Signatur: BStU, MfS, HA XX/4, Nr. 2557, Bl. 226-230
Am 3. März 1988 fand das Treffen zwischen SED-Generalsekretär Erich Honecker und dem Vorsitzenden des Bundes der Evangelischen Kirchen (BEK) Bischof Leich statt. Der BEK berichtete den Landeskirchen anschließend von dem Treffen und fügte als Anlage Leichs Ansprache zu den besprochenen Fragen bei.
Anfang 1988 war das Verhältnis zwischen Kirche und Staat auf einem Tiefpunkt angekommen. Insbesondere die evangelische Kirche bot für zahlreiche Bürgerrechtlerinnen und Bürgerrechtler sowie Ausreisewillige einen Schutzschirm. Sie konnten dort ihre Forderungen öffentlich vortragen. Die Partei- und Staatsführung reagierte ihrerseits mit Druck. Als einziger Ausweg aus der festgefahrenen Situation erschien den Kirchenvertretern ein Gespräch auf höchster Ebene, wie es am 6. März 1978 bereits stattgefunden hatte.
Am 3. März 1988 empfing SED-Chef Erich Honecker den Vorsitzenden der Konferenz der Evangelischen Kirchenleitungen in der DDR, den thüringischen Landesbischof Werner Leich. Dieser thematisierte bei der Gelegenheit die restriktiven Regelungen zur Ausreise aus der DDR und die Unterdrückung jeglicher freien Meinungsäußerung durch die Staatssicherheitsorgane.
Über das Treffen von Bischof Leich mit Honecker berichtete der Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR den Landeskirchen noch am gleichen Tag. Als Anlage beigefügt war der "Wortlaut der Ansprache" von Bischof Leich bei diesem Treffen. Hierin bekräftigte er, dass sich die Kirche nicht als Oppositionspartei betrachtet und sich ihre Rolle als Dialogpartnerin für Ausreisewillige und Bürgerrechtsgruppen nicht selbst ausgesucht habe. Außerdem plädierte er für ein transparenteres Verfahren bei den Ausreiseanträgen und die Einführung eines zivilen Wehrersatzdienstes.
Sehr geehrter Herr Vorsitzender!
Ich danke Ihnen für das Angebot einer persönlichen Begegnung. Ich habe es gern angenommen und verbinde mit ihm eine große Erwartung. Die Begegnung gibt mir die Gelegenheit, ihnen für Ihren persönlichen Einsatz zur Sicherung des Friedens unter den Völkern mit dem Ziel konsequenter Abrüstung und völliger Befreiung der Menschheit von atomaren Waffen zu danken. Dieser Einsatz ist vom Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR wiederholt gewürdigt worden. Er trifft auf große Gemeinsamkeit. Sie können diese Gemeinsamkeit an der Unterstützung erkennen, die Ihre Initiativen, z.B. für atomwaffenfreie Zonen, durch unsere Kirchen erfahren. Sie kommt auch zum Ausdruck, wenn die evangelischen Kirchen der DDR ihr Friedenszeugnis in die internationalen Gremien der Weltchristenheit einbringen. Das ist wiederholt und eindeutig geschehen; das wird auch weiterhin so sein.
Schon in dem Gespräch, das Sie am 6. März 1978 mit dem Vorsitzenden der Konferenz der Evangelischen Kirchenleitungen geführt haben, war die gemeinsame Sorge um die Erhaltung des Friedens ein wichtiges Bindeglied zwischen Staat und Kirche. Heute überblicken wir eine zehnjährige Entwicklung nach jenem Gespräch. Wir stellen dankbar ihren Ertrag fest: Wir konnten Gemeindehäuser oder Kirchen in Neubaugebieten bauen, die Seelsorge in Pflegeheimen erweitern, das Lutherjahr mit weit beachteten öffentlichen Veranstaltungen durchführen, die Kirchentage mit spürbarer Unterstützung des Staates abhalten und geregelte Sendezeiten im 2. Programm des Fernsehens erhalten. Wir sehen auch dankbar das Bemühen, den Grundsatz der Gleichberechtigkung und Gleichachtung des Bürgers mit christlichem Bekenntnis auf allen Ebenen zur Geltung zu bringen.
Sowohl Sie, Herr Vorsitzender, als auch der damalige Vorsitzende der Konferenz der Evangelischen Kirchenleitungen haben den notwendigen - wenn auch langen - Weg beschrieben, den das Grundsatzgespräch bis hinein in die letzte Gemeinde und Kirchgemeinde nehmen muß. Bischof Schönherr hat damals festgestellt, das Verhältnis zwischen Staat und Kirche sei so gut, wie es der einzelne christliche Bürger in seiner gesellschaftlichen Situation vor Ort erfährt. Heute können wir sagen: Wir sind auf dem Weg vorangekommen; abgeschlossen ist der Weg nicht. Letzteres ist wohl auch nicht möglich. Die Gesellschaft, der Staat, die Kirche sind Gemeinschaftsformen unterschiedlicher Aufgabenstellung. Aber sie haben die Dynamik und die Vielfalt des Lebens gemeinsam, die Menschen in ihren Gemeinschaften hervorbringen.
Zu den Grundsätzen vom 6. März 1978 gibt es keine Alternative. Bei verfassungsmäßiger Trennung von Kirche und Staat werden im Rahmen dieser Verfassung alle den Staat und die Kirche gemeinsam berührenden Fragen im offenen und sachlichen Dialog auf der Grundlage des gewachsenen Vertrauens angesprochen. Nach zehn Jahren ist uns nun das Nachdenken über den gegenwärtigen Umgang mit den Ergebnissen des Grundsatzgespräches angesichts gewordener und möglicher Entwicklungen in Gesellschaft und Kirche aufgetragen. Als evangelische Kirche wollen wir dieses Nachdenken in der Haltung vollziehen, die wir mit der Kurzformel "Kirche im Sozialismus" beschrieben haben. Wir wollen Gottes Willen annehmen, in einer sozialistischen Gesellschaft mit einem sozialistischen Staat als Kirche Gott zu dienen. Wir wollen dies tun als ein an den Willen Gottes gebundener, konstruktiv mitarbeitender Partner, der das Wohl des Gemeinwesens und die Möglichkeit des Sozialismus als einer gerechteren Form des Miteinanders von Menschen bejaht. Wir sehen unsere Aufgabe nicht darin, eine Oppositionspartei zu sein oder Akklamationen abzugeben. Vielmehr gilt: Wo wir sagen können "Gott sei Dank!", werden wir zur Mitarbeit bereit sein. Wo wir dies nicht vermögen, werden wir uns zu Wort melden und freimütig sprechen.
Die Kirchen gerieten nicht selten unter Verdacht, gegen die politischen Verhältnisse in der DDR zu opponieren. Das lag an ihrer weitgehenden Eigenständigkeit, an der christlichen Botschaft, die von den kommunistischen Ideologen als konkurrierendes Sinn- und Erklärungsangebot abgelehnt wurde, sowie an ihrem Beharren auf Mitsprache und Gestaltungsanspruch in gesellschaftlichen Fragen. Im Auftrag der SED wurde daher das MfS tätig, um die von den Kirchen ausgehenden vermeintlichen und tatsächlichen Gefahren für das politisch-ideologische System der DDR abzuwehren.
Die SED-Kirchenpolitik war in den vier Jahrzehnten der DDR Wandlungen unterworfen. In den 50er Jahren führte die SED mehrfach einen offenen Kirchenkampf. Dieser richtete sich u. a. gegen die kirchliche Jugend- und Studentenarbeit, v. a. bei der Einführung der Jugendweihe, sowie gegen karitative Einrichtungen wie die Bahnhofsmissionen. Mehrere Religionsgemeinschaften wurden verboten und deren Anhänger verfolgt.
Die SED war zudem bestrebt, die Verlesung von solchen Hirtenbriefen und Kanzelabkündigungen zu unterbinden, in denen sozialethische, gesellschaftskritische oder politische Fragen aufgegriffen wurden. Von der Polizei und dem MfS wurden kirchliche Einrichtungen durchsucht und Literatur beschlagnahmt. Neben kirchlichen Mitarbeitern wurden unter Mitwirkung des MfS auch Pfarrer – zwischen 1950 und 1960 mindestens 140 – inhaftiert.
Ab den 60er Jahren beschränkte sich die SED zunehmend darauf, durch eine rigorose Auslegung der Veranstaltungsordnung unerwünschte kirchliche Aktivitäten zu behindern. Das offizielle Eindringen in kirchliche Räume wie im November 1987, als es nachts in der Zionsgemeinde in Ostberlin zu Durchsuchungen und Festnahmen kam, war in den 70er und 80er Jahren eher untypisch, weil dies die Staat-Kirche-Beziehungen erheblich belastete. Vor allem seit 1978 bemühte sich die SED, ein Stillhalteabkommen zwischen Kirchenleitungen und Staat zu respektieren.
Das MfS versuchte aber stets, indirekt Einfluss auf kirchliche Entscheidungen zu nehmen. Dies und die verdeckte Informationsbeschaffung zählten zu den Hauptbetätigungsfeldern des MfS im Rahmen der von der SED konzipierten Kirchenpolitik. Die Informationsbeschaffung erfolgte mittels Observation, IM-Einsatz und auf dem Weg der sog. Gesprächsabschöpfung. Dabei gelang es in Einzelfällen auch, Christen in kirchlichen Leitungspositionen als IM zu gewinnen.
So arbeitete der thüringische Kirchenjurist und Oberkirchenrat Gerhard Lotz seit 1955 mit dem MfS als IM "Karl" zusammen. Durch die Positionierung eines Offiziers im besonderen Einsatz im Konsistorium in Magdeburg, Detlev Hammer, der ab 1974 juristischer, dann Oberkonsistorialrat war, vermochte es das MfS, einen hauptamtlichen Mitarbeiter innerhalb der Leitungsstruktur der provinzsächsischen Kirche zu platzieren. Außerdem hatte das MfS gegenüber den Kirchen dann tätig zu werden, wenn Verdachtsmomente dafür vorlagen, dass die Kirchen über den ihnen von der SED zugewiesenen religiös-kultischen Bereich hinaus tätig wurden.
Dementsprechend observierte das MfS Kirchengemeinden und Pfarrer, die – wie es beim MfS hieß – im Rahmen der "Partnerschaftsarbeit" Besuchskontakt zu Kirchengemeinden in der Bundesrepublik unterhielten. Das MfS legte hierzu OV an und ermittelte gegen die Organisatoren der Zusammenkünfte.
Als Ziele der MfS-Aufklärung galten ebenso kirchliche Synoden und Basistreffen, auf denen grundsätzlich die potenzielle Gefahr bestand, dass Kritik an den Verhältnissen in der DDR geübt werden würde. In das Blickfeld des MfS rückten die evangelischen Kirchen insbesondere ab Mitte der 70er Jahre: Zunächst rief die auch unter nichtkirchlichen Jugendlichen an Attraktivität gewinnende kirchliche Jugendarbeit, dann die Friedens-, Umwelt- und Menschenrechtsarbeit unter dem Dach der Kirche den Argwohn des MfS hervor.
Insgesamt war das MfS nur eine von mehreren Institutionen des SED-Staates, die im Rahmen der SED-Kirchenpolitik tätig wurden. Im Zusammenspiel mit ihnen versuchte das MfS, die Kirchen zu kontrollieren und zu disziplinieren.
In Auswertung der kirchenpolitischen Kampagnen der 50er Jahre und bestärkt durch konzeptionelle Arbeiten, drängte die SED-Führung ab Anfang der 80er Jahre zunehmend auf ein koordiniertes Vorgehen. Die vom MdI und den Abteilungen für Inneres erstellten Rapportmeldungen, Berichte und Personeneinschätzungen zu Gottesdiensten und kirchlichen Mitarbeitern wurden vereinbarungsgemäß dem MfS zur Verfügung gestellt und bildeten häufig den Grundstock jener Berichte und Personencharakteristiken, die sich in den Beständen des MfS wiederfinden.
Bereits vor Gründung des MfS hatte bei der Deutschen Verwaltung des Innern in der Abteilung K 5 das Referat C 3 existiert. Als Aufgabenbeschreibung wurde die "Aufklärung und Bekämpfung der kirchlichen Feindtätigkeit" genannt. Ab 1950 bestand im MfS zunächst die Abteilung V, die sich ab 1953 Hauptabteilung V nannte und 1964 im Zuge einer Umstrukturierung zur Hauptabteilung XX wurde.
Innerhalb dieser Organisationsstruktur zeichnete die Abt. 4 für die "Bearbeitung" der Kirchen verantwortlich. 1988 gliedert sich diese in sechs Fachreferate, wobei je eins für die evangelischen Kirchen, die katholische Kirche sowie die Religionsgemeinschaften und Sekten zuständig war. Ein Referat widmete sich Operativen Vorgängen. Als Schwerpunkt der Arbeit wurde die "Bekämpfung der politischen Untergrundtätigkeit" benannt. Zwei weitere Referate nahmen koordinierende Funktionen wahr.
Neben der Hauptabteilung XX/4 stützte sich das MfS bei der Bekämpfung und Infiltration der Kirchen auf die Zuarbeit verschiedener Hauptabteilungen und Abteilungen - so u. a. auf die Dienste der HV A bei der "Aufklärung" von westlichen Partnergemeinden und Pfarrern, die die kirchliche Friedensarbeit in den ostdeutschen Gemeinden unterstützten. Im Fall der Inhaftierung kirchlicher Mitarbeiter übernahm die Hauptabteilung IX als Untersuchungsorgan den Vorgang.
Hinzu kamen andere institutionalisierte Formen der "Bearbeitung". Als politisch-ideologische fungierte ab 1958 das Referat Familienforschung, das Verwicklungen missliebiger Kirchenvertreter in das NS-Regime aufdecken oder konstruieren sollte, um die so Diffamierten unter Druck setzen zu können. Angesiedelt war es beim Deutschen Zentralarchiv in Potsdam. Es verwaltete verschiedene aus NS-Beständen stammende Unterlagen und wertete sie aus. Dabei handelte es sich um eine verdeckt arbeitende Einrichtung des MfS.
Um den steigenden Informationsbedarf – unter Berücksichtigung der Spezifik kirchlicher und religiöser Angelegenheiten – zu decken und um Sonderaufträge u. a. auch im Ausland ausführen zu können, etablierte das MfS 1960 die sog. Auswertungsgruppe, die dem Referat V zugeordnet wurde. In einem konspirativen Objekt in Berlin-Pankow ("Institut Wandlitz") arbeiteten hauptamtliche IM und mehrere OibE zusammen.
Seine "Absicherung" fand das Vorgehen des MfS gegenüber den Kirchen durch ein umfangreiches Netz von OibE und IM, die das MfS im Staatssekretariat für Kirchenfragen und in den Kirchenabteilungen der DDR-Bezirke unterhielt. 1989 gab es im Staatssekretariat drei OibE; zudem berichtete der persönliche Referent und Büroleiter der Staatssekretäre Hans Seigewasser und Klaus Gysi, Horst Dohle, ab 1975 als IM "Horst" dem MfS. Insgesamt aber gelang es dem MfS nicht, die Kirchen umfassend zu unterwandern.
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Signatur: BStU, MfS, HA XX/4, Nr. 2557, Bl. 226-230
Am 3. März 1988 fand das Treffen zwischen SED-Generalsekretär Erich Honecker und dem Vorsitzenden des Bundes der Evangelischen Kirchen (BEK) Bischof Leich statt. Der BEK berichtete den Landeskirchen anschließend von dem Treffen und fügte als Anlage Leichs Ansprache zu den besprochenen Fragen bei.
Anfang 1988 war das Verhältnis zwischen Kirche und Staat auf einem Tiefpunkt angekommen. Insbesondere die evangelische Kirche bot für zahlreiche Bürgerrechtlerinnen und Bürgerrechtler sowie Ausreisewillige einen Schutzschirm. Sie konnten dort ihre Forderungen öffentlich vortragen. Die Partei- und Staatsführung reagierte ihrerseits mit Druck. Als einziger Ausweg aus der festgefahrenen Situation erschien den Kirchenvertretern ein Gespräch auf höchster Ebene, wie es am 6. März 1978 bereits stattgefunden hatte.
Am 3. März 1988 empfing SED-Chef Erich Honecker den Vorsitzenden der Konferenz der Evangelischen Kirchenleitungen in der DDR, den thüringischen Landesbischof Werner Leich. Dieser thematisierte bei der Gelegenheit die restriktiven Regelungen zur Ausreise aus der DDR und die Unterdrückung jeglicher freien Meinungsäußerung durch die Staatssicherheitsorgane.
Über das Treffen von Bischof Leich mit Honecker berichtete der Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR den Landeskirchen noch am gleichen Tag. Als Anlage beigefügt war der "Wortlaut der Ansprache" von Bischof Leich bei diesem Treffen. Hierin bekräftigte er, dass sich die Kirche nicht als Oppositionspartei betrachtet und sich ihre Rolle als Dialogpartnerin für Ausreisewillige und Bürgerrechtsgruppen nicht selbst ausgesucht habe. Außerdem plädierte er für ein transparenteres Verfahren bei den Ausreiseanträgen und die Einführung eines zivilen Wehrersatzdienstes.
II
Die dem Zusammenleben unterschiedlicher Gemeinschaften in einer Gesellschaft innewohnende Dynamik haben wir in den letzten Monaten zu spüren bekommen. Sie hat auch Belastungen im Verhältnis zwischen Staat und Kirche gebracht. Dies ist nach nichts Außergewöhnliches. Es entspricht dieser Dynamik, daß das Verhältnis von Staat und Kirche auf die Probe gestellt wird. Die entscheidende Frage ist, ob eine solche Probe durch das freimütige Gespräch bestanden wird. Darin sehe ich heute unsere Aufgabe, und ich möchte sie ergreifen.
Die Fragen, die unsere evangelischen Kirchen - diejenigen von Berlin-Brandenburg in besonderer Weise - in den letzten Monaten bewegt haben, sind Fragen, die aus dem gesellschaftspolitischen Bereich kommen. Sie haben keinen Ursprung im Dienst unserer Kirchen. Die Auseinandersetzung mit diesen Fragen mußten wir stellvertretend für Staat und Gesellschaft wahrnehmen. Wir haben uns diese Rolle nicht ausgesucht. Die eigentlichen Adressaten haben keine Bereitschaft zum Dialog signalisiert. Uns begegnen Menschen, die sich wund gerieben haben und Veränderungen innerhalb der sozialistischen Gesellschaft suchen. Uns begegnen Staatsbürger, die in der Ausbürgerung für des eigene Leben den einzigen Ausweg sehen. In allen Fällen haben wir als Kirche zum Bleiben in unserer Gemeinschaft gemahnt. In besonderen Härtefällen und bei offensichtlicher Vergeblichkeit jedes Bemühens um Wiedereingliederung haben wir um rasche Erledigung der Ausbürgerung gebeten. Ich selbst habe in den letzten zehn Jahren bei meinen Fürsprachen in den Bezirken fast immer Verständnis und Gehör gefunden. Die Zahl der Menschen, die unser Land verlassen wollen und dies beantragt haben, hat erheblich zugenommen. Wir sind darüber betroffen. Wir sehen eine Entwicklung, für die wir als Kirche keinerlei Impulse gegeben, der wir - im Gegenteil - öffentlich und eindeutig widersprochen haben.
Ich sehe, daß die gegenwärtige Situation durch eine Reihe von Faktoren geprägt ist, die Beachtung verdienen.
Der Aufruf von Staat und Gesellschaft an jeden einzelnen zum persönlichen Eintreten für die Erhaltung des Friedens hat viele Menschen zum eigenen Nachdenken herausgefordert und zur Bereitschaft geführt, die eigene Mitverantwortung auch selbst wahrzunehmen. Darin sehe ich ein für unser Land positives Ergebnis. Jetzt braucht das gewachsene differenzierte Denken ein Gegenüber in Staat und Gesellschaft, das zu differenziertem Dialog bereit ist.
Zum anderen hat die Außenpolitik unseres Staates den Leitgedanken von der Menschheit als Überlebensgemeinschaft unterstrichen. Sie hat wesentlich zur Bewegung in der Ost-West-Problematik beigetragen und zu einer neuen Form im Umgang der beiden deutschen Staaten miteinander geführt. Dies wird als Erfolg dankbar begrüßt. Mit diesem Prozeß hat die Bewegung in der Innenpolitik nicht Schritt gehalten. Die Bürger erfahren das in der elementaren Frage, wo sich der Umgang mit ihnen innerhalb des Staates gestaltet. Ich habe sehr oft, Herr Vorsitzender, Ihren Ausspruch zitiert: "Formalismus und Herzlosigkeit im Umgang mit dem Bürger darf es bei uns nicht geben." Viele Bürger reiben sich an der Tatsache wund, daß ihnen die Kriterien der in sich großzügigen Reisebestimmungen verborgen bleiben. Jeder Antrag bleibt von einer Ablehnung bedroht. In der Regel werden die Begründungen, für die Ablehnung verweigert. Das erzeugt das Gefühl, als Unmündiger behandelt zu werden, der zum Verstehen von Entscheidungen nicht fähig ist.
Im direkten Umgang mit Dienststellen erfährt der Bürger, wie die politische Macht verwaltet wird. Häufig wird voreilig administriert, ohne den Versuch der Überzeugung zu unternehmen und dabei den Bürger auch offen anzuhören. Es beeinträchtigt das Klima des Vertrauens zwischen dem Staat und den Bürgern, wenn sie statt der erforderlichen Argumente lediglich die distanzierte Entscheidung der Macht erfahren und ihre Kritik sogleich als Ausdruck der Staatsfeindlichkeit gewertet wird.
Die Kirchen gerieten nicht selten unter Verdacht, gegen die politischen Verhältnisse in der DDR zu opponieren. Das lag an ihrer weitgehenden Eigenständigkeit, an der christlichen Botschaft, die von den kommunistischen Ideologen als konkurrierendes Sinn- und Erklärungsangebot abgelehnt wurde, sowie an ihrem Beharren auf Mitsprache und Gestaltungsanspruch in gesellschaftlichen Fragen. Im Auftrag der SED wurde daher das MfS tätig, um die von den Kirchen ausgehenden vermeintlichen und tatsächlichen Gefahren für das politisch-ideologische System der DDR abzuwehren.
Die SED-Kirchenpolitik war in den vier Jahrzehnten der DDR Wandlungen unterworfen. In den 50er Jahren führte die SED mehrfach einen offenen Kirchenkampf. Dieser richtete sich u. a. gegen die kirchliche Jugend- und Studentenarbeit, v. a. bei der Einführung der Jugendweihe, sowie gegen karitative Einrichtungen wie die Bahnhofsmissionen. Mehrere Religionsgemeinschaften wurden verboten und deren Anhänger verfolgt.
Die SED war zudem bestrebt, die Verlesung von solchen Hirtenbriefen und Kanzelabkündigungen zu unterbinden, in denen sozialethische, gesellschaftskritische oder politische Fragen aufgegriffen wurden. Von der Polizei und dem MfS wurden kirchliche Einrichtungen durchsucht und Literatur beschlagnahmt. Neben kirchlichen Mitarbeitern wurden unter Mitwirkung des MfS auch Pfarrer – zwischen 1950 und 1960 mindestens 140 – inhaftiert.
Ab den 60er Jahren beschränkte sich die SED zunehmend darauf, durch eine rigorose Auslegung der Veranstaltungsordnung unerwünschte kirchliche Aktivitäten zu behindern. Das offizielle Eindringen in kirchliche Räume wie im November 1987, als es nachts in der Zionsgemeinde in Ostberlin zu Durchsuchungen und Festnahmen kam, war in den 70er und 80er Jahren eher untypisch, weil dies die Staat-Kirche-Beziehungen erheblich belastete. Vor allem seit 1978 bemühte sich die SED, ein Stillhalteabkommen zwischen Kirchenleitungen und Staat zu respektieren.
Das MfS versuchte aber stets, indirekt Einfluss auf kirchliche Entscheidungen zu nehmen. Dies und die verdeckte Informationsbeschaffung zählten zu den Hauptbetätigungsfeldern des MfS im Rahmen der von der SED konzipierten Kirchenpolitik. Die Informationsbeschaffung erfolgte mittels Observation, IM-Einsatz und auf dem Weg der sog. Gesprächsabschöpfung. Dabei gelang es in Einzelfällen auch, Christen in kirchlichen Leitungspositionen als IM zu gewinnen.
So arbeitete der thüringische Kirchenjurist und Oberkirchenrat Gerhard Lotz seit 1955 mit dem MfS als IM "Karl" zusammen. Durch die Positionierung eines Offiziers im besonderen Einsatz im Konsistorium in Magdeburg, Detlev Hammer, der ab 1974 juristischer, dann Oberkonsistorialrat war, vermochte es das MfS, einen hauptamtlichen Mitarbeiter innerhalb der Leitungsstruktur der provinzsächsischen Kirche zu platzieren. Außerdem hatte das MfS gegenüber den Kirchen dann tätig zu werden, wenn Verdachtsmomente dafür vorlagen, dass die Kirchen über den ihnen von der SED zugewiesenen religiös-kultischen Bereich hinaus tätig wurden.
Dementsprechend observierte das MfS Kirchengemeinden und Pfarrer, die – wie es beim MfS hieß – im Rahmen der "Partnerschaftsarbeit" Besuchskontakt zu Kirchengemeinden in der Bundesrepublik unterhielten. Das MfS legte hierzu OV an und ermittelte gegen die Organisatoren der Zusammenkünfte.
Als Ziele der MfS-Aufklärung galten ebenso kirchliche Synoden und Basistreffen, auf denen grundsätzlich die potenzielle Gefahr bestand, dass Kritik an den Verhältnissen in der DDR geübt werden würde. In das Blickfeld des MfS rückten die evangelischen Kirchen insbesondere ab Mitte der 70er Jahre: Zunächst rief die auch unter nichtkirchlichen Jugendlichen an Attraktivität gewinnende kirchliche Jugendarbeit, dann die Friedens-, Umwelt- und Menschenrechtsarbeit unter dem Dach der Kirche den Argwohn des MfS hervor.
Insgesamt war das MfS nur eine von mehreren Institutionen des SED-Staates, die im Rahmen der SED-Kirchenpolitik tätig wurden. Im Zusammenspiel mit ihnen versuchte das MfS, die Kirchen zu kontrollieren und zu disziplinieren.
In Auswertung der kirchenpolitischen Kampagnen der 50er Jahre und bestärkt durch konzeptionelle Arbeiten, drängte die SED-Führung ab Anfang der 80er Jahre zunehmend auf ein koordiniertes Vorgehen. Die vom MdI und den Abteilungen für Inneres erstellten Rapportmeldungen, Berichte und Personeneinschätzungen zu Gottesdiensten und kirchlichen Mitarbeitern wurden vereinbarungsgemäß dem MfS zur Verfügung gestellt und bildeten häufig den Grundstock jener Berichte und Personencharakteristiken, die sich in den Beständen des MfS wiederfinden.
Bereits vor Gründung des MfS hatte bei der Deutschen Verwaltung des Innern in der Abteilung K 5 das Referat C 3 existiert. Als Aufgabenbeschreibung wurde die "Aufklärung und Bekämpfung der kirchlichen Feindtätigkeit" genannt. Ab 1950 bestand im MfS zunächst die Abteilung V, die sich ab 1953 Hauptabteilung V nannte und 1964 im Zuge einer Umstrukturierung zur Hauptabteilung XX wurde.
Innerhalb dieser Organisationsstruktur zeichnete die Abt. 4 für die "Bearbeitung" der Kirchen verantwortlich. 1988 gliedert sich diese in sechs Fachreferate, wobei je eins für die evangelischen Kirchen, die katholische Kirche sowie die Religionsgemeinschaften und Sekten zuständig war. Ein Referat widmete sich Operativen Vorgängen. Als Schwerpunkt der Arbeit wurde die "Bekämpfung der politischen Untergrundtätigkeit" benannt. Zwei weitere Referate nahmen koordinierende Funktionen wahr.
Neben der Hauptabteilung XX/4 stützte sich das MfS bei der Bekämpfung und Infiltration der Kirchen auf die Zuarbeit verschiedener Hauptabteilungen und Abteilungen - so u. a. auf die Dienste der HV A bei der "Aufklärung" von westlichen Partnergemeinden und Pfarrern, die die kirchliche Friedensarbeit in den ostdeutschen Gemeinden unterstützten. Im Fall der Inhaftierung kirchlicher Mitarbeiter übernahm die Hauptabteilung IX als Untersuchungsorgan den Vorgang.
Hinzu kamen andere institutionalisierte Formen der "Bearbeitung". Als politisch-ideologische fungierte ab 1958 das Referat Familienforschung, das Verwicklungen missliebiger Kirchenvertreter in das NS-Regime aufdecken oder konstruieren sollte, um die so Diffamierten unter Druck setzen zu können. Angesiedelt war es beim Deutschen Zentralarchiv in Potsdam. Es verwaltete verschiedene aus NS-Beständen stammende Unterlagen und wertete sie aus. Dabei handelte es sich um eine verdeckt arbeitende Einrichtung des MfS.
Um den steigenden Informationsbedarf – unter Berücksichtigung der Spezifik kirchlicher und religiöser Angelegenheiten – zu decken und um Sonderaufträge u. a. auch im Ausland ausführen zu können, etablierte das MfS 1960 die sog. Auswertungsgruppe, die dem Referat V zugeordnet wurde. In einem konspirativen Objekt in Berlin-Pankow ("Institut Wandlitz") arbeiteten hauptamtliche IM und mehrere OibE zusammen.
Seine "Absicherung" fand das Vorgehen des MfS gegenüber den Kirchen durch ein umfangreiches Netz von OibE und IM, die das MfS im Staatssekretariat für Kirchenfragen und in den Kirchenabteilungen der DDR-Bezirke unterhielt. 1989 gab es im Staatssekretariat drei OibE; zudem berichtete der persönliche Referent und Büroleiter der Staatssekretäre Hans Seigewasser und Klaus Gysi, Horst Dohle, ab 1975 als IM "Horst" dem MfS. Insgesamt aber gelang es dem MfS nicht, die Kirchen umfassend zu unterwandern.
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Signatur: BStU, MfS, HA XX/4, Nr. 2557, Bl. 226-230
Am 3. März 1988 fand das Treffen zwischen SED-Generalsekretär Erich Honecker und dem Vorsitzenden des Bundes der Evangelischen Kirchen (BEK) Bischof Leich statt. Der BEK berichtete den Landeskirchen anschließend von dem Treffen und fügte als Anlage Leichs Ansprache zu den besprochenen Fragen bei.
Anfang 1988 war das Verhältnis zwischen Kirche und Staat auf einem Tiefpunkt angekommen. Insbesondere die evangelische Kirche bot für zahlreiche Bürgerrechtlerinnen und Bürgerrechtler sowie Ausreisewillige einen Schutzschirm. Sie konnten dort ihre Forderungen öffentlich vortragen. Die Partei- und Staatsführung reagierte ihrerseits mit Druck. Als einziger Ausweg aus der festgefahrenen Situation erschien den Kirchenvertretern ein Gespräch auf höchster Ebene, wie es am 6. März 1978 bereits stattgefunden hatte.
Am 3. März 1988 empfing SED-Chef Erich Honecker den Vorsitzenden der Konferenz der Evangelischen Kirchenleitungen in der DDR, den thüringischen Landesbischof Werner Leich. Dieser thematisierte bei der Gelegenheit die restriktiven Regelungen zur Ausreise aus der DDR und die Unterdrückung jeglicher freien Meinungsäußerung durch die Staatssicherheitsorgane.
Über das Treffen von Bischof Leich mit Honecker berichtete der Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR den Landeskirchen noch am gleichen Tag. Als Anlage beigefügt war der "Wortlaut der Ansprache" von Bischof Leich bei diesem Treffen. Hierin bekräftigte er, dass sich die Kirche nicht als Oppositionspartei betrachtet und sich ihre Rolle als Dialogpartnerin für Ausreisewillige und Bürgerrechtsgruppen nicht selbst ausgesucht habe. Außerdem plädierte er für ein transparenteres Verfahren bei den Ausreiseanträgen und die Einführung eines zivilen Wehrersatzdienstes.
Besorgt sehe ich auch, wie die alltäglich erfahrene Wirklichkeit und die durch die Medien vermittelte Einschätzung auseinanderklaffen. Die Bürger erleben und kennen die Schwierigkeiten, die im Alltag unserer Gesellschaft auftreten. In den Medien werden sie nur verhalten erwähnt. Das ruft den Eindruck hervor, als würden die tatsächlichen Aufgaben von den Verantwortlichen nicht oder nur unzureichend erkannt. Dabei könnte das Benennen der Schwierigkeiten das Mitdenken und Mittragen der Bürger einfordern. Die Bereitschaft dazu ist bei den Menschen durchaus vorhanden. Hinzu kommt, daß in vielen Fällen unsere Medien die Berichterstattung und Kommentierung von Ereignissen den Medien der Bundesrepublik überlassen. Diese verhalten sich in der Regel kritisch zur DDR und bauen durch die Auswahl von Negativ-Meldungen eine eigene Nachrichtenwirklichkeit auf. Manche unserer Bürger verwechseln Schnelligkeit der Meldung, Detailberichterstattung und unterschiedliche Kommentierung mit Wirklichkeitsnähe und Objektivität. Unsere Medien in der DDR könnten hier durch eigene, differenzierte Meldungen und Berichte viel wirksamer gegensteuern. Dein Berliner Kirchentag und beim Katholikentreffen ist das ansatzweise gelungen.
III
Fragen, die im Hintergrund dieser Beobachtungen stehen, hat der Vorstand der Konferenz der Evangelischen Kirchenleitungen bei seinem Antrittsbesuch zusammen mit dem Präsidium dar Bundessynode Anfang 1986 dem Herrn Staatssekretär für Kirchenfragen vorgetragen. Im Mai 1987 haben wir diese Fragen in einer gründlich vorbereiteten Form bis ins Einzelne benannt und um Gespräche darüber gebeten. Die Gespräche wurden im Herbst 1937 zugesagt; sodann wurde die Bereitschaft dazu aber wieder zurückgezogen. In unseren Gemeinden und besonders bei jüngeren Gemeindegliedern wurde von diesen Gesprächen viel erwartet. Ich bitte darum, die geplanten Informationsgespräche in der im Herbst 1997 abgesprochenen Form über Fragen des Wehrdienstes, des Bildungswesens und des Umgangs mit den Bürger doch noch durchzuführen. Ich bin davon überzeugt, daß die Durchführung eine Art Signalwirkung für die Zukunftserwartung vieler Bürger ablöst.
Wir brauchen in Staat und Gesellschaft solche Signalwirkungen für die zukünftige Entwicklung. Diejenigen, die von einem Tag in den anderen leben und hinsichtlich der Zukunftserwartung des Gemeinwesens resignieren, müssen mitgenommen werden auf einem Weg nach vorn. Diejenigen, die sich unruhig nach deutlichen Zukunftserwartungen sehnen, müssen ihre Einsatzbereitschaft innerhalb unserer Gesellschaft einbringen können. Solche Handlungen durch Staat und Gesellschaft mit Signalwirkung auf Zukunftserwartung sind in manchen Bereichen möglich:
Eine öffentlich festgestellte Begründungspflicht in Antragsverfahren jeder Art, die das persönliche Leben des Bürgers betreffen, wäre ein Schritt nach vorn.
Die Offenlegung des Verfahrens und der Kriterien bei Besuchsreisen wäre ein Schritt nach vorn.
Der frühzeitige Versuch der Reintegration von Antragstellern auf Ausbürgerung im Sinne des Dialogs und bei dessen Scheitern die Angabe einer Mindestwartezeit bis zur Ausbürgerung würden Enttäuschungserlebnisse und deren Weitergabe einschränken.
Die Einführung eines zivilen Wehrersatzdienstes würde die Frage der Wehrdienstverweigerung erledigen und unter Jugendlichen, auch wenn sie keinen Gebrauch von diesem Ersatzdienst machen, einen starken Impuls für die sozialistische Gesellschaft auslösen.
Eine deutliche Aussage über die Chancengleichheit aller Bürger für den Bereich der Volks-, Fach- und Hochschulbildung brächte Öffnung nach vorn. Dialogbereitschaft und der Wille zur Zusammenarbeit mit Bürgern, die von der Sorge um die Erhaltung der Lebensbedingungen der Natur umgetrieben werden, wäre eine Möglichkeit, mit vielen zusammen auf Zukunftsbewahrung hinzuwirken.
Die Kirchen gerieten nicht selten unter Verdacht, gegen die politischen Verhältnisse in der DDR zu opponieren. Das lag an ihrer weitgehenden Eigenständigkeit, an der christlichen Botschaft, die von den kommunistischen Ideologen als konkurrierendes Sinn- und Erklärungsangebot abgelehnt wurde, sowie an ihrem Beharren auf Mitsprache und Gestaltungsanspruch in gesellschaftlichen Fragen. Im Auftrag der SED wurde daher das MfS tätig, um die von den Kirchen ausgehenden vermeintlichen und tatsächlichen Gefahren für das politisch-ideologische System der DDR abzuwehren.
Die SED-Kirchenpolitik war in den vier Jahrzehnten der DDR Wandlungen unterworfen. In den 50er Jahren führte die SED mehrfach einen offenen Kirchenkampf. Dieser richtete sich u. a. gegen die kirchliche Jugend- und Studentenarbeit, v. a. bei der Einführung der Jugendweihe, sowie gegen karitative Einrichtungen wie die Bahnhofsmissionen. Mehrere Religionsgemeinschaften wurden verboten und deren Anhänger verfolgt.
Die SED war zudem bestrebt, die Verlesung von solchen Hirtenbriefen und Kanzelabkündigungen zu unterbinden, in denen sozialethische, gesellschaftskritische oder politische Fragen aufgegriffen wurden. Von der Polizei und dem MfS wurden kirchliche Einrichtungen durchsucht und Literatur beschlagnahmt. Neben kirchlichen Mitarbeitern wurden unter Mitwirkung des MfS auch Pfarrer – zwischen 1950 und 1960 mindestens 140 – inhaftiert.
Ab den 60er Jahren beschränkte sich die SED zunehmend darauf, durch eine rigorose Auslegung der Veranstaltungsordnung unerwünschte kirchliche Aktivitäten zu behindern. Das offizielle Eindringen in kirchliche Räume wie im November 1987, als es nachts in der Zionsgemeinde in Ostberlin zu Durchsuchungen und Festnahmen kam, war in den 70er und 80er Jahren eher untypisch, weil dies die Staat-Kirche-Beziehungen erheblich belastete. Vor allem seit 1978 bemühte sich die SED, ein Stillhalteabkommen zwischen Kirchenleitungen und Staat zu respektieren.
Das MfS versuchte aber stets, indirekt Einfluss auf kirchliche Entscheidungen zu nehmen. Dies und die verdeckte Informationsbeschaffung zählten zu den Hauptbetätigungsfeldern des MfS im Rahmen der von der SED konzipierten Kirchenpolitik. Die Informationsbeschaffung erfolgte mittels Observation, IM-Einsatz und auf dem Weg der sog. Gesprächsabschöpfung. Dabei gelang es in Einzelfällen auch, Christen in kirchlichen Leitungspositionen als IM zu gewinnen.
So arbeitete der thüringische Kirchenjurist und Oberkirchenrat Gerhard Lotz seit 1955 mit dem MfS als IM "Karl" zusammen. Durch die Positionierung eines Offiziers im besonderen Einsatz im Konsistorium in Magdeburg, Detlev Hammer, der ab 1974 juristischer, dann Oberkonsistorialrat war, vermochte es das MfS, einen hauptamtlichen Mitarbeiter innerhalb der Leitungsstruktur der provinzsächsischen Kirche zu platzieren. Außerdem hatte das MfS gegenüber den Kirchen dann tätig zu werden, wenn Verdachtsmomente dafür vorlagen, dass die Kirchen über den ihnen von der SED zugewiesenen religiös-kultischen Bereich hinaus tätig wurden.
Dementsprechend observierte das MfS Kirchengemeinden und Pfarrer, die – wie es beim MfS hieß – im Rahmen der "Partnerschaftsarbeit" Besuchskontakt zu Kirchengemeinden in der Bundesrepublik unterhielten. Das MfS legte hierzu OV an und ermittelte gegen die Organisatoren der Zusammenkünfte.
Als Ziele der MfS-Aufklärung galten ebenso kirchliche Synoden und Basistreffen, auf denen grundsätzlich die potenzielle Gefahr bestand, dass Kritik an den Verhältnissen in der DDR geübt werden würde. In das Blickfeld des MfS rückten die evangelischen Kirchen insbesondere ab Mitte der 70er Jahre: Zunächst rief die auch unter nichtkirchlichen Jugendlichen an Attraktivität gewinnende kirchliche Jugendarbeit, dann die Friedens-, Umwelt- und Menschenrechtsarbeit unter dem Dach der Kirche den Argwohn des MfS hervor.
Insgesamt war das MfS nur eine von mehreren Institutionen des SED-Staates, die im Rahmen der SED-Kirchenpolitik tätig wurden. Im Zusammenspiel mit ihnen versuchte das MfS, die Kirchen zu kontrollieren und zu disziplinieren.
In Auswertung der kirchenpolitischen Kampagnen der 50er Jahre und bestärkt durch konzeptionelle Arbeiten, drängte die SED-Führung ab Anfang der 80er Jahre zunehmend auf ein koordiniertes Vorgehen. Die vom MdI und den Abteilungen für Inneres erstellten Rapportmeldungen, Berichte und Personeneinschätzungen zu Gottesdiensten und kirchlichen Mitarbeitern wurden vereinbarungsgemäß dem MfS zur Verfügung gestellt und bildeten häufig den Grundstock jener Berichte und Personencharakteristiken, die sich in den Beständen des MfS wiederfinden.
Bereits vor Gründung des MfS hatte bei der Deutschen Verwaltung des Innern in der Abteilung K 5 das Referat C 3 existiert. Als Aufgabenbeschreibung wurde die "Aufklärung und Bekämpfung der kirchlichen Feindtätigkeit" genannt. Ab 1950 bestand im MfS zunächst die Abteilung V, die sich ab 1953 Hauptabteilung V nannte und 1964 im Zuge einer Umstrukturierung zur Hauptabteilung XX wurde.
Innerhalb dieser Organisationsstruktur zeichnete die Abt. 4 für die "Bearbeitung" der Kirchen verantwortlich. 1988 gliedert sich diese in sechs Fachreferate, wobei je eins für die evangelischen Kirchen, die katholische Kirche sowie die Religionsgemeinschaften und Sekten zuständig war. Ein Referat widmete sich Operativen Vorgängen. Als Schwerpunkt der Arbeit wurde die "Bekämpfung der politischen Untergrundtätigkeit" benannt. Zwei weitere Referate nahmen koordinierende Funktionen wahr.
Neben der Hauptabteilung XX/4 stützte sich das MfS bei der Bekämpfung und Infiltration der Kirchen auf die Zuarbeit verschiedener Hauptabteilungen und Abteilungen - so u. a. auf die Dienste der HV A bei der "Aufklärung" von westlichen Partnergemeinden und Pfarrern, die die kirchliche Friedensarbeit in den ostdeutschen Gemeinden unterstützten. Im Fall der Inhaftierung kirchlicher Mitarbeiter übernahm die Hauptabteilung IX als Untersuchungsorgan den Vorgang.
Hinzu kamen andere institutionalisierte Formen der "Bearbeitung". Als politisch-ideologische fungierte ab 1958 das Referat Familienforschung, das Verwicklungen missliebiger Kirchenvertreter in das NS-Regime aufdecken oder konstruieren sollte, um die so Diffamierten unter Druck setzen zu können. Angesiedelt war es beim Deutschen Zentralarchiv in Potsdam. Es verwaltete verschiedene aus NS-Beständen stammende Unterlagen und wertete sie aus. Dabei handelte es sich um eine verdeckt arbeitende Einrichtung des MfS.
Um den steigenden Informationsbedarf – unter Berücksichtigung der Spezifik kirchlicher und religiöser Angelegenheiten – zu decken und um Sonderaufträge u. a. auch im Ausland ausführen zu können, etablierte das MfS 1960 die sog. Auswertungsgruppe, die dem Referat V zugeordnet wurde. In einem konspirativen Objekt in Berlin-Pankow ("Institut Wandlitz") arbeiteten hauptamtliche IM und mehrere OibE zusammen.
Seine "Absicherung" fand das Vorgehen des MfS gegenüber den Kirchen durch ein umfangreiches Netz von OibE und IM, die das MfS im Staatssekretariat für Kirchenfragen und in den Kirchenabteilungen der DDR-Bezirke unterhielt. 1989 gab es im Staatssekretariat drei OibE; zudem berichtete der persönliche Referent und Büroleiter der Staatssekretäre Hans Seigewasser und Klaus Gysi, Horst Dohle, ab 1975 als IM "Horst" dem MfS. Insgesamt aber gelang es dem MfS nicht, die Kirchen umfassend zu unterwandern.
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Reaktionen auf das Gespräch zwischen Honecker und Bischof Leich Dokument, 5 Seiten
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