Signatur: BStU, MfS, BV Dresden, KD Dresden-Stadt, Nr. 92804, Bd. 2, Bl. 20
Im Vorfeld der Kommunalwahlen im Mai 1989 brachten immer mehr DDR-Bürgerinnen und -Bürger ihren Unmut über die SED-Regierung zum Ausdruck. Ein offener Brief der Initiativgruppe "Absage an Praxis und Prinzip der Abgrenzung" kritisiert das bisherige Vorgehen bei Wahlen und wirbt dafür, diese als demokratisches Recht statt als "bloßes Ritual" zu begreifen.
Am 7. Mai 1989 waren die Bürgerinnen und Bürger der DDR aufgerufen, anlässlich der Kommunalwahlen den Kandidaten der Nationalen Front ihre Stimme zu geben. Wie immer stand nur diese eine Liste zur Auswahl. Mit "Ja" zu stimmen, bedeutete, den Stimmzettel zu falten und in die Wahlurne einzuwerfen. Für ein "Nein" musste jeder einzelne Kandidat in den obligatorisch aufgebauten Wahlkabinen sauber waagerecht durchgestrichen werden. Andere Kenntlichmachungen führten zu einer ungültigen Stimmenabgabe. Im Volksmund wurden die Wahlen daher auch als "Zettelfalten" bezeichnet.
Schon bei den vorangegangenen Volkskammerwahlen waren über westliche Medien Vorwürfe der Wahlfälschung öffentlich geworden. Anfang 1989 riefen verschiedene Gruppen von Oppositionellen zum Wahlboykott auf, forderten freie Wahlen und die Beobachtung der Stimmenauszählung. Letztere war nach § 37 (1) des DDR-Wahlgesetzes öffentlich und auch nach der Verfassung der DDR nicht verboten.
In der gesamten DDR war es im Vorfeld der Wahlen zu verschiedenen "Vorkommnissen" gekommen, wobei die Stasi regionale Schwerpunkte ausmachte. Zu den meisten Vorfällen kam es in der Hauptstadt Berlin, den Bezirken Karl-Marx-Stadt, Dresden, Leipzig, Halle und Magdeburg. Die Art und Weise der "Vorkommnisse" glich sich dabei: Es gingen bei den Wahlkommissionen und Amtsträgern zum Teil anonyme Schreiben und Anrufe ein, zahlreiche "Hetzlosungen" und "Hetzzettel" wurden verbreitet.
Ziel der Kritik waren das Wahlsystem und die Missstände in der DDR. Der Stasi war dabei durchaus bewusst, dass derartige Proteste nur die Spitze des Eisbergs waren. Unter der Oberfläche wurden zahlreiche weniger deutlich artikulierte "Wahlvorbehalte" sichtbar, die beispielsweise in Form der Verweigerung der Annahme der Wahlbenachrichtigungen oder der Ankündigung der Wahlverweigerung zum Ausdruck kamen. Die Stasi beobachtete daher sehr genau die Stimmung im Vorfeld der Wahlen und versuchte mit Hilfe von Inoffiziellen Mitarbeitern den Ursachen der "Wahlvorbehalte" auf den Grund zu gehen.
Denn verschiedene Einzelpersonen, Initiativgruppen und kirchliche Kreise forderten eine bessere Informationspolitik im Vorfeld der Wahlen, um "demokratische Rechte auf Mitgestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse" auch richtig wahrnehmen zu können. Sie wollten den "gesamten Wahlvorgang durchschaubar" machen und so den "Verdacht einer Manipulierung" der Wahlergebnisse ausräumen.
Das vorliegende Dokument beinhaltet Auszüge eines offenen Briefs der Initiativgruppe "Absage an Praxis und Prinzip der Abgrenzung", der sich an die Wählerinnen und Wähler in der DDR richtet. In dem Text heißt es, "den Zettel 'wahllos' in die Urne zu werfen", sei zur Gewohnheit geworden und der von Staat und SED verlangte "Bekenntnis- und Zustimmungscharakter der Wahl" sei zu wenig hinterfragt worden. Weiterhin erläutert die Gruppe in ihrem Brief, wann ein Stimmzettel als "Ja"-Stimme, "Nein"-Stimme oder "Ungültig" gewertet werde.
Offener Brief an Wählerinnen und Wähler (Auszüge) [Überschrift wurde am rechten Rand mit zwei größeren, farblichen Ausrufezeichen markiert.]
I. Wahl oder Bekenntnis
(...) Dort wo es um wichtige Fragen menschlicher Existenz geht, bedarf es schon der Mühe, die Auswirkungen einer Entscheidung in der Zukunft zu bedenken und verantwortlich auf Hoffnung hin zu wählen.
Ob dies auch für politische Wahlen gilt, wie sie zu den Volksvertretungen auf kommunaler Ebene in diesem Jahr in der DDR bevorstehen, wird mancher mit Skepsis beurteilen. Zu sehr wird die Wahl als bloßes Ritual empfunden, mit dem Zweck, eine längst festgelegte Politik formal zu legitimieren. Wesentlich zu diesem Bewußtsein beigetragen hat der von Verantwortlichen in Partei und Staat geförderte und oft genug geforderte Bekenntnis- und Zustimmungscharakter der Wahl. Die Mehrzahl von uns hat sich dieses Verständnis aufdrängen lassen, sodaß es weiterhin zur Gewohnheit geworden ist, den Zettel "wahllos" in die Urne zu werfen.
II. Wahl - eine Form öffentlicher Meinungsäußerung
Wahlen sind eine Möglichkeit, seine Meinung in allgemeiner Form öffentlich wirksam zu äußern. Und wie auch immer der Einzelne sich entscheidet, in keinem Falle berechtigt seine Haltung zu dem Verdacht, er wolle kein grundsätzliches "Ja" zum Leben hier in dieser Gesellschaft.
Die Wahlen zu den kommunalen Vertretungen sind eine Chance, [unterstrichen und farblich markiert: den Kreis von [unleserlich]chweigen und gedankenlosem Handeln zu durchbrechen.] (...) Fragen, die viele Bürger beunruhigen: Das Fehlen von Offenheit und Öffentlichkeit, die qualmenden Schlote des benachbarten Werkes, die Zerstörung sozialer Beziehung durch großflächige Sanierungen und daneben ein weiterer schneller Verfall von Altbausubstanz, Versorgungsprobleme, Mängel und Schwerfälligkeit der Verwaltung. Es muß das Anliegen der gewählten Vertreter der Bürger sein, Öffentlichkeit herzustellen, damit gemeinsam Lösungen gesucht (...) werden. [unterstrichen und farblich markiert: Wo Abgeordnete dafür nicht oder nur wenig bereit sind], bleiben die Chancen [unterstrichen und farblich markiert: für eine Veränderung gering.] (...)
[Absatz wurde am rechten Rand handschriftlich markiert.]
III. Wahlzettel und eigene Entscheidung
Wirklich wählen bedeutet, in der Verantwortung für die notwendige Entwicklung in allen gesellschaftlichen Bereichen (...) für die Kandidaten zu stimmen, die am ehesten dieser Aufgabe gerecht werden können. Wählerversammlungen und die Vorstellung der Kandidaten sind eine Möglichkeit, etwas über die Kandidaten zu erfahren.
Bei der Wahl selbst [unterstrichen und farblich markiert: kommt es darauf an,] die Liste der Kandidaten in der Wahlkabine [unterstrichen und farblich markiert: zu prüfen] und sich für eine der Möglichkeiten des Umgangs mit dem Wahlzettel [unterstrichen und farblich: zu entscheiden,] wie es auch Gründe geben kann, sich der [unleserlich]timme zu enthalten und nicht an der Wahl teilzunehmen.
[unterstrichen und farblich markiert: (Zwei Drittel] der Kandidaten auf dem Wahlzettel sind unmittelbar als Abgeordnete vorgesehen. [unterstrichen und farblich markiert: Die Verbleibenden] gelten als Nachfolgekandidaten. Für den Fall, daß durch mehrheitliche Streichung eines Kandidaten dieser nicht gewählt wird, rückt ein Nachfolgekandidat auf. Für das allgemeine Wahlergebnis gilt ein Wahlzettel [unterstrichen und farblich markiert: ohne Aenderungen als "[farblich hervorgehoben: Ja]"-Stimme], ebenso, wenn nur einzelne Kandidaten gestrichen sind.
[unterstrichen und farblich markiert: Als "[farblich hervorgehoben: Nein]"-Stimme] wird gewertet, wenn alle Kandidaten einzeln gestrichen sind. [unterstrichen und farblich markiert: "[farblich hervorgehoben: Ungültig]" wird ein Wahlzettel], wenn die Namensliste durchkreuzt ist.)
Zur [unterstrichen und farblich markiert: Mündigkeit] gehört, sich [unterstrichen und farblich markiert: nicht eine Entscheidung] aufdrängen zu lassen, sondern die eigene geltend zu machen. Das Recht, [unterstrichen und farblich: zu wählen] sollte wahrgenommen und nicht einer Verpflichtung zum Bekenntnis genüge getan werden.
Es ist die Hoffnung auf Veränderung, die in uns selbst wirken muß und Zeichen setzt, damit sich auch für andere zum Motiv ihres gesellschaftlichen Handeln werden kann.
(...)
Initiativgruppe "Absage an Praxis und Prinzip der Abgrenzung"
Inoffizielle Mitarbeiter (IM) waren das wichtigste Instrument des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS), um primär Informationen über Bürger, die Gesellschaft, ihre Institutionen und Organisationen der DDR oder im Ausland zu gewinnen. Unter Umständen hatten IM auf Personen oder Ereignisse in der DDR steuernden Einfluss zu nehmen.
In der DDR-Gesellschaft hießen sie "Spitzel", "Denunzianten" oder "Kundschafter". Mit der deutschen Einheit hat sich die Bezeichnung Inoffizieller Mitarbeiter des MfS für die heimlichen Zuträger etabliert. Sie lieferten u. a. Informationen über Stimmungen und Meinungen in der Bevölkerung.
Die SED-Führung wollte stets über die konkrete Situation und Lage in der DDR unterrichtet sein. Die IM hatten den Auftrag, "staatsgefährdende" Bestrebungen zu ermitteln, was beim MfS "politisch ideologische Diversion" bzw. "politische Untergrundtätigkeit" hieß. Der Bogen hierfür war weit gespannt und reichte von einer privaten Meinungsäußerung bis hin zu politischen Aktivitäten. Überdies sollten sie, wenn auch selten, direkt auf gesellschaftliche Entwicklungen oder einzelne Personen einwirken.
Die IM waren das wichtigste Repressionsinstrument in der DDR. IM wurden auf bestimmte Schwerpunkte angesetzt, von denen tatsächliche oder vermeintliche Gefahren ausgehen konnten. Diese Objekte und Territorien, Bereiche oder Personen waren so zahlreich, dass die geheimpolizeiliche Durchdringung tendenziell den Charakter einer flächendeckenden Überwachung annahm.
Die Anzahl der vom MfS geführten inoffiziellen Mitarbeiter umfasste im Jahre 1989 ungefähr 189.000 IM, darunter 173.000 IM der Abwehrdiensteinheiten, ferner 13.400 IM in der DDR und 1.550 IM in der Bundesrepublik, die von der Hauptverwaltung A geführt wurden, sowie diverse andere wie Zelleninformatoren usw. Auf 89 DDR-Bürger kam somit ein IM. In der Zeit von 1950 bis 1989 gab es insgesamt ca. 620.000 IM.
Die Entwicklung des IM-Netzes ist nicht allein von einem kontinuierlichen Anstieg geprägt, sondern verweist auf besondere Wachstumsphasen in Zeiten innergesellschaftlicher Krisen wie dem 17. Juni 1953 oder am Vorabend des Mauerbaus. Im Zuge der deutsch-deutschen Entspannungspolitik wurde das IM-Netz ebenfalls erweitert. So umfasste es Mitte der 70er Jahre – hochgerechnet – über 200.000 IM. Angesichts wachsender oppositioneller Bewegungen hatte es in den 80er Jahren gleichfalls ein hohes Niveau.
Die flächendeckende Überwachung der Gesellschaft fiel regional recht unterschiedlich aus. Im Land Brandenburg, das die Bezirke Cottbus, Frankfurt (Oder) und Potsdam vereint, war sie stärker als in Thüringen. Die höchste IM-Dichte wies der ehemalige Bezirk Cottbus auf.
Das MfS operierte formal nach territorialen Gesichtspunkten und Sicherungsbereichen, setzte jedoch operative Schwerpunkte in der geheimpolizeilichen Arbeit. Bezogen auf das Gesamtministerium lagen diese – sowohl auf Kreis-, als auch auf Bezirks- und Hauptabteilungsebene – bei der Volkswirtschaft, der Spionageabwehr und auf der "politischen Untergrundtätigkeit", der "Bearbeitung " von oppositionellen Milieus und den Kirchen.
Die Motive zur Kooperation mit dem MfS waren überwiegend ideeller, seltener materieller Natur, noch seltener war Erpressung der Grund. Die Kooperation währte durchschnittlich sechs bis zehn Jahre oder länger. Augenfällig ist, dass darunter nicht wenige soziale Aufsteiger waren. Der Anteil von weiblichen IM lag in der DDR bei 17 Prozent, in der Bundesrepublik bei 28 Prozent. Über die Hälfte der IM war Mitglied der SED. Von den 2,3 Mio. Mitgliedern der Partei ausgehend, waren 4 bis 5 Prozent zuletzt inoffiziell aktiv, d. h. jedes zwanzigste SED-Mitglied.
Das MfS differenzierte IM nach Kategorien: Gesellschaftliche Mitarbeiter für Sicherheit, IM zur Sicherung und Durchdringung des Verantwortungsbereichs, IM im besonderen Einsatz, Führungs-IM und IM zur Sicherung der Konspiration und des Verbindungswesens. Die wichtigste Kategorie waren IM mit "Feindverbindungen" bzw. solche, die Personen zu "bearbeiten" hatten, die "im Verdacht der Feindtätigkeit" standen. Im Laufe der 80er Jahre nahm der Anteil von IM in der Kategorie IMB bis Dezember 1988 auf rund 3.900 zu.
Der Anteil von Bundesbürgern oder Ausländern unter den IM des MfS betrug nicht einmal 2 Prozent. 1989 waren mindestens 3.000 Bundesbürger inoffiziell im Dienste des MfS, zusätzlich mehrere Hundert Ausländer. In der Zeit von 1949 bis 1989 waren insgesamt mindestens 12.000 Bundesbürger und Westberliner IM.
Die operativen Ziele des MfS waren über die gesamte Bundesrepublik Deutschland verteilt. Darüber hinaus gab es Schwerpunkte in Europa, im Nahen Osten und Asien, nachgeordnet auch in Afrika und Lateinamerika. Nachrichtendienstliche Schwerpunkte waren vor allem die Wissenschafts- und Technikspionage, erst danach die politische und mit etwas Abstand die Militärspionage. Die Bundesrepublik Deutschland wurde folglich vor allem als Ressource zur Systemstabilisierung genutzt.
Die politische Spionage diente vornehmlich dazu, die politische Gefährdungslage des herrschenden Systems in der DDR bestimmen zu können. Dieses Profil deutet an, dass die Spionage der Bewahrung des Status quo dienen sollte. Von einer Unterwanderung der Bundesrepublik war die Geheimpolizei zahlenmäßig weit entfernt. Vielmehr waren ihre inoffiziellen Mitarbeiter damit beschäftigt, das DDR-System zu stabilisieren.
Wahlfall '89 - Dokumentation der Opposition über Wahlfälschungen Dokument, 32 Seiten
Beschluss der 22. Landessynode Sachsens zu den Kommunalwahlen 1989 Dokument, 1 Seite
Information über die Lage im Vorfeld der Kommunalwahlen von 1989 in Dresden Dokument, 11 Seiten
Aktivitäten von Bürgerrechtsgruppen zu den Kommunalwahlen im Mai 1989 Dokument, 7 Seiten