Signatur: BStU, MfS, HA IX, Nr. 1003, Bl. 94
Am 4. Juni 1989 sollte in Leipzig der zweite Pleiße-Gedenkmarsch stattfinden – eine Demonstration der weiter erstarkenden Umweltbewegung. Stasi-Minister Erich Mielke befahl, die Veranstaltung zu verhindern.
Im SED-Staat war die Umweltpolitik der "Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik" untergeordnet. Umweltdaten unterlagen in der DDR seit einem Beschluss des Ministerrates vom 16. November 1982 mehr denn je der Geheimhaltung. Umweltverschmutzungen und deren gesundheitliche Folgen wurden in der offiziellen Berichterstattung totgeschwiegen. Dennoch waren immer weniger Menschen bereit, die schwerwiegenden Folgen des ökologischen Raubbaus in der DDR stillschweigend hinzunehmen.
In Leipzig gründete sich 1981 als eine der ersten Ökologiegruppen in der DDR die Arbeitsgruppe Umweltschutz (AGU). Befasste sich die AGU anfangs noch mit Einzelproblemen des Umweltschutzes, brachte sie ab 1988 weitere gesellschaftliche Aspekte, wie Demokratiedefizite, zur Sprache, die das System grundlegend hinterfragten. Am 5. Juni 1988 - dem Weltumwelttag - organisierte die Gruppe den "1. Pleiße-Gedenkumzug". Demonstrantinnen und Demonstranten machten an diesem Tag auf die Verschmutzung des Flusses Pleiße aufmerksam, der ursprünglich als Lebensader der Stadt Leipzig galt. Er wurde "verrohrt, verschüttet, abgedeckt und unterirdisch abgeleitet", weil er biologisch tot war und eine enorme Geruchsbelästigung darstellte. Im Volksmund als "Rio Phenole" bezeichnet, stand er beispielhaft für die Umweltsituation der Stadt und der geschundenen Region rings um Leipzig.
Am 4. Juni 1989 sollte dann der zweite Pleiße-Gedenkmarsch in Leipzig stattfinden. Bereits im Vorfeld waren Personen festgenommen oder unter Hausarrest gestellt worden. Der Minister für Staatssicherheit, Erich Mielke, informierte im vorliegenden Schreiben: "Die erforderlichen Maßnahmen zur Unterbindung dieser Aktivitäten wurden eingeleitet." So verweigerte die Stadt Leipzig dem Marsch, der in die Innenstadt führen sollte, eine behördliche Genehmigung.
Dennoch versammelten sich rund 500 Menschen um gegen die Umweltbedingungen zu demonstrieren. Polizei und Stasi zerschlugen die Versammlung und nahmen zahlreiche Personen vorübergehend fest; einige Teilnehmer erhielten hohe Ordnungsstrafen.
Ministerrat der Deutschen Demokratischen Republik
Ministerium für Staatssicherheit
Der Minister
Berlin, 30. 5. 1989
[handschriftliche Ergänzung: Ausgewertet in DH vom 30/31.5.89]
Stellvertreter des Ministe
Diensteinheiten
Leiter
Vertrauliche Verschlußsache
VVS-0008
MfS-Nr. 42/89
Ausf. Bl. 1 bis /
Maßnahmen zur vorbeugenden Verhinderung von einer geplanten provokatorisch-demonstrativen öffentlichkeitswirksamen Aktion in Leipzig
Feindlich-negative Kräfte, die dem politischen Untergrund sowie den Antragstellern auf ständige Ausreise in die BRD zuzuordnen sind, planen am 4. Juni 1989 im Zusammenhang mit dem "Weltumwelttag" einen sog. "Pleißemarsch" in provokatorischer Absicht in Leipzig durchzuführen.
Dieser "Marsch" soll im Territorium zwischen der "Paul Gerhard Kirche" in Leipzig-Connewitz der reformierten Kirche in Leipzig-Mitte und den dort geplanten Gottesdiensten entlang der Pleiße durchgeführt werden.
Die erforderlichen Maßnahmen zur Unterbindung dieser Aktivitäten wurden eingeleitet.
Bekanntwerdende Hinweise auf geplante feindliche Aktivitäten sind sofort meinem Stellvertreter, Genossen Generaloberst Mittig, und dem Leiter der Bezirksverwaltung Leipzig zu übermitteln.
Sie haben die in Ihrem Verantwortungsbereich für derartige provokative Aktivitäten bekannten feindlichenElemente unter operative Kontrolle zu stellen und diese durch Belehrungen, Auflagen und gegebenenfalls zeitweilige Zuführung an der Anreise nach Leipzig am 4. Juni 1989 zu hindern.
[Unterschrift: Mielke]
Armeegeneral
Im Zusammenhang mit der Verwaltungsreform der DDR vom Sommer 1952 wurden die fünf Länderverwaltungen für Staatssicherheit (LVfS) in 14 Bezirksverwaltungen umgebildet. Daneben bestanden die Verwaltung für Staatssicherheit Groß-Berlin und die Objektverwaltung "W" (Wismut) mit den Befugnissen einer BV. Letztere wurde 1982 als zusätzlicher Stellvertreterbereich "W" in die Struktur der BV Karl-Marx-Stadt eingegliedert.
Der Apparat der Zentrale des MfS Berlin und der der BV waren analog strukturiert und nach dem Linienprinzip organisiert. So waren die Hauptabteilung II in der Zentrale bzw. die Abteilungen II der BV für die Schwerpunkte der Spionageabwehr zuständig usw. Auf der Linie der Hauptverwaltung A waren die Abteilung XV der BV aktiv. Einige Zuständigkeiten behielt sich die Zentrale vor: so die Militärabwehr (Hauptabteilung I) und die internationalen Verbindungen (Abteilung X) oder die Arbeit des Büros für Besuchs- und Reiseangelegenheiten in Westberlin (Abteilung XVII). Für einige Aufgabenstellungen wurde die Bildung bezirklicher Struktureinheiten für unnötig erachtet. So gab es in den 60er und 70er Jahren für die Abteilung XXI und das Büro der Leitung II Referenten für Koordinierung (RfK) bzw. Offiziere BdL II. Für spezifische Aufgaben gab es territorial bedingte Diensteinheiten bei einigen BV, z. B. in Leipzig ein selbständiges Referat (sR) Messe, in Rostock die Abt. Hafen.
An der Spitze der BV standen der Leiter (Chef) und zwei Stellv. Operativ. Der Stellv. für Aufklärung fungierte zugleich als Leiter der Abt. XV. Die Schaffung des Stellvertreterbereichs Operative Technik im MfS Berlin im Jahre 1986 führte in den BV zur Bildung von Stellv. für Operative Technik/Sicherstellung.
Eine Zuführung ist eine polizeirechtliche Maßnahme der kurzzeitigen Freiheitsentziehung, wurde zunächst aus der polizeirechtlichen Generalklausel von § 14 des in der DDR bis 1968 geltenden Preußischen Polizeiverwaltungsgesetzes vom 1.6.1931 abgeleitet. Zuführungen von Personen konnten zur Feststellung der Personalien sowie "zur Klärung eines Sachverhalts" (Sachverhaltsprüfung) durchgeführt werden.
Seit 1968 bildete § 12 VP-Gesetz die Rechtsgrundlage für polizeirechtliche Zuführungen. Im Rahmen des strafprozessualen Prüfungsstadiums war auch eine Zuführung Verdächtiger zur Befragung nach § 95 Abs. 2 StPO/1968 als strafprozessuale Sicherungsmaßnahme zulässig. In beiden Fällen durfte die Zeitdauer 24 Stunden nicht überschreiten. Vom MfS wurden Zuführungen auch als taktisches Instrument genutzt. Sie konnten in eine Inhaftierung münden, aber auch zur Einschüchterung oder zur Anwerbung unter Druck genutzt werden.
Hinweis auf geplante Aktivitäten kirchlicher Umweltgruppen zum Weltumwelttag 1988 Dokument, 1 Seite
Hinweis zu einem "Pleiße-Gedenkumzug" anlässlich des Weltumwelttages am 5. Juni 1988 in Leipzig Dokument, 2 Seiten
Eingabe zur Pleiße an den Ministerrat der DDR Dokument, 2 Seiten
Bericht zum Trägerkreis für die Schaffung eines Kommunikationszentrums Dokument, 4 Seiten