AfNS erfolgte im Zusammenhang mit der Neubildung der Regierung durch Ministerpräsident Hans Modrow am 17./18.11.1989. Zum Leiter des Amtes wurde Schwanitz gewählt. War Mielke als Minister für Staatssicherheit noch dem Vorsitzenden des Nationalen Verteidigungsrates der DDR und faktisch dem SED-Generalsekretär unterstellt gewesen, so ordnete man Schwanitz dem Vorsitzenden des Ministerrates unter. In der Regierungserklärung wurde dem neuen Amt vorgegeben, dass »neues Denken in Fragen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit« auch von diesem Bereich erwartet werde und dass der Apparat zu verkleinern sei. Näheres hätte in einem Gesetz geregelt werden müssen, das geplant wurde, aber nie verabschiedet worden ist. Noch am Tag seiner Wahl informierte der neue Amtschef die Mitarbeiter der Staatssicherheit, dass der »Prozess der revolutionären Erneuerung« vorbehaltlos zu unterstützen sei. Kommissionen zur Neustrukturierung wurden eingerichtet und die Diensteinheiten aufgefordert, eigene Vorschläge einzubringen. Dies waren Versuche einer technokratischen Reform, die von der alten Generalsriege angeleitet wurden. Angekündigt wurde, das Personal abzubauen – zuerst ging es um 10 %, zwei Wochen später war die Vorgabe bereits eine Reduktion um 50 %. Das alte Feindbild sollte nicht mehr gelten: »Andersdenkende« seien jetzt zu tolerieren, nur »Verfassungsfeinde« zu bekämpfen. Unklar blieb, wer Letzteren in einer Zeit zuzurechnen war, in der die Verfassung selbst zur Disposition stand. Zugleich wurde die Aktenvernichtung in diesen Wochen fortgesetzt, viele inoffizielle Mitarbeiter »abgeschaltet«. Die Mitarbeiter waren zunehmend verunsichert und demotiviert. Anfang Dezember beschleunigte sich der revolutionäre Umbruch: Am 1.12.1989 wurde die führende Rolle der SED aus der Verfassung gestrichen, am 3. trat das ZK der SED zurück, am 4. und 5.12. besetzten aufgebrachte Bürger KD und Bezirksämter des AfNS. Die Stasi-Mitarbeiter leisteten keinen gewaltsamen Widerstand. Am 5.12. trat das Kollegium des AfNS zurück. In den folgenden Tagen wurden die Leiter der meisten Hauptabteilungen und der Bezirksämter abgesetzt. Am 7.12.1989 forderte der Zentrale Runde Tisch die Auflösung des AfNS – auch mit den Stimmen der SED-Sprecher. Am 14.12. wurde durch den Ministerrat beschlossen, das AfNS aufzulösen und durch einen sehr viel kleineren Verfassungsschutz (ca. 10 000 Mitarbeiter) und einen mit ca. 4000 Mitarbeitern gegenüber der HV A fast unveränderten Nachrichtendienst zu ersetzen. In diese Dienste sollten keine ehemaligen Führungskader der Staatssicherheit übernommen werden. Parallel dazu bestand aber das »AfNS in Auflösung« fort, dessen Leiter den alten Apparat abwickeln sollten. Das war eine Ambivalenz, die das allgemeine Misstrauen weiter verstärkte und die Forderung nach vollständiger Auflösung der Geheimpolizei wieder lauter werden ließ.
Hauptverwaltung (HV) war eine Organisationseinheit in der MfS-Zentrale, die bereits ausdifferenzierte Aufgabenkomplexe in einer hierarchisch gegliederten Einheit zusammenfasst. Überwiegend durch Stellvertreter des Ministers direkt geleitet. Über das Gründungsjahrzehnt des MfS hinweg hatte nur die HV A als echte HV Bestand. Daneben war Hauptverwaltung eine Bezeichnung für Diensteinheiten im MfS ohne strukturell berechtigenden Hintergrund.
Die Hauptverwaltung A (HV A) war die Spionageabteilung des MfS, deren Bezeichnung sich an die der Spionageabteilung des KGB, 1. Verwaltung, anlehnt. Der Ordnungsbuchstabe A wurde in der Bundesrepublik oftmals, aber unzutreffenderweise mit "Aufklärung" aufgelöst. Die HV A wurde 1951 als Institut für Wirtschaftswissenschaftliche Forschung (IWF) gebildet und ging im September 1953 als HA XV in das Staatssekretariat für Staatssicherheit ein. Sie wurde im MfS von 1956 bis zur Auflösung im Juni 1990 als HV A bezeichnet.
Der Schwerpunkt nachrichtendienstlicher Tätigkeit der HV A lag in der Bundesrepublik Deutschland und Westberlin, wo sie mit Objektquellen, d. h. den IM in den nachrichtendienstlichen Zielobjekten, aktiv war.
Die HV A gliederte sich 1956 in 15, 1989 in 20 Abteilungen.
Für die operative Arbeit gegen das Bundeskanzleramt und wichtige Bundesministerien war die Abteilung I, für die gegen die bundesdeutschen Parteien die Abteilung II und für die Arbeit außerhalb Deutschlands die Abteilung III zuständig. Für die Infiltration der USA war die Abteilung XI, für die NATO und die Europäischen Gemeinschaften die Abteilung XII verantwortlich. Mit der Militärspionage war die Abteilung IV befasst, mit der Unterwanderung gegnerischer Nachrichtendienste die Abteilung IX.
Innerhalb der Hauptverwaltung war vornehmlich der Sektor Wissenschaft und Technik (SWT) mit Wissenschafts- und Technikspionage befasst, der zu diesem Zweck die Abteilung XIII bis XV sowie die Arbeitsgruppen 1, 3 und 5 unterhielt sowie eine eigene Auswertungsabteilung, die Abteilung V bzw. ab 1959 Abteilung VII.
Leiter der HV A waren 1951/52 Anton Ackermann, kurzzeitig Richard Stahlmann, 1952-1986 Markus Wolf, dann Werner Großmann und 1989/90 Bernd Fischer. Von anfangs zwölf Mitarbeitern wuchs der Apparat bis 1955 auf 430, bis 1961 auf 524 Mitarbeiter und erreichte bis 1972 einen Umfang von 1.066 hauptamtlichen Mitarbeitern. Bis 1989 wuchs die HV A auf 3.299 hauptamtliche Mitarbeiter, hinzu kamen 701 OibE (1985: 1.006) sowie 778 HIM. OibE und HIM arbeiteten verdeckt in der DDR und im Operationsgebiet. Insgesamt verfügte die HV A also zuletzt über 4.778 Mitarbeiter.
Die Anzahl der von der HV A geführten IM umfasste im Jahre 1989 rund 13.400 in der DDR und weitere 1.550 in der Bundesrepublik. Über 40 Jahre hinweg werden nach Hochrechnungen insgesamt rund 6.000 Bundesbürger und Westberliner IM der HV A gewesen sein.
1971 hervorgegangen aus dem Büro der Leitung. Seine Aufgaben waren
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Signatur: BStU, MfS, SdM, Nr. 2356, Bl. 439-443
Der ehemalige Chef der Spionageabteilung HV A, Markus Wolf, äußerte sich im November 1989 zu einer möglichen Neuausrichtung des Ministeriums für Staatssicherheit.
Im November 1989 mussten SED und Staatssicherheit unter dem Druck der Bürgerbewegung immer weiter zurückweichen. Die Diktatur befand sich in einer offenen Krise. Davon blieb auch das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) nicht verschont.
Die Amtszeit von Erich Mielke in der Staatssicherheit endete am 18. November 1989 mit der Umwandlung des Ministeriums für Staatssicherheit in das Amt für Nationale Sicherheit (AfNS) und der Wahl des neuen Amtschefs, Generalleutnant Wolfgang Schwanitz, durch die Volkskammer.
Mielkes Nachfolger mussten sich nun daran machen, die Staatssicherheit an die sich wandelnden Verhältnisse anzupassen. Dabei kam Markus Wolf ins Spiel, der 1987 ausgeschiedene, aber noch sehr aktive frühere Spionagechef. In einem Thesenpapier für den neuen Amtschef Schwanitz fasste er die aus seiner Sicht wichtigsten Aspekte zusammen.
In dem vorliegenden Dokument legt Markus Wolf, Hoffnungsträger aller Perestroika-Anhänger in der Staatssicherheit und in der SED, seine Vorstellungen über eine Reform des Ministeriums dar. Dieser war für Mielkes Nachfolger, Wolfgang Schwanitz, bestimmt. Aus seinen Unterlagen stammt das hier dokumentierte Exemplar. Die Unterstreichungen fertigte offenbar Schwanitz, der den Text aufmerksam gelesen und einzelne Passagen wenige Tage später in einer eigenen Rede zum Kurswechsel der Staatssicherheit verwendet hat (siehe 21.11.1989).
Der Text enthält scharfe Kritik an Mielkes Amtsführung, die als "absurder Absolutismus" bezeichnet wird, an seinem habituellen "Stalinismus" und an dem Feindbild der Staatssicherheit, der "ideologischen Diversion", mit dem jede kritische Äußerung kriminalisiert werden konnte. Wolf fordert einen Generationswechsel in der Stasi-Führung und eine öffentliche Auseinandersetzung mit der Vergangenheit sowie die Rehabilitierung einiger Opfer aus den 50er Jahren.
7. Dasselbe gilt für [unterstrichen: ungerechtfertigte Privilegien.]
Die Rolle es Ministers und des Ministeriums bei der Schaffung der nicht vertretbaren Privilegien für die kleine Gruppe der Führung wird unvermeidlich sichtbar werden. [unterstrichen: Wandlitz] ist ein Reizwort für die Bevölkerung, aber nur die Spitze des Eisberges. [unterstrichen: Mit dem Wissen des PS, der VRD u.a. ist eine Übersicht zu schaffen und der ZPKK zur Verfügung zu stellen.
Entsprechend ist innerhalb des Ministeriums zu verfahren.]
8. Die Klärung und Bereinigung dieser nur beispielhaft aufgeführten Fragen muß mit dem Blick nach vorn erfolgen.
Die Umstrukturierung des Organs darf [unterstrichen: nicht von den alten Strukturen und Arbeitsorientierungen ausgehen, sondern von der klaren Neudefinierung des Auftrages.]
Mit der Definierung des Auftrages und den [unterstrichen: Hauptrichtungen der Arbeit] werden sich [unterstrichen: wesentliche Einschränkungen und Reduzierungen] des
Apparates ergeben. Diese sind ohne Destabilisierung und unvertretbar Härten nur [unterstrichen: längerfristig] zu realisieren, müssen aber mit aller Konsequenz angestrebt und radikal durchgesetzt werden. Große Widerstände sind zu erwarten.
Dazu ist ein [unterstrichen: Arbeitsstab freizustellen,] der in enger Zusammenarbeit mit den Diensteinheiten (in der Regel nicht mit den Leitern) kurz-, mittel- und langfristige Lösungen vorzubereiten hat. [unterstrichen: Mögliche Sofortmaßnahmen sind unverzüglich] durchzuführen.
Übergangsregelungen für Mitarbeiter, die den Wunsch haben, auszuscheiden oder kurzfristig ausscheiden sollen, sind unter Heranziehung aller Bestimmungen für bewaffnete Organe zu treffen.
[unterstrichen: Kurzfristig müssen der Öffentlichkeit entsprechende Absichtserklärungen und wo möglich Zahlen mitgeteilt werden.]
Wichtig ist die von einer solchen Konzeption [unterstrichen: ausgehende Freimachung von Geländen, materieller Mittel] etc. Komplizierte Fragen der Sicherung der Infrastruktur sind zu klären.´
Die Umwandlung des MfS in ein AfNS erfolgte im Zusammenhang mit der Neubildung der Regierung durch Ministerpräsident Hans Modrow am 17./18.11.1989. Zum Leiter des Amtes wurde Schwanitz gewählt. War Mielke als Minister für Staatssicherheit noch dem Vorsitzenden des Nationalen Verteidigungsrates der DDR und faktisch dem SED-Generalsekretär unterstellt gewesen, so ordnete man Schwanitz dem Vorsitzenden des Ministerrates unter. In der Regierungserklärung wurde dem neuen Amt vorgegeben, dass »neues Denken in Fragen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit« auch von diesem Bereich erwartet werde und dass der Apparat zu verkleinern sei. Näheres hätte in einem Gesetz geregelt werden müssen, das geplant wurde, aber nie verabschiedet worden ist. Noch am Tag seiner Wahl informierte der neue Amtschef die Mitarbeiter der Staatssicherheit, dass der »Prozess der revolutionären Erneuerung« vorbehaltlos zu unterstützen sei. Kommissionen zur Neustrukturierung wurden eingerichtet und die Diensteinheiten aufgefordert, eigene Vorschläge einzubringen. Dies waren Versuche einer technokratischen Reform, die von der alten Generalsriege angeleitet wurden. Angekündigt wurde, das Personal abzubauen – zuerst ging es um 10 %, zwei Wochen später war die Vorgabe bereits eine Reduktion um 50 %. Das alte Feindbild sollte nicht mehr gelten: »Andersdenkende« seien jetzt zu tolerieren, nur »Verfassungsfeinde« zu bekämpfen. Unklar blieb, wer Letzteren in einer Zeit zuzurechnen war, in der die Verfassung selbst zur Disposition stand. Zugleich wurde die Aktenvernichtung in diesen Wochen fortgesetzt, viele inoffizielle Mitarbeiter »abgeschaltet«. Die Mitarbeiter waren zunehmend verunsichert und demotiviert. Anfang Dezember beschleunigte sich der revolutionäre Umbruch: Am 1.12.1989 wurde die führende Rolle der SED aus der Verfassung gestrichen, am 3. trat das ZK der SED zurück, am 4. und 5.12. besetzten aufgebrachte Bürger KD und Bezirksämter des AfNS. Die Stasi-Mitarbeiter leisteten keinen gewaltsamen Widerstand. Am 5.12. trat das Kollegium des AfNS zurück. In den folgenden Tagen wurden die Leiter der meisten Hauptabteilungen und der Bezirksämter abgesetzt. Am 7.12.1989 forderte der Zentrale Runde Tisch die Auflösung des AfNS – auch mit den Stimmen der SED-Sprecher. Am 14.12. wurde durch den Ministerrat beschlossen, das AfNS aufzulösen und durch einen sehr viel kleineren Verfassungsschutz (ca. 10 000 Mitarbeiter) und einen mit ca. 4000 Mitarbeitern gegenüber der HV A fast unveränderten Nachrichtendienst zu ersetzen. In diese Dienste sollten keine ehemaligen Führungskader der Staatssicherheit übernommen werden. Parallel dazu bestand aber das »AfNS in Auflösung« fort, dessen Leiter den alten Apparat abwickeln sollten. Das war eine Ambivalenz, die das allgemeine Misstrauen weiter verstärkte und die Forderung nach vollständiger Auflösung der Geheimpolizei wieder lauter werden ließ.
Hauptverwaltung (HV) war eine Organisationseinheit in der MfS-Zentrale, die bereits ausdifferenzierte Aufgabenkomplexe in einer hierarchisch gegliederten Einheit zusammenfasst. Überwiegend durch Stellvertreter des Ministers direkt geleitet. Über das Gründungsjahrzehnt des MfS hinweg hatte nur die HV A als echte HV Bestand. Daneben war Hauptverwaltung eine Bezeichnung für Diensteinheiten im MfS ohne strukturell berechtigenden Hintergrund.
Die Hauptverwaltung A (HV A) war die Spionageabteilung des MfS, deren Bezeichnung sich an die der Spionageabteilung des KGB, 1. Verwaltung, anlehnt. Der Ordnungsbuchstabe A wurde in der Bundesrepublik oftmals, aber unzutreffenderweise mit "Aufklärung" aufgelöst. Die HV A wurde 1951 als Institut für Wirtschaftswissenschaftliche Forschung (IWF) gebildet und ging im September 1953 als HA XV in das Staatssekretariat für Staatssicherheit ein. Sie wurde im MfS von 1956 bis zur Auflösung im Juni 1990 als HV A bezeichnet.
Der Schwerpunkt nachrichtendienstlicher Tätigkeit der HV A lag in der Bundesrepublik Deutschland und Westberlin, wo sie mit Objektquellen, d. h. den IM in den nachrichtendienstlichen Zielobjekten, aktiv war.
Die HV A gliederte sich 1956 in 15, 1989 in 20 Abteilungen.
Für die operative Arbeit gegen das Bundeskanzleramt und wichtige Bundesministerien war die Abteilung I, für die gegen die bundesdeutschen Parteien die Abteilung II und für die Arbeit außerhalb Deutschlands die Abteilung III zuständig. Für die Infiltration der USA war die Abteilung XI, für die NATO und die Europäischen Gemeinschaften die Abteilung XII verantwortlich. Mit der Militärspionage war die Abteilung IV befasst, mit der Unterwanderung gegnerischer Nachrichtendienste die Abteilung IX.
Innerhalb der Hauptverwaltung war vornehmlich der Sektor Wissenschaft und Technik (SWT) mit Wissenschafts- und Technikspionage befasst, der zu diesem Zweck die Abteilung XIII bis XV sowie die Arbeitsgruppen 1, 3 und 5 unterhielt sowie eine eigene Auswertungsabteilung, die Abteilung V bzw. ab 1959 Abteilung VII.
Leiter der HV A waren 1951/52 Anton Ackermann, kurzzeitig Richard Stahlmann, 1952-1986 Markus Wolf, dann Werner Großmann und 1989/90 Bernd Fischer. Von anfangs zwölf Mitarbeitern wuchs der Apparat bis 1955 auf 430, bis 1961 auf 524 Mitarbeiter und erreichte bis 1972 einen Umfang von 1.066 hauptamtlichen Mitarbeitern. Bis 1989 wuchs die HV A auf 3.299 hauptamtliche Mitarbeiter, hinzu kamen 701 OibE (1985: 1.006) sowie 778 HIM. OibE und HIM arbeiteten verdeckt in der DDR und im Operationsgebiet. Insgesamt verfügte die HV A also zuletzt über 4.778 Mitarbeiter.
Die Anzahl der von der HV A geführten IM umfasste im Jahre 1989 rund 13.400 in der DDR und weitere 1.550 in der Bundesrepublik. Über 40 Jahre hinweg werden nach Hochrechnungen insgesamt rund 6.000 Bundesbürger und Westberliner IM der HV A gewesen sein.
1971 hervorgegangen aus dem Büro der Leitung. Seine Aufgaben waren
Die Verwaltung Rückwärtige Dienste (VRD) entstand 1974 aus der HA VuW, der HV B und ihr unterstellter bzw. zugeordneter Diensteinheiten sowie der Abteilung Finanzen. Ihre Aufgaben waren die materiell-technische Sicherstellung der Arbeit der MfS-Diensteinheiten, insbesondere durch Planung und Bereitstellung des materiellen Bedarfs, Bestands- und Lagerhaltung sowie der Bilanzierung.
Dazu gehörten auch Sicherungsaufgaben zur Unterbindung jedweder Feindtätigkeit im Anleitungsbereich, vor allem in Betrieben im bzw. beim MfS sowie Erfassung, Lagerung und Verteilung und Verwertung der in den Diensteinheiten des MfS angefallenen Asservate mit Ausnahme von Zahlungsmitteln, Schmuck und Edelmetallen.
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"Geheimdienstliches Informationsinteresse" an Markus Wolf Dokument, 2 Seiten
Beurteilung des Leiters der Hauptverwaltung A Markus Wolf Dokument, 2 Seiten
Schreiben der SED-Grundorganisation der BV Erfurt an den Vorsitzenden des Ministerrates Hans Modrow Dokument, 2 Seiten
Schreiben von Markus Wolf zum Artikel "Fünf Jahre Staatssicherheit" Dokument, 2 Seiten