Reaktionen der DDR-Bevölkerung auf Michail Gorbatschows Besuch der Bundesrepublik
Signatur: BStU, MfS, ZAIG, Nr. 5352, Bl. 135-139
Die Entwicklung demokratischer Reformen in den anderen Ostblockstaaten verfolgte die DDR-Regierung sehr genau. So sammelte die Staatssicherheit auch Reaktionen der DDR-Bevölkerung zum Besuch des sowjetischen Staatschefs Michail Gorbatschow in der Bundesrepublik im Juni 1989.
Im Sommer 1989 war bereits seit Monaten zu erkennen, dass sich die DDR-Führung mit ihrem reformfeindlichen Kurs von den Entwicklungen der anderen Warschauer-Pakt-Staaten isolierte (vgl. 7.4.1989). Auch der SED-Spitze war das nicht verborgen geblieben, sie wiegte sich aber in dem Glauben, die DDR sei eine Insel der Stabilität, während die Reformstaaten (Ungarn, Polen und Sowjetunion) immer tiefer in Turbulenzen gerieten. Im Juni und Juli 1989 kamen mehrere Ereignisse zusammen, die zeigten, wie illusionär die Auffassung war, die DDR könne sich dem entziehen.
Vom 12. bis zum 15. Juni 1989, fand der erste Staatsbesuch von Michail Gorbatschow in der Bundesrepublik statt. Er wurde dort als Hoffnungsträger aus dem Osten außerordentlich herzlich aufgenommen, ein Umstand, der von den SED-gesteuerten Medien demonstrativ ignoriert wurde. Aber auch das war eine Botschaft, die in der DDR durchaus wahrgenommen wurde. Gerade dem System nahestehende "progressive Kräfte" äußerten die Sorge, in dem Dreieck "Bonn – Moskau – Ost-Berlin" werde die DDR für die Sowjetunion an Bedeutung verlieren und immer mehr an den Rand gedrängt.
Metadaten
- Diensteinheit:
- Zentrale Auswertungs- und Informationsgruppe
- Urheber:
- MfS
- Datum:
- 26.6.1989
- Rechte:
- BStU
- Überlieferungsform:
- Dokument
Vereinzelt wird in diesem Zusammenhang von Angehörigen der Intelligenz der Standpunkt vertreten, Gen. Gorbatschow habe bestimmte politische Kompromisse eingehen müssen, um den Abschluß der Vereinbarungen über die Entwicklung der bilateralen Zusammenarbeit nicht in Frage zu stellen. Einer direkten Stellungnahme zur "innerdeutschen" Situation habe er darum zu diesem Zeitpunkt auszuweichen versucht.
Mit besonderem Interesse wurden die Hinweise in den Medien über Verhandlungen und Gespräche zur Entwicklung der bilateralen Zusammenarbeit, von allem auf ökonomischem Gebiet, verfolgt.
Vielfach werden Meinungsäußerungen, insbesondere von leitenden Kadern, Angehörigen der wissenschaftlich-technischen Intelligenz sowie Arbeitern in Betrieben und Kombinaten, zu den abgeschlossenen Vereinbarungen über die wissenschaftlich-technische Zusammenarbeit und die Lieferung von Hochtechnologien verbunden mit einem breiten Spektrum von Spekulationen und Befürchtungen über deren mögliche negative Auswirkungen vor allem auf die Zusammenarbeit zwischen der DDR und der UdSSR.
Die abgeschlossenen Abkommen und Verträge sollen, so wird argumentiert, der Sowjetunion den dringend benötigten Wirtschaftsaufschwung bringen. Die UdSSR sei im Interesse der Stabilisierung der Volkswirtschaft gezwungen, sich "dem Westen zu öffnen", sich verstärkt am westlichen "know how" zu orientieren, weil kein sozialistisches Land - auch nicht die DDR - in der Lage sei, die erforderliche Unterstützung zu geben. Die UdSSR habe sich in der BRD vom wissenschaftlich-technischen Höchststand überzeugen können, über den die DDR nicht verfüge. Letztendlich werde das, so die Befürchtungen, zu einer "Abkopplung" der DDR führen. Auswirkungen könnten sich auch zeigen in Einschränkungen geplanter Exporte von Rohstoffen u.a. von der Industrie dringend benötigter Materialien/Zulieferungen, was sich in der DDR spürbar negativ auf die planmäßige Entwicklung der Volkswirtschaft auswirken werde. In einer Vielzahl von Meinungsäußerungen wird dabei verwiesen auf Beispiele aus dem eigenen Arbeitsbereich.