"Monatsübersicht Nr. 7/89 über aktuelle Probleme der Lageentwicklung in sozialistischen Staaten"
Signatur: BStU, MfS, ZAIG, Nr. 5337, Bl. 109-147
Die Entwicklung demokratischer Reformen in den anderen Ostblockstaaten verfolgte die DDR-Regierung sehr genau. Die Staatssicherheit berichtete der Partei- und Staatsführung im Juli 1989 daher über die politische Situation in den "sozialistischen Bruderländern".
Im Sommer 1989 war bereits seit Monaten zu erkennen, dass sich die DDR-Führung mit ihrem reformfeindlichen Kurs von den Entwicklungen der anderen Warschauer-Pakt-Staaten isolierte (vgl. 7.4.1989). Auch der SED-Spitze war das nicht verborgen geblieben, sie wiegte sich aber in dem Glauben, die DDR sei eine Insel der Stabilität, während die Reformstaaten (Ungarn, Polen und Sowjetunion) immer tiefer in Turbulenzen gerieten. Im Juni und Juli 1989 kamen mehrere Ereignisse zusammen, die zeigten, wie illusionär die Auffassung war, die DDR könne sich dem entziehen.
Im Nachbarland Polen errang die oppositionelle Solidarność bei den ersten halbfreien Wahlen am 4. und am 18. Juni 1989 einen erdrutschartigen Sieg. Bei den Verhandlungen am Runden Tisch beharrte die regierende "Koalition" aus Polnischer Vereinigter Arbeiterpartei (PVAP) und Blockparteien (Bauernpartei und Demokratische Partei) für die halbfreien Wahlen auf einem festen Kontingent von 65 Prozent der Mandate des Sejm (des Parlaments).
Der vorliegende Bericht der Zentralen Auswertungs- und Informationsgruppe (ZAIG) der Staatssicherheit umfasst neben der Wahl von General Wojciech Jaruzelski zum Präsidenten und die Entwicklung in der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei (PVAP) auch die wirtschaftliche Lage der Volksrepublik Polen. Ebenfalls werden die politischen Entwicklungen in den anderen staatssozialistischen Staaten in den Monaten Juni und Juli 1989 aus Sicht der DDR-Geheimpolizei zusammengefasst.
Metadaten
- Datum:
- 20.7.1989
- Rechte:
- BStU
- Überlieferungsform:
- Dokument
1. Volksrepublik Polen
Genosse Jaruzelski zum Präsidenten der VRP gewählt
Am 19.07. wurde Genosse Jaruzelski zum Präsidenten der VRP gewählt. Die Wahl erfolgte im 1. Wahlgang mit 270 Stimmen bei 233 Gegenstimmen, 34 Enthaltungen und 7 ungültigen Stimmen. Damit erhielt Genosse Jaruzelski mit einer Stimme Mehrheit genau die von der Verfassung geforderte Stimmenzahl. Von erheblicher Bedeutung für diesen Wahlausgang war die Nichtbeteiligung von 5 Solidarnosc Senatoren an der Abstimmung.
In den Stellungnahmen zur Wahl des Präsidenten der Fraktionen der Vereinigten Bauernpartei (ZSL) und der Demokratischen Partei (SD) wurde deren Uneinigkeit zur Frage des Kandidaten festgestellt.
Die "Solidarnosc"-Fraktion unterstrich, daß sie durch politische Vereinbarungen und die internationale Lage gezwungen sei, den Kandidat der Koalition zu akzeptieren.
Genosse Jaruzelski erklärte nach der Vereidigung, daß er sich angesichts der Schwere der bevorstehenden Aufgaben - Reformen in der Ökonomie, die Schaffung einer demokratischen Ordnung, die Lösung komplizierter Probleme des Lebens der Menschen - für eine rasche Bildung einer Regierung der nationalen Verständigung ausspricht.
Situation innerhalb der PVAP
Nach der Wahlniederlage im Juni sind verbreitet Erscheinungen von Unsicherheit und Resignation in der PVAP sowie Meinungsverschiedenheiten innerhalb des Sekretariats und des Politbüros des ZK der PVAP aufgetreten.
Polnische Genossen verweisen mit Besorgnis auf die Zuspitzung der Situation innerhalb der PVAP. Es gäbe zwar keine größere Zahl an Parteiaustritten, jedoch viele Forderungen aus der Mitgliedschaft nach personellen, inhaltlichen und programmatischen Veränderungen und Konsequenzen. Dabei seien zwei Tendenzen zu verzeichnen: