Signatur: BStU, MfS, HA IX, Nr. 19132, Bl. 58-60
Um ihre Ausreise aus der DDR zu erzwingen, demonstrierten einige Bürger, wandten sich an westliche Medien oder begingen "Republikflucht". Eine Übersicht fasst zusammen, wie diese "Straftatbestände" rechtlich zu werten seien.
Die DDR-Staatssicherheit war an der innerdeutschen Grenze stets präsent: Sie hatte den Ausbau der innerdeutschen Grenze und den Mauerbau mit abgesichert und wirkte an der Kontrolle des Grenzgebiets mit. Sie verfügte auch über das letzte Wort, ob jemand als zuverlässig galt, überhaupt ins Ausland reisen zu dürfen. Um darüber Einschätzungen anzufertigen, wurden Menschen ausgespitzelt, Vorgesetzte, Kollegen, Verwandte und Nachbarn befragt.
Reisen konnten zwar, so sah es die im DDR-Gesetzblatt veröffentlichte Reiseverordnung vor, von jedermann bei den "zuständigen Dienststellen der Deutschen Volkspolizei - Paß- und Meldewesen" beantragt werden. Voraussetzung war ein genehmigter Reisepass. Die zuständigen Abteilungen waren jedoch, ohne dass ein Bürger davon wusste, eng mit der Stasi verzahnt. Das MfS behielt sich die "operative Prüfung" und ein Einspruchsrecht vor.
Reisesperren wurden beispielsweise für Personen verhängt, "über die Tatsachen bekannt sind, die darauf schließen lassen, dass sie die DDR in anderen Staaten nicht würdig vertreten oder der Verdacht besteht, dass die Reise zum ungesetzlichen Verlassen der DDR ausgenutzt werden soll". In der Reiseverordnung (mit Stand vom 13. Dezember 1988) gab es eine ganze Reihe offiziell genannter Versagungsgründe. Dazu gehörte weit auslegbar "der Schutz der öffentlichen Ordnung oder anderer staatlicher Interessen der Deutschen Demokratischen Republik" sowie "der Schutz der Prinzipien der sozialistischen Moral und sozialer Erfordernisse". Dies waren jedoch willkürliche Entscheidungen, für die es keine für die Betroffenen nachprüfbaren Kriterien gab.
Einige Bürger, deren Ausreiseantrag abgelehnt wurde, demonstrierten für ihr Recht auf Reisefreiheit, wandten sich an Medien oder begingen "Republikflucht". All dies verfolgte die Stasi als Straftatbestände. Das vorliegende Dokument entstand als "Entscheidungshilfe" für das Ermittlungsorgan der Staatssicherheit, die Hauptabteilung IX, sowie den Generalstaatsanwalt und das Oberste Gericht der DDR.
Darin sind die zu einer Verurteilung infrage kommenden Vergehen aufgelistet: § 214 (1) Beeinträchtigung staatlicher und gesellschaftlicher Tätigkeit (bis zu 2 Jahre Haft), § 219 (2) ungesetzliche Verbindungsaufnahme (bis zu drei Jahre Haft).
6. Täter begibt sich auf den Weg, ausländischen Korrespondenten in der DDR oder der Ständigen Vertretung der BRD Nachrichten zu übergeben; § 214 (1) (5) StGB versuchte Aufforderung zur Mißachtung der Gesetze
7. Täter begibt sich auf den Weg, Ständige Vertretung der BRD, ausländische Botschaften in der DDR oder im Ausland zu besetzen; § 214 (9 (5) StGB versuchte Aufforderung zur Mißachtung der Gesetze
8. Täter besetzt Ständige Vertretung der BRD, ausländische Botschaften in der DDR oder im Ausland, ohne Nachrichten zu übermitteln; § 214 (1) StGB vollende Aufforderung zur Mißachtung der Gesetze
9. Täter übermittelt mündlich Privatpersonen in der DDR, der Ständigen Vertretung der BRD, ausländischen Korrespondenten oder anderen ausländischen Missionen in der DDR Nachrichten zwecks Verbreitung im Ausland
- verweigern sie die Nachrichtenübermittlung ins Ausland; § 214 (1) StGB vollendeteAufforderung zur Mißachtung der Gesetze
- sind sie zur Nachrichtenübermittlung ins Ausland bereit; § 219 (2) 1 StGB vollendetes Verbreitenlassen im Ausland
10. Täter übergibt bei ihrer Herstellung nicht zur Verbreitung im Ausland bestimmte schriftliche Nachrichten (Durchschläge, Abschriften von Schreiben an Staatsorgane, Antworten der Staatsorgane) zwecks Verbreitung im Ausland (vorausgesetzt, die Entgegennahme wird nicht verweigert) an ausländische Organisationen, Einrichtungen in der DDR; § 219 (2) 1 StGB vollendetes Verbreitenlassen im Ausland
Sofern solche Nachrichten an Privatpersonen in der DDR übergeben werden, ist Strafbarkeitsvoraussetzung, daß der Betreffende die Verbreitung zusichert.
Hauptabteilung IX (Untersuchungsorgan)
Die Hauptabteilung IX war die für strafrechtliche Ermittlungen und Strafverfolgung zuständige Diensteinheit. Sie hatte wie die nachgeordneten Abteilung IX in den Bezirksverwaltung (BV) (Linie IX) die Befugnisse eines Untersuchungsorgans, d. h. einer kriminalpolizeilichen Ermittlungsbehörde. Ursprünglich vor allem für die sog. Staatsverbrechen zuständig, befasste sie sich in der Honecker-Ära überwiegend mit Straftaten gegen die staatliche Ordnung, vor allem mit Fällen "ungesetzlichen Grenzübertritts" und Delikten, die mit Ausreisebegehren zu tun hatten. Nach StPO der DDR standen auch die Ermittlungsverfahren der Linie IX unter Aufsicht der Staatsanwaltschaft, in der Praxis arbeitete das MfS hier jedoch weitgehend eigenständig.
Die Hauptabteilung IX und die Abteilungen IX der BV waren berechtigt, Ermittlungsverfahren einzuleiten sowie Festnahmen, Vernehmungen, Durchsuchungen, Beschlagnahmen und andere strafprozessuale Handlungen vorzunehmen sowie verpflichtet, diese Verfahren nach einer bestimmten Frist - meist durch die Übergabe an die Staatsanwaltschaft zur Anklageerhebung - zum Abschluss zu bringen (Untersuchungsvorgang). Daneben führte sie Vorermittlungen zur Feststellung von Ursachen und Verantwortlichen bei Großhavarien (industriellen Störfällen), Flugblättern widerständigen Inhalts, öffentlichen Protesten u. ä. (Vorkommnisuntersuchung, Sachverhaltsprüfung).
Die Hauptabteilung IX gehörte zeit ihres Bestehens zum Anleitungsbereich Mielkes, in den ersten Jahren in seiner Funktion als Staatssekretär und 1. stellv. Minister, ab 1957 als Minister. Ihre Leiter waren Alfred Karl Scholz (1950-1956), Kurt Richter (1956-1964), Walter Heinitz (1964-1973) und Rolf Fister (1973-1989).
1953 bestand die Hauptabteilung IX aus drei Abteilungen, die für Spionagefälle, Fälle politischer "Untergrundtätigkeit" und die Anleitung der Abt. IX der BV zuständig waren. Durch Ausgliederungen entstanden weitere Abteilungen, so u. a. für Wirtschaftsdelikte, Militärstraftaten, Delikte von MfS-Angehörigen und Fluchtfälle. Ende 1988 bestand die Hauptabteilung IX aus zehn Untersuchungsabteilungen sowie der Auswertungs- und Kontrollgruppe (AKG) und der AGL (Arbeitsgruppe des Ministers (AGM)) mit insgesamt 489 Mitarbeitern. Auf der Linie IX arbeiteten 1.225 hauptamtliche Mitarbeiter.
Die Linie IX wirkte eng mit den Abteilung XIV (Haft) und der Linie VIII (Beobachtung, Ermittlung), die für die Durchführung der Festnahmen zuständig waren, zusammen. Bei der juristischen Beurteilung von Operativen Vorgängen (OV) wurde die Hauptabteilung IX von den geheimdienstlich arbeitenden Diensteinheiten häufig einbezogen.
Straftaten gegen die staatliche Ordnung
Straftaten gegen die staatliche Ordnung waren Straftatbestände des 8. Kapitels des StGB/1968. Insbesondere der 2. Abschnitt ("Straftaten gegen die staatliche und öffentliche Ordnung") enthält politische Strafnormen, die für die strafrechtliche Untersuchungstätigkeit der Staatssicherheit (Untersuchungsorgan) von großer Bedeutung waren.
Das gilt vor allem für § 213 ("Ungesetzlicher Grenzübertritt"), der in der Honecker-Ära Grundlage von rund der Hälfte aller MfS-Ermittlungsverfahren war. Auch § 214 ("Beeinträchtigung staatlicher und gesellschaftlicher Tätigkeit") spielte, vor allem im Zusammenhang mit der Bekämpfung von Ausreiseantragstellern, in den 80er Jahren eine immer wichtigere Rolle.
Ähnliches gilt für § 219 ("Ungesetzliche Verbindungsaufnahme") und § 220 ("Öffentliche Herabwürdigung der staatlichen Ordnung"), die die ähnlichen, aber schwerer wiegenden Strafnormen aus dem 2. Kapitel des StGB/1968 § 100 ("Staatsfeindliche Verbindungen", ab 1979 "Landesverräterische Agententätigkeit") und § 106 ("Staatsfeindliche Hetze") weitgehend verdrängten (Staatsverbrechen).
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Signatur: BStU, MfS, HA IX, Nr. 19132, Bl. 58-60
Um ihre Ausreise aus der DDR zu erzwingen, demonstrierten einige Bürger, wandten sich an westliche Medien oder begingen "Republikflucht". Eine Übersicht fasst zusammen, wie diese "Straftatbestände" rechtlich zu werten seien.
Die DDR-Staatssicherheit war an der innerdeutschen Grenze stets präsent: Sie hatte den Ausbau der innerdeutschen Grenze und den Mauerbau mit abgesichert und wirkte an der Kontrolle des Grenzgebiets mit. Sie verfügte auch über das letzte Wort, ob jemand als zuverlässig galt, überhaupt ins Ausland reisen zu dürfen. Um darüber Einschätzungen anzufertigen, wurden Menschen ausgespitzelt, Vorgesetzte, Kollegen, Verwandte und Nachbarn befragt.
Reisen konnten zwar, so sah es die im DDR-Gesetzblatt veröffentlichte Reiseverordnung vor, von jedermann bei den "zuständigen Dienststellen der Deutschen Volkspolizei - Paß- und Meldewesen" beantragt werden. Voraussetzung war ein genehmigter Reisepass. Die zuständigen Abteilungen waren jedoch, ohne dass ein Bürger davon wusste, eng mit der Stasi verzahnt. Das MfS behielt sich die "operative Prüfung" und ein Einspruchsrecht vor.
Reisesperren wurden beispielsweise für Personen verhängt, "über die Tatsachen bekannt sind, die darauf schließen lassen, dass sie die DDR in anderen Staaten nicht würdig vertreten oder der Verdacht besteht, dass die Reise zum ungesetzlichen Verlassen der DDR ausgenutzt werden soll". In der Reiseverordnung (mit Stand vom 13. Dezember 1988) gab es eine ganze Reihe offiziell genannter Versagungsgründe. Dazu gehörte weit auslegbar "der Schutz der öffentlichen Ordnung oder anderer staatlicher Interessen der Deutschen Demokratischen Republik" sowie "der Schutz der Prinzipien der sozialistischen Moral und sozialer Erfordernisse". Dies waren jedoch willkürliche Entscheidungen, für die es keine für die Betroffenen nachprüfbaren Kriterien gab.
Einige Bürger, deren Ausreiseantrag abgelehnt wurde, demonstrierten für ihr Recht auf Reisefreiheit, wandten sich an Medien oder begingen "Republikflucht". All dies verfolgte die Stasi als Straftatbestände. Das vorliegende Dokument entstand als "Entscheidungshilfe" für das Ermittlungsorgan der Staatssicherheit, die Hauptabteilung IX, sowie den Generalstaatsanwalt und das Oberste Gericht der DDR.
Darin sind die zu einer Verurteilung infrage kommenden Vergehen aufgelistet: § 214 (1) Beeinträchtigung staatlicher und gesellschaftlicher Tätigkeit (bis zu 2 Jahre Haft), § 219 (2) ungesetzliche Verbindungsaufnahme (bis zu drei Jahre Haft).
11. Täter übermittelt an BRD-Botschaft oder andere Missionen im Ausland mündliche Nachrichten(auch im Zusammenhang mit Botschaftsbesetzung); § 2019 (2) 1 StGB vollendetes Verbreiten im Ausland
12. Täter wendet sich mit schriftlichen Nachrichten an das Ausland
- Nachrichten erreichen Empfänger nicht; § 2019 (2) 1 StGB vollendetes Herstellen von Aufzeichnungen
- Nachrichten erreichen den Empfänger oder gelten als zugestellt; § 219 (2) 1 StGB vollendetes Herstellen von Aufzeichnungen und Nachrichten im Ausland verbreitet+
Hauptabteilung IX (Untersuchungsorgan)
Die Hauptabteilung IX war die für strafrechtliche Ermittlungen und Strafverfolgung zuständige Diensteinheit. Sie hatte wie die nachgeordneten Abteilung IX in den Bezirksverwaltung (BV) (Linie IX) die Befugnisse eines Untersuchungsorgans, d. h. einer kriminalpolizeilichen Ermittlungsbehörde. Ursprünglich vor allem für die sog. Staatsverbrechen zuständig, befasste sie sich in der Honecker-Ära überwiegend mit Straftaten gegen die staatliche Ordnung, vor allem mit Fällen "ungesetzlichen Grenzübertritts" und Delikten, die mit Ausreisebegehren zu tun hatten. Nach StPO der DDR standen auch die Ermittlungsverfahren der Linie IX unter Aufsicht der Staatsanwaltschaft, in der Praxis arbeitete das MfS hier jedoch weitgehend eigenständig.
Die Hauptabteilung IX und die Abteilungen IX der BV waren berechtigt, Ermittlungsverfahren einzuleiten sowie Festnahmen, Vernehmungen, Durchsuchungen, Beschlagnahmen und andere strafprozessuale Handlungen vorzunehmen sowie verpflichtet, diese Verfahren nach einer bestimmten Frist - meist durch die Übergabe an die Staatsanwaltschaft zur Anklageerhebung - zum Abschluss zu bringen (Untersuchungsvorgang). Daneben führte sie Vorermittlungen zur Feststellung von Ursachen und Verantwortlichen bei Großhavarien (industriellen Störfällen), Flugblättern widerständigen Inhalts, öffentlichen Protesten u. ä. (Vorkommnisuntersuchung, Sachverhaltsprüfung).
Die Hauptabteilung IX gehörte zeit ihres Bestehens zum Anleitungsbereich Mielkes, in den ersten Jahren in seiner Funktion als Staatssekretär und 1. stellv. Minister, ab 1957 als Minister. Ihre Leiter waren Alfred Karl Scholz (1950-1956), Kurt Richter (1956-1964), Walter Heinitz (1964-1973) und Rolf Fister (1973-1989).
1953 bestand die Hauptabteilung IX aus drei Abteilungen, die für Spionagefälle, Fälle politischer "Untergrundtätigkeit" und die Anleitung der Abt. IX der BV zuständig waren. Durch Ausgliederungen entstanden weitere Abteilungen, so u. a. für Wirtschaftsdelikte, Militärstraftaten, Delikte von MfS-Angehörigen und Fluchtfälle. Ende 1988 bestand die Hauptabteilung IX aus zehn Untersuchungsabteilungen sowie der Auswertungs- und Kontrollgruppe (AKG) und der AGL (Arbeitsgruppe des Ministers (AGM)) mit insgesamt 489 Mitarbeitern. Auf der Linie IX arbeiteten 1.225 hauptamtliche Mitarbeiter.
Die Linie IX wirkte eng mit den Abteilung XIV (Haft) und der Linie VIII (Beobachtung, Ermittlung), die für die Durchführung der Festnahmen zuständig waren, zusammen. Bei der juristischen Beurteilung von Operativen Vorgängen (OV) wurde die Hauptabteilung IX von den geheimdienstlich arbeitenden Diensteinheiten häufig einbezogen.
Straftaten gegen die staatliche Ordnung
Straftaten gegen die staatliche Ordnung waren Straftatbestände des 8. Kapitels des StGB/1968. Insbesondere der 2. Abschnitt ("Straftaten gegen die staatliche und öffentliche Ordnung") enthält politische Strafnormen, die für die strafrechtliche Untersuchungstätigkeit der Staatssicherheit (Untersuchungsorgan) von großer Bedeutung waren.
Das gilt vor allem für § 213 ("Ungesetzlicher Grenzübertritt"), der in der Honecker-Ära Grundlage von rund der Hälfte aller MfS-Ermittlungsverfahren war. Auch § 214 ("Beeinträchtigung staatlicher und gesellschaftlicher Tätigkeit") spielte, vor allem im Zusammenhang mit der Bekämpfung von Ausreiseantragstellern, in den 80er Jahren eine immer wichtigere Rolle.
Ähnliches gilt für § 219 ("Ungesetzliche Verbindungsaufnahme") und § 220 ("Öffentliche Herabwürdigung der staatlichen Ordnung"), die die ähnlichen, aber schwerer wiegenden Strafnormen aus dem 2. Kapitel des StGB/1968 § 100 ("Staatsfeindliche Verbindungen", ab 1979 "Landesverräterische Agententätigkeit") und § 106 ("Staatsfeindliche Hetze") weitgehend verdrängten (Staatsverbrechen).
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Übersicht zur Entwicklung der Bereiche Reiseverkehr, ständige Ausreise und Republikflucht Dokument, 4 Seiten
Auflistung schriftlicher Proteste im Januar 1989 Dokument, 11 Seiten
Plädoyer von Gregor Gysi im Prozess gegen Rudolf Bahro Dokument, 14 Seiten
Wochenübersicht Nr. 42/89 vom 16. Oktober 1989 Dokument, 32 Seiten