Signatur: BArch, MfS, HA IX/11, ZM 1625, Bd. 1, Bl. 107
Mitte der 1960er Jahre begann die Stasi, sich eingehend mit den nationalsozialistischen Verbrechen um den KZ-Lager-Komplex Mittelbau-Dora auseinanderzusetzen und umfassende Archivauswertungen und Ermittlungen vorzunehmen. Hintergrund war das sich hierzu anbahnende zweite große Strafverfahren auf westdeutschem Boden, der Essener Dora-Prozess. Er begann im November 1967 vor dem Essener Landgericht. Seit Anfang der 1960er Jahre liefen entsprechende Vorermittlungen in der Bundesrepublik, die vielfach Rechtshilfeersuchen an verschiedene Stellen in der DDR einschlossen und so die Stasi auf den Plan riefen.
Am zweiten großen Prozess auf westdeutschem Boden zu Gewalt- und Endphaseverbrechen im KZ Mittelbau-Dora gegen die SS-Leute Helmut Bischoff, Erwin Busta und Ernst Sander nahm die DDR als Nebenklagevertreter teil. Sie entsandte hierzu mit Rechtsanwalt Friedrich Karl Kaul einen Anwalt, den die Nazis selbst aufgrund seiner jüdischen Abstammung verfolgt und inhaftiert hatten. Kaul gehörte zu den wenigen ostdeutschen Anwälten, die auch an Westberliner und westdeutschen Gerichten anwaltlich tätig werden konnten. Er war daher bereits zuvor u. a. als Hauptprozessbevollmächtigter im KPD-Verbotsverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht sowie als Nebenklagevertreter im ersten Frankfurter Auschwitz-Prozess (1963-1965) und im ebenfalls 1967 beginnenden zweiten Frankfurter Euthanasie-Prozess (1967-1968) aufgetreten.
In seiner Rolle vor dem Essener Gericht wurde Kaul durch eine eigens hierfür ins Leben gerufene „AG Dora“ unterstützt. Sie setzte sich aus Vertretern der DDR-Generalstaatsanwaltschaft, des MfS und MdI, einer studentischen Forschungsgruppe der Humboldt-Universität um den Historiker Prof. Dr. Walter Bartel sowie Mitarbeitern Kauls zusammen. Eine direkte Anbindung an das Sekretariat des ZK der SED war ebenso gewährleistet.
Die Stasi konnte in ihrem Vorgehen auf Erfahrungen zurückgreifen, die sie unter anderem in ihren zuvor durchgeführten Aktionen „Nazikamarilla“ und „Konzentration“ gesammelt hatte. Beide MfS-Aktionen verband, dass sie vor dem Hintergrund sich außerhalb der DDR abzeichnender oder gerade stattfindender NS-Kriegsverbrecherprozesse bei jeweils aktuellem Aufbrechen einer Verjährungsdebatte in der Bundesrepublik ins Rollen kamen. Das betraf bei der Aktion „Nazikamarilla“ z. B. den, nach der Entführung Adolf Eichmanns, 1960 absehbaren Eichmann-Prozess in Jerusalem.
Für die Aktion „Konzentration“ bildeten u. a. der erste Frankfurter Auschwitz-Prozess und der sich in Vorbereitung befindende Essener Dora-Prozess den außenpolitischen Horizont des eigenen Handelns. Die hierbei jeweils entstehende Öffentlichkeit sollte für die Darstellung der DDR als antifaschistischer Staat und zugleich für die Diffamierung der Bundesrepublik genutzt werden. Ein Blick auf die eigene Verstrickung und Täterschaft wurde weitestgehend vermieden.
Für das konkrete Agieren der Nebenklagevertretung im Essener Dora-Prozess stellte diese moralische Selbstüberhöhung der DDR allerdings insbesondere beim Umgang mit Zeugen aus der DDR eine schwere Hypothek dar. Die wenigen relevanten Zeugen aus der DDR, die im Rahmen der Anklage benannt und daher zur Vernehmung vor Gericht vorgesehen waren, wurden allesamt mit einer Ausreisesperre belegt.
Beschlossen wurde die Ausreisesperre bereits im September 1967 und durch Mielke auf einem Schreiben der HA IX vom 20.10.1967 persönlich bestätigt. Hintergrund hierfür stellten Personenüberprüfungen der Stasi dar. Das Nicht-Erscheinen der Zeugen vor Gericht wurde durch politisch-operative Gründe gerechtfertigt: Unter den Betreffenden waren sogenannte Erstzuzüge (ehemalige Bürger der Bundesrepublik), Ausreisewillige sowie als „politisch unzuverlässig“ eingestufte Bürger. Hinzu kamen Personen, die entweder wegen Delikten „allgemeiner Kriminalität“ durch die Nazis ins KZ verbracht wurden oder derlei Delikte in der DDR begangen hatten. Teilweise trafen mehrere dieser Punkte gleichzeitig zu.
Sowohl die DDR-Generalstaatsanwaltschaft als auch die Stasi befürchteten daher eine Diffamierung der DDR durch die westliche Presse und Politik, sollten die Zeugen im Prozess persönlich auftreten. Stattdessen waren kommissarische Vernehmungen durch DDR-Gerichte vorgesehen. Diese Praxis eröffnete im Verfahren letztlich den Verteidigern die Möglichkeit, den Gehalt dieser Vernehmungen dem Zweifel staatlicher Einflussnahme auszusetzen und ihnen somit verminderte Beweiskraft beizumessen. Zumal andere Verfahrensbeteiligte zu den Vernehmungen nicht zugelassen wurden.
Kaul war sich dieser Problematik bewusst und wandte sich mit dem hier vorliegenden Schreiben vom 26. September 1967 direkt an Stasi-Minister Mielke, letztlich vergeblich. Vor allem den Ausschluss weiterer Verfahrensbeteiligter bei kommissarischen Vernehmungen benennt Kaul im vorliegenden Dokument als den eigenen Interessen abträglich. Besonders brisant war dieser politischer Opportunitätsvorbehalten folgende Umgang mit Zeugenschaft zudem bei der in Kauls Schreiben erwähnten Entlastungszeugin. Hier galt es zunächst, deren Identität und Aufenthalt in der DDR zu klären.
Bei dieser Zeugin handelte es sich um die ehemalige Stenotypistin Ernst Sanders. Sie hatte im Rahmen westdeutscher Vorermittlungen bereits 1961 in West-Berlin eine den Angeklagten entlastende notarielle Erklärung abgegeben. Die darin enthaltenen Einlassungen erwiesen sich im Gerichtsverfahren in größten Teilen als Gefälligkeit. Eine Vernehmung der Frau im Prozess barg jedoch das Risiko, dass ihre persönliche NS-Verstrickung diskreditierend auf die sich selbst antifaschistisch verstehende DDR negativ zurückzufallen drohte. Stattdessen wurde auch sie kommissarisch in der DDR befragt. Jedoch ebenfalls unter Ausschluss weiterer Verfahrensbeteiligter.
[Stempel: VME/ 2485/67
26. September 1967]
Professor Dr.F.K. Kaul
Rechtsanwalt und Notar
Berlin N 54, Wilhelm-Pieck-Strasse 11 (U-Bhf. Luxemburgplatz)
Telefon 42 69 31
Postscheckkonto 78 12
Berlin, den 26. September 1967
I/N
Werter Genosse Minister!
Ich wäre Ihnen dankbar, wenn ich, sobald es Ihre Zeit gestattet, eine persönliche Rücksprache in folgender Angelegenheit mit Ihnen haben könnte:
Es geht um die Frage der Vernehmung von DDR-Bürgern als Zeugen in den beiden Nazimordprozessen (Anstaltsmord und "Dora") durch unsere Gerichte. Die zur Zeit von uns geübte Praxis, die einen Ausschluß der Verfahrensbeteiligten bei der Durchführung der Vernehmung vorsieht, ist unseren Interessen abträglich. Besonders akut, und das ist die damit zusammenhängende Frage, die sehr sorgsam geprüft werden muß, wird dieses Problem dadurch, daß wir jetzt bei der beim Essener Schwurgericht vorgenommenen Durchsicht der Akten im Mordprozeß "Dora" festgestellt haben, daß die wesentlichste Entlastungszeugin für den SS-Angehörigen Sander -u. a. der Mörder unseres Genossen Kunze- in der Deutschen Demokratischen Republik ansässig ist. Unter Geheimhaltung ihrer Anschrift wird man versuchen, die entlastende Bekundung, die sie im Juli 1961 in Westberlin gemacht hat, zu verwerten. Dem muß von unserer Seite in entsprechender Weise entgegen getreten werden.
Mit sozialistischem Gruß
[Unterschrift]
(Professor Dr. Kaul)
Rechtsanwalt
Hauptabteilung IX (Untersuchungsorgan)
Die Hauptabteilung IX war die für strafrechtliche Ermittlungen und Strafverfolgung zuständige Diensteinheit. Sie hatte wie die nachgeordneten Abteilung IX in den Bezirksverwaltung (BV) (Linie IX) die Befugnisse eines Untersuchungsorgans, d. h. einer kriminalpolizeilichen Ermittlungsbehörde. Ursprünglich vor allem für die sog. Staatsverbrechen zuständig, befasste sie sich in der Honecker-Ära überwiegend mit Straftaten gegen die staatliche Ordnung, vor allem mit Fällen "ungesetzlichen Grenzübertritts" und Delikten, die mit Ausreisebegehren zu tun hatten. Nach StPO der DDR standen auch die Ermittlungsverfahren der Linie IX unter Aufsicht der Staatsanwaltschaft, in der Praxis arbeitete das MfS hier jedoch weitgehend eigenständig.
Die Hauptabteilung IX und die Abteilungen IX der BV waren berechtigt, Ermittlungsverfahren einzuleiten sowie Festnahmen, Vernehmungen, Durchsuchungen, Beschlagnahmen und andere strafprozessuale Handlungen vorzunehmen sowie verpflichtet, diese Verfahren nach einer bestimmten Frist - meist durch die Übergabe an die Staatsanwaltschaft zur Anklageerhebung - zum Abschluss zu bringen (Untersuchungsvorgang). Daneben führte sie Vorermittlungen zur Feststellung von Ursachen und Verantwortlichen bei Großhavarien (industriellen Störfällen), Flugblättern widerständigen Inhalts, öffentlichen Protesten u. ä. (Vorkommnisuntersuchung, Sachverhaltsprüfung).
Die Hauptabteilung IX gehörte zeit ihres Bestehens zum Anleitungsbereich Mielkes, in den ersten Jahren in seiner Funktion als Staatssekretär und 1. stellv. Minister, ab 1957 als Minister. Ihre Leiter waren Alfred Karl Scholz (1950-1956), Kurt Richter (1956-1964), Walter Heinitz (1964-1973) und Rolf Fister (1973-1989).
1953 bestand die Hauptabteilung IX aus drei Abteilungen, die für Spionagefälle, Fälle politischer "Untergrundtätigkeit" und die Anleitung der Abt. IX der BV zuständig waren. Durch Ausgliederungen entstanden weitere Abteilungen, so u. a. für Wirtschaftsdelikte, Militärstraftaten, Delikte von MfS-Angehörigen und Fluchtfälle. Ende 1988 bestand die Hauptabteilung IX aus zehn Untersuchungsabteilungen sowie der Auswertungs- und Kontrollgruppe (AKG) und der AGL (Arbeitsgruppe des Ministers (AGM)) mit insgesamt 489 Mitarbeitern. Auf der Linie IX arbeiteten 1.225 hauptamtliche Mitarbeiter.
Die Linie IX wirkte eng mit den Abteilung XIV (Haft) und der Linie VIII (Beobachtung, Ermittlung), die für die Durchführung der Festnahmen zuständig waren, zusammen. Bei der juristischen Beurteilung von Operativen Vorgängen (OV) wurde die Hauptabteilung IX von den geheimdienstlich arbeitenden Diensteinheiten häufig einbezogen.
Entführungen, also Verschleppungen im Sinne des Strafrechts (in den Akten auch Überführung ), waren bis in die 70er Jahre elementare Bestandteile in der Strategie und Taktik der DDR-Geheimpolizei.
In dem 1969 von der Juristischen Hochschule des MfS erarbeiteten "Wörterbuch der politisch-operativen Arbeit" wird das Delikt einer Entführung als "Erscheinungsform von Terrorverbrechen" definiert. "Sie ist das Verbringen von Menschen gegen ihren Willen unter Anwendung spezifischer Mittel und Methoden (Gewalt, Drohung, Täuschung, Narkotika, Rauschmittel u. a.) von ihrem ursprünglichen Aufenthaltsort in andere Orte, Staaten oder Gebiete." Unbeabsichtigt erfasst diese Definition exakt auch die Entführungen, die das MfS "im Operationsgebiet" verübt hat.
Entführungen entsprachen den Traditionen und Praktiken der sowjetischen "Tschekisten". Nicht zufällig haben Instrukteure und Agenten der KGB-Dependance in Ostberlin bis Mitte der 50er Jahre auch bei Entführungen aus Westberlin und Westdeutschland mit dem MfS eng kooperiert. Entführungen wurden in der Verantwortung jedes der drei Minister für Staatssicherheit durchgeführt, die die DDR unter der Diktatur der SED hatte. Weder Zaisser noch Mielke setzten sie allerdings so planmäßig und aggressiv ein wie Wollweber. Unter seiner Ägide fanden die meisten Entführungen statt – wenn auch unter Mielkes verantwortlicher Mitwirkung.
Die Zuständigkeit für Entführungsaktionen im Apparat der Staatssicherheit ist anhand interner Direktiven, Befehle und Maßnahmenpläne genau bestimmbar. Erstens waren sie stets Chefsache. Der Minister war jeweils in die Pläne zur Vorbereitung und Durchführung einer Verschleppung eingebunden. Die letzte Entscheidung lag bei ihm. Unmittelbar mit Entführungen befasst waren im MfS zweitens die Leiter verschiedener Hauptabteilungen, in deren Diensteinheiten operative Vorgänge zu entsprechenden Zielpersonen bearbeitet wurden. Das konnte die für Spionageabwehr zuständige Hauptabteilung II sein oder die seinerzeitige Hauptabteilung V (seit 1964 Hauptabteilung XX), der u. a. die Bekämpfung "politischer Untergrundarbeit" zugewiesen war. Überläufer aus den bewaffneten Organen wurden von Diensteinheiten der Hauptabteilung I – der sog. Militärabwehr – operativ bearbeitet. Sie alle verfügten zum Zweck grenzüberschreitender Aktionen über geeignete IM und spezielle Einsatzgruppen. Flankierende Hilfsdienste hatten die Hauptabteilung VIII zu leisten, die für Operative Ermittlungen und Festnahmen zuständig war, sowie die für Spionage und aktive Maßnahmen zuständige Hauptverwaltung A.
Die Gesamtzahl der vom MfS versuchten und vollendeten Entführungen ist nach empirischen Untersuchungen, die für die Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages "Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozess der deutschen Einheit" durchgeführt wurden, auf maximal 700 zu veranschlagen. Die Historikerin Susanne Muhle beziffert sie für die Zeit zwischen 1950 und Mitte der 60er Jahre auf 400 bis 500. Exakte Angaben sind infolge der streng konspirativ abgeschirmten Vorgehensweise des MfS bei Entführungsaktionen nicht möglich. Sie sind im Grunde genommen auch irrelevant. Entscheidend ist, dass Entführungen im Apparat des MfS institutionell verankert waren.
Ganz im Sinne der MfS-spezifischen Definition sind generell drei taktische, manchmal kombinierte Entführungsvarianten zu unterscheiden: Verschleppungen unter Anwendung physischer Gewalt; Verschleppungen unter Anwendung von Betäubungsmitteln sowie Entführungen vermittelst arglistiger Täuschung.
Die Zielgruppen MfS-getätigter Entführungen lassen sich wie folgt umreißen: hauptamtliche oder inoffizielle Mitarbeiter des MfS, die zu "Verrätern" geworden und "zum Klassenfeind übergelaufen" waren; Mitarbeiter westlicher Nachrichtendienste; Mitarbeiter der Ostbüros von SPD, CDU, LDP und DGB sowie der KgU und des UFJ in Westberlin; Überläufer aus der Volkspolizei und der Nationalen Volksarmee; abtrünnige Genossen aus den Reihen der SED; regimekritische Journalisten und westliche Fluchthelfer speziell nach dem 13. August 1961.
Während MfS-extern Entführungen strengster Geheimhaltung unterlagen, wurden sie in den 50er Jahren MfS-intern in Befehlen bekannt gegeben, soweit es sich um "zurückgeholte" Überläufer gehandelt hatte. Potenzielle Nachahmer sollten abgeschreckt werden. Zum Beispiel hieß es in dem Stasi-Befehl 134/55 vom 7. Mai 1955, mit dem intern die Hinrichtung zweier "Verräter" zur Kenntnis gebracht wurde:"Wer aus unseren Reihen Verrat an der Partei, an der Arbeiterklasse und an der Sache des Sozialismus übt, hat die strengste Strafe verdient. Die Macht der Arbeiterklasse ist so groß und reicht so weit, dass jeder Verräter zurückgeholt wird oder ihn in seinem vermeintlich sicheren Versteck die gerechte Strafe ereilt." "Strengste Strafe" hieß unter Umständen Todesstrafe. In mindestens 20 Fällen ist sie gegen Entführungsopfer verhängt und vollstreckt worden. Zumeist wurden langjährige Freiheitsstrafen ausgesprochen. Nicht wenige Entführungsopfer sind in der Haft verstorben – in Einzelfällen durch Suizid.
Befristete Ausreisesperre für Bürger der DDR in das kapitalistische Ausland einschließlich Westdeutschlands und des besonderen Territoriums Westberlin (20.10.1967) Dokument, 4 Seiten
Schreiben der Abteilung VII der BV Magdeburg vom 1. März 1967 zum „KZ ‚Dora‘ in Nordhausen“ Dokument, 1 Seite
Interne Fernschreiben des MfS mit der Aufforderung, Hinweise auf Zeugen zum KZ Mittelbau-Dora zu übersenden Dokument, 3 Seiten
Aktion „Konzentration“ – Schreiben Erich Mielkes vom 02. März 1965 Dokument, 1 Seite