Signatur: BArch, MfS, HA IX, Nr. 9875, Bl. 1-6
Das Urteil gegen vier der am Überfall auf das Punkkonzert in der Zionskirche beteiligten Skinheads sorgte wegen des geringen Strafmaßes in der Öffentlichkeit für Kritik. Der Sekretär des SED-Zentralkomitees für Sicherheitsfragen, Jugend, Sport, Staats- und Rechtsfragen, Egon Krenz, griff persönlich in das Strafverfahren ein und vereinbarte mit dem Generalstaatsanwalt höhere Strafen für die Täter. Generalsekretär Erich Honecker stimmte diesem Vorschlag zu.
Am Abend des 17. Oktobers 1987 überfielen rechtsextreme Skinheads ein Punkkonzert in der Ost-Berliner Zionskirche. Neben der Punkband "Die Firma" spielte auf dem Konzert auch "Element of Crime" aus West-Berlin. Als die Konzertbesucherinnen und -besucher die vollbesetzte Kirche verließen, schlugen etwa 30 angetrunkene Neonazis aus Ost- und West-Berlin auf sie ein. Dabei brüllten sie faschistische Parolen wie "Juden raus", "Kommunistenschweine" und "Sieg Heil!". Anwesende Volkspolizisten registrierten das Geschehen, hielten sich aber im Hintergrund und griffen erst ein, nachdem ein Notruf eingegangen war.
Bei den anschließenden Ermittlungen arbeiteten Staatssicherheit und Volkspolizei eng zusammen. Der Überfall auf die Zionskirche zeigte, dass es trotz der geleugneten Existenz von Rechtsextremismus in der DDR eine gewaltbereite Neonazi-Szene gab. Da westliche Medien bereits einen Tag später über den Vorfall berichteten, konnten auch die DDR-Medien dieses Ereignis nicht mehr stillschweigend übergehen.
Für die Gerichtsverfahren stimmte sich die Staatssicherheit eng mit der Justiz der DDR ab. Im ersten Prozess erhielten die vier Hauptangeklagten zunächst unerwartet niedrige Strafen zwischen einem und zwei Jahren Haft. Nachdem es Proteste gegen die Urteile gegeben hatte, forderte die Generalstaatsanwaltschaft in Abstimmung mit dem Obersten Gericht der DDR in den Berufungsverhandlungen ein höheres Strafmaß. Die Neonazis aus Ost-Berlin erhielten schließlich Haftstrafen bis zu vier Jahren.
Nach dem ersten Prozess gegen vier der am Überfall beteiligten Neonazis im Stadtbezirksgericht Berlin-Mitte kam es zu öffentlichem Protest gegen die als zu gering empfundenen Strafen. Nicht nur westliche Medien, auch die FDJ-Zeitung "Junge Welt" hatten das verhängte Strafmaß von ein bis zwei Jahren Haft als unzureichend kritisiert. Das Zentralkomitee der SED intervenierte, um an den angeklagten Neonazis ein Exempel zu statuieren. ZK-Sekretär Egon Krenz stimmte sich dazu am 3. Dezember 1987 mit dem Generalstaatsanwalt und dem 1. Vizepräsidenten des Obersten Gerichts über den einzulegenden Protest gegen das Urteil ab. Der Generalstaatsanwalt forderte nun ein höheres Strafmaß "insbesondere wegen des brutalen und organisierten Vorgehens" der Skinheads. Straftatbestand blieb weiterhin das "Rowdytum" (StGB § 215). Krenz legte den Vorschlag Generalsekretär Erich Honecker am 4. Dezember 1987 zur "Kenntnisnahme bzw. Weisung" vor, der ihm zustimmte.
3. In der Verhandlung vor dem Stadtgericht wurden
Busse zu 2 Jahren Freiheitsentzug
Brandt zu 1 Jahr 6 Monaten Freiheitsentzug
Ewert zu 1 Jahr 3 Monaten Freiheitsentzug
Brzezinski zu 1 Jahr Freiheitsentzug
verurteilt.
Ausschreitungen dieses Charakters waren bisher nicht zu verzeichnen. Angesichts der Brutalität, Organisiertheit und ihres politischen Charakters sind die Strafen zu gering. Das betrifft insbesondere die gegen Busse ausgesprochene Freiheitsstrafe.
Der Staatsanwalt des Stadtbezirkes Berlin-Mitte wird gegen das Urteil am 04.12.1987 Protest einlegen. Mit dem Protest wird das zu geringe Strafmaß angegriffen. Das Stadtgericht wird unter Beachtung der gesetzlichen Fristen über den Protest noch im Dezember entscheiden.
Der Generalstaatsanwalt von Berlin wird angewiesen, folgende Strafen zu beantragen:
Busse zu 4 Jahren Freiheitsentzug
Brandt zu 2 Jahren 6 Monaten Freiheitsentzug
Ewert zu 1 Jahr 8 Monaten Freiheitsentzug
Brzezinski zu 1 Jahr 6 Monaten Freiheitsentzug.
4. Im Zusammenhang mit den Ausschreitungen am 17.10.1987 im Bereich der Zionskirche befinden sich acht weitere Personen in Untersuchungshaft. Die Ermittlungen werden im Dezember 1987 abgeschlossen. Die Erkenntnisse aus den gegenwärtigen Verfahren werden für die konzeptionelle Vorbereitung der Prozesse genutzt. Das einheitliche Wirken der beteiligten Organe wird gesichert.
5. Weitere Ermittlungsverfahren wegen rowdyhaften Ausschreitungen, an denen Skinheads beteiligt waren, werden in der Hauptstadt durchgeführt. Die Tatorte befinden sich in den Stadtbezirken Berlin-Mitte (8 Personen), Berlin-Köpenick (1 Person) und in Velten, Kreis Oranienburg (9 Personen).
Die Täter befinden sich in Untersuchungshaft.
Die Verfahren werden einheitlich mit dem Ziel der gründlichen Aufklärung und des beschleunigten Abschlusses geleitet.
Lieber Genosse Egon Krenz!
Ich schlage Dir vor, daß die anliegende Presseinformation am Sonnabend, dem 05.12.1987 veröffentlicht wird.
Mit sozialistischem
[Unterschrift]
Günter Wendland
Berlin, 04.12.1987
Erstes Stadium des Strafverfahrens, steht formal unter Leitung des Staatsanwaltes (§ 87 StPO/1968). Die eigentlichen Ermittlungen werden von den staatlichen Untersuchungsorganen (Polizei, MfS, Zoll) durchgeführt (§ 88 StPO/1968) und vom Staatsanwalt beaufsichtigt (§ 89 StPO/1968).
Tatsächlich waren für die Ermittlungen des MfS lediglich die zuvor vom MfS ausgewählten Staatsanwälte der Abteilungen IA zuständig, die gemäß MfS-internen Regelungen keine Einsicht in Unterlagen oder Ermittlungen, die nicht der StPO entsprachen, bekommen durften. Faktisch gab es daher eine doppelte Aktenführung in der zuständigen Linie IX: den internen Untersuchungsvorgang und die für Staatsanwaltschaft und Gericht bestimmte Gerichtsakte und somit keine wirksame staatsanwaltschaftliche Aufsicht über die MfS-Ermittlungen. Einleitung wie auch Einstellung des Ermittlungsverfahrens konnten selbständig von den Untersuchungsorganen verfügt werden (§§ 98, 141 StPO/1968).
Mit dem Ermittlungsverfahren verbunden waren Eingriffe in die persönliche Freiheit Beschuldigter durch die Untersuchungsorgane wie die Beschuldigten- und Zeugenvernehmung, die Durchsuchung, die Beschlagnahme, die Festnahme oder die Untersuchungshaft. In der Tätigkeit des MfS stellte das Ermittlungsverfahren einen besonders wirksamen Teil des repressiven Vorgehens gegen politische Gegner dar.
Untersuchungshaft ist eine freiheitsentziehende Zwangsmaßnahme zur Sicherung des Strafverfahrens. Die Untersuchungshaft begann nach der Verkündung des Haftbefehls durch einen Richter und endete mit der Überstellung in den Strafvollzug nach Erlangung der Rechtskraft einer Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe, selten auch mit der Freilassung.
Voraussetzungen für die Anordnung der Untersuchungshaft waren ein dringender Tatverdacht sowie entweder Fluchtverdacht oder Verdunklungsgefahr (§ 112 StPO/1949, § 141 StPO/1952, § 122 StPO/1968). Der Vollzug der Untersuchungshaft war gesetzlich mit nur einem StPO-Paragraphen geregelt (§ 116 StPO/1949, § 147 StPO/1952, § 130 StPO/1968), alles Weitere in internen Ordnungen. Er erfolgte für Beschuldigte, deren Ermittlungsverfahren von der Staatssicherheit geführt wurden, in MfS-Untersuchungshaftanstalten in Berlin bzw. den Bezirksstädten der DDR.
Die Haftbedingungen waren dort von Willkür, völliger Isolation und daraus resultierender Desorientierung der Häftlinge gekennzeichnet. Für den Vollzug der Untersuchungshaft war im MfS die Linie XIV (Abt. XIV) zuständig; die Vernehmungen oblagen den Untersuchungsführern der Linie IX (HA IX).
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Signatur: BArch, MfS, HA IX, Nr. 9875, Bl. 1-6
Das Urteil gegen vier der am Überfall auf das Punkkonzert in der Zionskirche beteiligten Skinheads sorgte wegen des geringen Strafmaßes in der Öffentlichkeit für Kritik. Der Sekretär des SED-Zentralkomitees für Sicherheitsfragen, Jugend, Sport, Staats- und Rechtsfragen, Egon Krenz, griff persönlich in das Strafverfahren ein und vereinbarte mit dem Generalstaatsanwalt höhere Strafen für die Täter. Generalsekretär Erich Honecker stimmte diesem Vorschlag zu.
Am Abend des 17. Oktobers 1987 überfielen rechtsextreme Skinheads ein Punkkonzert in der Ost-Berliner Zionskirche. Neben der Punkband "Die Firma" spielte auf dem Konzert auch "Element of Crime" aus West-Berlin. Als die Konzertbesucherinnen und -besucher die vollbesetzte Kirche verließen, schlugen etwa 30 angetrunkene Neonazis aus Ost- und West-Berlin auf sie ein. Dabei brüllten sie faschistische Parolen wie "Juden raus", "Kommunistenschweine" und "Sieg Heil!". Anwesende Volkspolizisten registrierten das Geschehen, hielten sich aber im Hintergrund und griffen erst ein, nachdem ein Notruf eingegangen war.
Bei den anschließenden Ermittlungen arbeiteten Staatssicherheit und Volkspolizei eng zusammen. Der Überfall auf die Zionskirche zeigte, dass es trotz der geleugneten Existenz von Rechtsextremismus in der DDR eine gewaltbereite Neonazi-Szene gab. Da westliche Medien bereits einen Tag später über den Vorfall berichteten, konnten auch die DDR-Medien dieses Ereignis nicht mehr stillschweigend übergehen.
Für die Gerichtsverfahren stimmte sich die Staatssicherheit eng mit der Justiz der DDR ab. Im ersten Prozess erhielten die vier Hauptangeklagten zunächst unerwartet niedrige Strafen zwischen einem und zwei Jahren Haft. Nachdem es Proteste gegen die Urteile gegeben hatte, forderte die Generalstaatsanwaltschaft in Abstimmung mit dem Obersten Gericht der DDR in den Berufungsverhandlungen ein höheres Strafmaß. Die Neonazis aus Ost-Berlin erhielten schließlich Haftstrafen bis zu vier Jahren.
Nach dem ersten Prozess gegen vier der am Überfall beteiligten Neonazis im Stadtbezirksgericht Berlin-Mitte kam es zu öffentlichem Protest gegen die als zu gering empfundenen Strafen. Nicht nur westliche Medien, auch die FDJ-Zeitung "Junge Welt" hatten das verhängte Strafmaß von ein bis zwei Jahren Haft als unzureichend kritisiert. Das Zentralkomitee der SED intervenierte, um an den angeklagten Neonazis ein Exempel zu statuieren. ZK-Sekretär Egon Krenz stimmte sich dazu am 3. Dezember 1987 mit dem Generalstaatsanwalt und dem 1. Vizepräsidenten des Obersten Gerichts über den einzulegenden Protest gegen das Urteil ab. Der Generalstaatsanwalt forderte nun ein höheres Strafmaß "insbesondere wegen des brutalen und organisierten Vorgehens" der Skinheads. Straftatbestand blieb weiterhin das "Rowdytum" (StGB § 215). Krenz legte den Vorschlag Generalsekretär Erich Honecker am 4. Dezember 1987 zur "Kenntnisnahme bzw. Weisung" vor, der ihm zustimmte.
Aufhebung des Urteils gegen Rowdys beantragt
Die Staatsanwaltschaft hat gegen das Urteil des Stadtbezirksgerichts Berlin-Mitte, durch das vier Rowdys wegen ihrer aktiven Beteiligung an schweren Ausschreitungen am 17. Oktober 1987 vor und in der Zionskirche in Berlin zu Freiheitsstrafen zwischen 1 und 2 Jahren verurteilt worden waren, Protest eingelegt.
Im Protest wird hervorgehoben, daß die ausgesprochenen Freiheitsstrafen in keiner Weise der Schwere der begangenen Straftaten entsprechen, insbesondere wegen des brutalen und organisierten Vorgehens sowie der schweren Auswirkungen auf die öffentliche Ordnung und Sicherheit. Wer in dieser Art die Rechtssicherheit beeinträchtigt, muß mit aller Konsequenz zur Verantwortung gezogen werden.
Das Stadtgericht Berlin wird über den Protest entscheiden.
[handschriftliche Ergänzung: [nicht lesbar]]
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Schreiben des Generalstaatsanwalts der DDR zum Verlauf des Verfahrens gegen vier am Überfall auf die Zionskirche beteiligte Skinheads Dokument, 3 Seiten
Information über bisherige Untersuchungen des Neonazi-Überfalls auf die Zionskirche Dokument, 4 Seiten
Information der BV Berlin zum Neonazi-Überfall auf ein Punkkonzert in der Zionskirche Dokument, 5 Seiten
Information über eine Feier von Skinheads in der Gaststätte "Sputnik" Dokument, 1 Seite