Signatur: BStU, MfS, SED-Kreisleitung, Nr. 4581, Bl. 29-32
Das Verbot der Monatszeitschrift "Sputnik" löste in der DDR allerorts Proteste aus. Auch Stasi-Angehörige schrieben Beschwerdebriefe an das Zentralkomitee der SED. Bei anschließenden Aussprachen sollten sie ihren kritischen Standpunkt zu der Zensurmaßnahme aufgeben. Auf einer außerordentlichen Versammlung der zuständigen SED-Grundorganisation wurde das Fehlverhalten eines Mitarbeiters der Hauptverwaltung Aufklärung (HV A) erörtert.
Fast alle Angehörigen des Ministeriums für Staatssicherheit waren SED-Mitglieder. Ihre Parteiführung aber war in den vorangegangenen Monaten auf Distanz zur sowjetischen "Bruderpartei" gegangen. Das schuf gerade für die Stasi-Offiziere eine höchst problematische Situation, weil sie ein besonders enges Verhältnis zu den "Freunden" pflegten, sich sogar - nach sowjetischem Vorbild - selbst als "Tschekisten" bezeichneten.
Gerade SED-Mitglieder waren über eine demonstrative Maßnahme erbost, die im November 1988 wahrscheinlich auf Weisung Erich Honeckers ergriffen worden war: Man hatte die (deutschsprachige) sowjetische Zeitschrift "Sputnik" verboten. Dagegen gab es Hunderte von Protestschreiben, die aus allen Teilen der Republik beim SED-Zentralkomitee eintrafen, darunter sogar von einzelnen MfS-Offizieren. Einen Bericht darüber, wie mit ihnen verfahren worden ist, legte im Januar 1989 die Kontrollkommission der SED vor, die im Ministerium für Staatssicherheit auf die Parteidisziplin zu achten hatte. Interessant an diesem Bericht sind nicht so sehr die Protestschreiben selbst, es waren doch relativ wenige, als vielmehr, wie glimpflich die "Übeltäter" davongekommen sind. Sie hatten durchaus Rückendeckung in ihrem beruflichen Umfeld.
Gerade für solche Geheimnisträger zog dies eine Aussprache vor der Parteikontrollkommission (PKK) nach sich. Der Leiter der Parteikontrollkommission im MfS, Oberst Johannes Schindler, berichtet abschließend über einige Parteiverfahren. Sie sind auf Veranlassung der Zentralen Parteikontrollkommission (ZPKK) der SED gegen MfS-Offiziere durchgeführt worden, die schriftlich gegen das "Sputnik"-Verbot protestiert haben.
Einer der Fälle, über die Schindler berichtet, betrifft den 55-jährigen Diplomjuristen Rainer Kaden aus der Hauptverwaltung Aufklärung / Arbeitsgruppe Sicherheit (AG S). Diese Arbeitsgruppe ist zuständig für die innere Sicherheit der Spionageabteilung. Sein "Fehlverhalten" wird in einer außerordentlichen Versammlung der zuständigen SED-Grundorganisation erörtert. Das Protokoll dieser Sitzung ist aufschlussreich, weil es etwas von der Atmosphäre verrät, in der solche Disziplinierungsversuche Anfang des Jahres 1989 abliefen.
HVA/AG S
Berlin, 17.01.1989
200/h
Protokoll
der außerplanmäßigen GO-Versammlung am 13.01.1989 zum Fehlverhalten des Genossen Rainer Kaden
(Die außerplanmäßige Abhaltung war notwendig, da die eigentliche GO-Versammlung zum Thema 70. Jahrestag der Gründung der Partei in der Gedenkstätte Sachsenhausen stattfindet.)
Anwesend: 20 Genossen
Entschuldigt: 2 Genossen (Gen. Greiner-Hupp, Gen. Müller)
Zu 3.:
Gen. Renn
Der GO-Versammlung gingen bereits mehrere Auseinandersetzungen mit Gen. Kaden innerhalb der Parteigruppe voraus.
Insbesondere stand auch in der Parteigruppe die Suche nach den Ursachen des Fehlverhaltens im Mittelpunkt der Diskussion. Die Parteigruppe kam zu folgenden Schlußfolgerungen:
Infolge der Auseinandersetzungen in der Parteigruppe hat Gen. Kaden seine Fehler richtig erkannt, so wie es auch in seiner Stellungnahme zum Ausdruck kommt, die ehrlich ist.
Gen. Kaden wurde gesagt, daß sich ein Genosse, mit dem wir tagtäglich zusammenarbeiten, mit seinen Problemen zuerst vertrauensvoll an das Kollektiv wendet oder an einen Genossen, zu dem er besonderes Vertrauen hat.
Wir erwarten zukünftig von Gen. Kaden, daß Wort und Tat eine Ein-
Organisationsstruktur in der MfS-Zentrale, die durch den Minister oder dessen Stellvertreter direkt angeleitet und durch militärische Einzelleiter geführt wurde. Die weiter untergliederten AG prägten Linien aus (z. B. Zentrale Arbeitsgruppe Geheimnisschutz – ZAGG) oder blieben auf die Zentrale beschränkt (z. B. AG XVII). Die monothematischen Zuständigkeiten konnten operative Verantwortung und Federführung einschließen. AG wird auch als Bezeichnung einer nichtstrukturellen Organisationsform oder unselbständigen Untergliederungsebene im MfS verwendet.
Hauptverwaltung (HV) war eine Organisationseinheit in der MfS-Zentrale, die bereits ausdifferenzierte Aufgabenkomplexe in einer hierarchisch gegliederten Einheit zusammenfasst. Überwiegend durch Stellvertreter des Ministers direkt geleitet. Über das Gründungsjahrzehnt des MfS hinweg hatte nur die HV A als echte HV Bestand. Daneben war Hauptverwaltung eine Bezeichnung für Diensteinheiten im MfS ohne strukturell berechtigenden Hintergrund.
Die Hauptverwaltung A (HV A) war die Spionageabteilung des MfS, deren Bezeichnung sich an die der Spionageabteilung des KGB, 1. Verwaltung, anlehnt. Der Ordnungsbuchstabe A wurde in der Bundesrepublik oftmals, aber unzutreffenderweise mit "Aufklärung" aufgelöst. Die HV A wurde 1951 als Institut für Wirtschaftswissenschaftliche Forschung (IWF) gebildet und ging im September 1953 als HA XV in das Staatssekretariat für Staatssicherheit ein. Sie wurde im MfS von 1956 bis zur Auflösung im Juni 1990 als HV A bezeichnet.
Der Schwerpunkt nachrichtendienstlicher Tätigkeit der HV A lag in der Bundesrepublik Deutschland und Westberlin, wo sie mit Objektquellen, d. h. den IM in den nachrichtendienstlichen Zielobjekten, aktiv war.
Die HV A gliederte sich 1956 in 15, 1989 in 20 Abteilungen.
Für die operative Arbeit gegen das Bundeskanzleramt und wichtige Bundesministerien war die Abteilung I, für die gegen die bundesdeutschen Parteien die Abteilung II und für die Arbeit außerhalb Deutschlands die Abteilung III zuständig. Für die Infiltration der USA war die Abteilung XI, für die NATO und die Europäischen Gemeinschaften die Abteilung XII verantwortlich. Mit der Militärspionage war die Abteilung IV befasst, mit der Unterwanderung gegnerischer Nachrichtendienste die Abteilung IX.
Innerhalb der Hauptverwaltung war vornehmlich der Sektor Wissenschaft und Technik (SWT) mit Wissenschafts- und Technikspionage befasst, der zu diesem Zweck die Abteilung XIII bis XV sowie die Arbeitsgruppen 1, 3 und 5 unterhielt sowie eine eigene Auswertungsabteilung, die Abteilung V bzw. ab 1959 Abteilung VII.
Leiter der HV A waren 1951/52 Anton Ackermann, kurzzeitig Richard Stahlmann, 1952-1986 Markus Wolf, dann Werner Großmann und 1989/90 Bernd Fischer. Von anfangs zwölf Mitarbeitern wuchs der Apparat bis 1955 auf 430, bis 1961 auf 524 Mitarbeiter und erreichte bis 1972 einen Umfang von 1.066 hauptamtlichen Mitarbeitern. Bis 1989 wuchs die HV A auf 3.299 hauptamtliche Mitarbeiter, hinzu kamen 701 OibE (1985: 1.006) sowie 778 HIM. OibE und HIM arbeiteten verdeckt in der DDR und im Operationsgebiet. Insgesamt verfügte die HV A also zuletzt über 4.778 Mitarbeiter.
Die Anzahl der von der HV A geführten IM umfasste im Jahre 1989 rund 13.400 in der DDR und weitere 1.550 in der Bundesrepublik. Über 40 Jahre hinweg werden nach Hochrechnungen insgesamt rund 6.000 Bundesbürger und Westberliner IM der HV A gewesen sein.
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Signatur: BStU, MfS, SED-Kreisleitung, Nr. 4581, Bl. 29-32
Das Verbot der Monatszeitschrift "Sputnik" löste in der DDR allerorts Proteste aus. Auch Stasi-Angehörige schrieben Beschwerdebriefe an das Zentralkomitee der SED. Bei anschließenden Aussprachen sollten sie ihren kritischen Standpunkt zu der Zensurmaßnahme aufgeben. Auf einer außerordentlichen Versammlung der zuständigen SED-Grundorganisation wurde das Fehlverhalten eines Mitarbeiters der Hauptverwaltung Aufklärung (HV A) erörtert.
Fast alle Angehörigen des Ministeriums für Staatssicherheit waren SED-Mitglieder. Ihre Parteiführung aber war in den vorangegangenen Monaten auf Distanz zur sowjetischen "Bruderpartei" gegangen. Das schuf gerade für die Stasi-Offiziere eine höchst problematische Situation, weil sie ein besonders enges Verhältnis zu den "Freunden" pflegten, sich sogar - nach sowjetischem Vorbild - selbst als "Tschekisten" bezeichneten.
Gerade SED-Mitglieder waren über eine demonstrative Maßnahme erbost, die im November 1988 wahrscheinlich auf Weisung Erich Honeckers ergriffen worden war: Man hatte die (deutschsprachige) sowjetische Zeitschrift "Sputnik" verboten. Dagegen gab es Hunderte von Protestschreiben, die aus allen Teilen der Republik beim SED-Zentralkomitee eintrafen, darunter sogar von einzelnen MfS-Offizieren. Einen Bericht darüber, wie mit ihnen verfahren worden ist, legte im Januar 1989 die Kontrollkommission der SED vor, die im Ministerium für Staatssicherheit auf die Parteidisziplin zu achten hatte. Interessant an diesem Bericht sind nicht so sehr die Protestschreiben selbst, es waren doch relativ wenige, als vielmehr, wie glimpflich die "Übeltäter" davongekommen sind. Sie hatten durchaus Rückendeckung in ihrem beruflichen Umfeld.
Gerade für solche Geheimnisträger zog dies eine Aussprache vor der Parteikontrollkommission (PKK) nach sich. Der Leiter der Parteikontrollkommission im MfS, Oberst Johannes Schindler, berichtet abschließend über einige Parteiverfahren. Sie sind auf Veranlassung der Zentralen Parteikontrollkommission (ZPKK) der SED gegen MfS-Offiziere durchgeführt worden, die schriftlich gegen das "Sputnik"-Verbot protestiert haben.
Einer der Fälle, über die Schindler berichtet, betrifft den 55-jährigen Diplomjuristen Rainer Kaden aus der Hauptverwaltung Aufklärung / Arbeitsgruppe Sicherheit (AG S). Diese Arbeitsgruppe ist zuständig für die innere Sicherheit der Spionageabteilung. Sein "Fehlverhalten" wird in einer außerordentlichen Versammlung der zuständigen SED-Grundorganisation erörtert. Das Protokoll dieser Sitzung ist aufschlussreich, weil es etwas von der Atmosphäre verrät, in der solche Disziplinierungsversuche Anfang des Jahres 1989 abliefen.
heit bilden.
Gen. Kaden genießt auch weiterhin im Kollektiv unser volles Vertrauen.
Gen. Schumann
Gen. Schumann befürwortete die Einschätzung der Parteigruppe 2 und die Stellungnahme.
In seiner weiteren Diskussion hob er hervor
Gen. Nitsch
Genn. Nitsch ist mit den Begründungen und den Diskussionen einverstanden. Sie glaubt jedoch, daß Gen. Kaden in der Diskussion, die im Zusammenhang mit der Einstellung des "Sputnik" in der Parteigruppe geführt worden ist, keine für sich befriedigende Antwort fand und er deshalb diesen Brief an das ZK sandte, ohne das Problem vorher nochmals richtig zu durchdenken. Er hat spontan gehandelt.
Gen. Helmecke
Gen. Helmecke hob hervor, daß über die Problematik "Sputnik" in allen Parteigruppen und Parteikollektiven, auch außerhalb der GO, Diskussionen geführt wurden. Besser wäre es gewesen, wenn
die Artikel im Neuen Deutschland dazu schneller erschienen wären.
Die Reaktion des Gen. Kaden war spontan und zeugt von wenig Vertrauen zum Kollektiv.
Durch seine Handlungsweise hat er sich, ob gewollt oder nicht, auf eine Stau mit ideologisch unklaren Personen und auch Ge-
Organisationsstruktur in der MfS-Zentrale, die durch den Minister oder dessen Stellvertreter direkt angeleitet und durch militärische Einzelleiter geführt wurde. Die weiter untergliederten AG prägten Linien aus (z. B. Zentrale Arbeitsgruppe Geheimnisschutz – ZAGG) oder blieben auf die Zentrale beschränkt (z. B. AG XVII). Die monothematischen Zuständigkeiten konnten operative Verantwortung und Federführung einschließen. AG wird auch als Bezeichnung einer nichtstrukturellen Organisationsform oder unselbständigen Untergliederungsebene im MfS verwendet.
Die Hauptverwaltung A (HV A) war die Spionageabteilung des MfS, deren Bezeichnung sich an die der Spionageabteilung des KGB, 1. Verwaltung, anlehnt. Der Ordnungsbuchstabe A wurde in der Bundesrepublik oftmals, aber unzutreffenderweise mit "Aufklärung" aufgelöst. Die HV A wurde 1951 als Institut für Wirtschaftswissenschaftliche Forschung (IWF) gebildet und ging im September 1953 als HA XV in das Staatssekretariat für Staatssicherheit ein. Sie wurde im MfS von 1956 bis zur Auflösung im Juni 1990 als HV A bezeichnet.
Der Schwerpunkt nachrichtendienstlicher Tätigkeit der HV A lag in der Bundesrepublik Deutschland und Westberlin, wo sie mit Objektquellen, d. h. den IM in den nachrichtendienstlichen Zielobjekten, aktiv war.
Die HV A gliederte sich 1956 in 15, 1989 in 20 Abteilungen.
Für die operative Arbeit gegen das Bundeskanzleramt und wichtige Bundesministerien war die Abteilung I, für die gegen die bundesdeutschen Parteien die Abteilung II und für die Arbeit außerhalb Deutschlands die Abteilung III zuständig. Für die Infiltration der USA war die Abteilung XI, für die NATO und die Europäischen Gemeinschaften die Abteilung XII verantwortlich. Mit der Militärspionage war die Abteilung IV befasst, mit der Unterwanderung gegnerischer Nachrichtendienste die Abteilung IX.
Innerhalb der Hauptverwaltung war vornehmlich der Sektor Wissenschaft und Technik (SWT) mit Wissenschafts- und Technikspionage befasst, der zu diesem Zweck die Abteilung XIII bis XV sowie die Arbeitsgruppen 1, 3 und 5 unterhielt sowie eine eigene Auswertungsabteilung, die Abteilung V bzw. ab 1959 Abteilung VII.
Leiter der HV A waren 1951/52 Anton Ackermann, kurzzeitig Richard Stahlmann, 1952-1986 Markus Wolf, dann Werner Großmann und 1989/90 Bernd Fischer. Von anfangs zwölf Mitarbeitern wuchs der Apparat bis 1955 auf 430, bis 1961 auf 524 Mitarbeiter und erreichte bis 1972 einen Umfang von 1.066 hauptamtlichen Mitarbeitern. Bis 1989 wuchs die HV A auf 3.299 hauptamtliche Mitarbeiter, hinzu kamen 701 OibE (1985: 1.006) sowie 778 HIM. OibE und HIM arbeiteten verdeckt in der DDR und im Operationsgebiet. Insgesamt verfügte die HV A also zuletzt über 4.778 Mitarbeiter.
Die Anzahl der von der HV A geführten IM umfasste im Jahre 1989 rund 13.400 in der DDR und weitere 1.550 in der Bundesrepublik. Über 40 Jahre hinweg werden nach Hochrechnungen insgesamt rund 6.000 Bundesbürger und Westberliner IM der HV A gewesen sein.
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Eingaben MfS-Angehöriger gegen das "Sputnik"-Verbot Dokument, 6 Seiten
Protokoll der Delegiertenkonferenz aller Grundorganisationen der SED in der Zentrale des AfNS Dokument, 70 Seiten
Sitzungsprotokoll der Parteikontrollkommission der SED-Kreisleitung im MfS Dokument, 7 Seiten
Bericht der Parteikontrollkommission über die Verwirklichung der Beschlüsse der 7. Tagung des Zentralkomitees Dokument, 59 Seiten