Reaktionen der Bevölkerung zur Fluchtwelle aus der DDR
Signatur: BStU, MfS, ZAIG, Nr. 4256, Bl. 18-25
Ein Bericht der Zentralen Auswertungs- und Informationsgruppe stellt fest: Die Stimmung unter den Ausreisewilligen unterscheidet sich nicht wesentlich von jener der restlichen Bevölkerung.
Im ersten Halbjahr 1989 hatten über 100.000 Bürger Anträge darauf gestellt, aus der DDR in die Bundesrepublik überzusiedeln. Nach bisherigen Erfahrungen würden sie Monate, wenn nicht Jahre auf eine Genehmigung warten müssen. Doch plötzlich eröffnete sich eine neue Möglichkeit: Ungarn begann im Mai 1989 die Grenzanlagen nach Österreich abzubauen und damit durchlässiger zu machen. Zugleich wurden DDR-Bürger, die bei einem Fluchtversuch in den Westen festgenommen worden waren, nur noch in seltenen Fällen in ihr Herkunftsland abgeschoben.
Die ersten Wagemutigen riskierten im Juni und Juli 1989 den immer noch gefährlichen Weg über die "grüne Grenze". Noch im August wurde ein DDR-Bürger an dieser Grenze erschossen. Andere suchten die bundesdeutschen Botschaften in Budapest und in Prag in der Hoffnung auf, von dort in die Bundesrepublik abgeschoben zu werden. Aus Dutzenden wurden bald Hunderte, aus Hunderten Tausende und Zehntausende.
Die Zentrale Auswertungs- und Informationsgruppe versuchte, die Motive der Flüchtenden herauszuarbeiten. Der vorliegende Bericht thematisiert die Stimmung unter den Ausreisewilligen. Die Kernbotschaft dieses Papiers ist, dass diese sich nicht wesentlich von jener der restlichen Bevölkerung unterschied.
Die Anhänger des Regimes, die "progressiven Kräfte", aber würden darauf mit "Besorgnis und Beunruhigung bis hin zu Verunsicherung" reagieren und kaum mehr wagen, dem zu widersprechen. Sie warteten darauf, dass von der SED-Führung "schnellstmöglich Maßnahmen einleitet, die zur Überwindung bestehender Probleme in der DDR führen".
Wenn die Zentrale Auswertungs- und Informationsgruppe als das Gehirn der Staatssicherheit solche Forderungen "progressiven Kräften" in den Mund legt, kann man davon ausgehen, dass damit nicht zuletzt die intelligenteren Stasi-Offiziere selbst gemeint waren.
Metadaten
- Datum:
- 13.9.1989
- Überlieferungsform:
- Dokument
Es sei zu befürchten, daß sich dadurch die vorhandenen Probleme in der DDR weiter zuspitzen und es zu einer weiteren Verschlechterung der Stimmungslage der Bevölkerung komme.
Mit großer Besorgnis wird auch die Frage gestellt, ob die DDR angesichts der ohnehin angespannten Arbeitskräftesituation eine Verringerung des gesellschaftlichen Arbeitskräftepotentials, vor allem im Hinblick auf den Weggang einer großen Zahl von Hoch- und Fachschulkadern sowie Facharbeitern, in diesem Umfang volkswirtschaftlich verkraften könne.
[Die folgenden Abschnitte wurde über das Blatt geklebt.]
Dies treffe besonders zu auf Bereiche der materiellen Produktion sowie Forschung und Entwicklung, Handel/Versorgung und Dienstleistungen einschließlich des Gaststättenwesens sowie in besonderem Maße auf das Gesundheitswesen.
Leitungskader und Mitarbeiter, vor allem aus den genannten Bereichen, schätzen ein, daß bei weiteren ständigen Ausreisen entsprechend der gegenwärtigen Praxis und bei weiter anhaltendem ungesetzlichen Verlassen unter Ausnutzung besonders des Reiseverkehrs erhebliche Abstriche an gestellten Aufgaben und Leistungszielen unumgänglich seien, die weitreichende negative Folgen besonders auf sozialpolitischem Gebiet und bei der medizinischen Grundbetreuung der Bevölkerung hätten. Insbesondere Mitarbeiter in medizinischen Einrichtungen erklären unter Hinweis auf den "Abgang" qualifzierten medizinischen Personals, bereits jetzt solchen enormen Belastungen ausgesetzt zu sein, denen auf Dauer physisch und psychisch nicht standzuhalten sei. Dies schaffe neue Anlässe für Antragstellungen auf ständige Ausreise bzw. für das ungesetzliche Verlassen.
[Die folgenden Abschnitte wurde über das Blatt geklebt.]
Immer wieder wird Unverständnis geäußert, daß so viele Bürger, vor allem Jugendliche und Jungerwachsene, ihre gesicherte soziale Existenz in der DDR aufgeben und ins Ungewisse fahren.
Sehr häufig wird in diesem Zusammenhang, besonders von vielen älteren Bürgern, darunter von Mitgliedern der SED, die Frage gestellt, warum hauptsächlich junge Menschen, die doch im Sozialismus aufgewachsen und erzogen wurden, in der DDR umfassende soziale Unter-