Signatur: BStU, MfS, BV Rostock, AU, Nr. 1646/88, Bd. 3, Bl. 9
Die Rostockerin Sylke Glaser wollte ihre kritische Meinung zu den politischen Verhältnissen in der DDR äußern. Sie fertigte und verteilte daher Flugblätter und schrieb Briefe an verschiedene Partei- und Staatsfunktionäre. Wegen "öffentlicher Herabwürdigung" wurde sie schließlich verhaftet.
Die Rostockerin Sylke Glaser wollte ihre kritische Meinung zu den politischen Verhältnissen in der DDR äußern. Eine freie Presse oder regierungsunabhängige Medien gab es in der DDR aber nicht. Deshalb nahm sie die Sache in die eigenen Hände, fertigte und verteilte Flugblätter und schrieb Briefe an verschiedene Partei- und Staatsfunktionäre.
Die Stasi ermittelte Glaser als Urheberin der Flugblätter und Briefe. Mit dem vorliegenden Haftbefehl wurde sie festgenommen und in die Stasi-Untersuchungshaft in Rostock gebracht. Nach zwei Monaten wurde sie wegen "mehrfacher öffentlicher Herabwürdigung" nach Paragraph 220 Strafgesetzbuch der DDR zu einem Jahr und drei Monaten Freiheitsentzug verurteilt. Das Urteil unterstellte der jungen Frau, dass sie sich bloß verurteilen lassen wollte und darauf spekulierte, dann von der BRD als politischer Häftling freigekauft zu werden. Tatsächlich erfuhr Glaser von dieser Möglichkeit erst in der Haft. Ende Oktober 1988 gelangte sie dennoch genau auf diesem Weg in den Westen. Im November 1991 hob ein Gericht des wiedervereinigten Deutschlands ihr Urteil auf und rehabilitierte sie.
Das Kreisgericht Rostock-Stadt
Rostock den 30.4.1988
Haftbefehl
Die Bürgerin Glaser, Sylke, geb. am 6.11.1968 in Rostock, wh.: 2500 Rostock, K.-Marx-Straße 28 ist in Untersuchungshaft zu nehmen.
Sie wird beschuldigt, die staatliche und öffentliche Ordnung durch Herabwürdigung angegriffen zu haben, indem sie im April 1988 6 anonyme Briefe, in denen sie die gesellschaftlichen Verhältnisse herabwürdigte, gefertigt und zum Versand gebracht zu haben.
Dise Briefe richtete sie an den Oberbürgermeister von Rostock; die Bezirksbehörde des MfS Rostock; das VPKA, Abt. K, Rostock; den Chefredakteur und Verlagsdirektor der Zeitung "NNN" und den Chefredakteur der "Ostsee-Zeitung".
In diesen Briefen brachte sie u.a. zum Ausdruck, daß nicht die Möglichkeit besteht, die Meinung frei zu äußern, daß durch die Sicherheitsorgane den Bürgern etwas "angehängt" wird, daß die Bürger unbegründet festgenommen werden und daß die Regierung der DDR mit den Menschen "spielen".
Bereits zuvor wurde sie am 12.4.1988 wegen einschlägiger Ordnungswidrigkeiten und Verteilung von Flugblättern durch die DVP mit einer Ordnungsstrafe in Höhe von 500,-- Mark zur Verantwortung gezogen. Trotz entsprechender Belehrungen und der vorgenannten Maßnahme fertigte die Beschuldigte in der Nacht vom 29. zum 30.4.1988 handschriftlich 20 Flugblätter mit der Aufschrift:" Achtung! Bitte verwenden Sie eigene Losungen zum 1. Mai". Diese Flugblätter verstreute sie in der Waldemarstraße und im Barnstorfer Weg.
Vergehen gem. § 220 Abs. 2 StGB
Sie ist dieser Straftat dringend verdächtig.
Die Anordnung der Untersuchungshaft ist gemäß § 122 Abs. 1 Ziff. 3 u. 4 StPO gesetzlich begründet, weil Wiederholunggefahr besteht und der verletzte Straftatbestand Haftstrafe androht.
Die Inhaftnahme ist im Interesse des Schutzes der staatlichen Ordnung der DDR notwendig und zur unverzüglichen Disziplinierung der Beschuldigten unumgänglich.
Trapp
stellv. Direktor am KG
Gegen diesen Haftbefehl ist das Rechtsmittel der Beschwerde zulässig (§ 127 StPO).
Sie ist binnen einer Woche nach Verkündung des Haftbefehls bei dem unterzeichneten Gericht zu Protokoll der Rechtsantragstelle oder schriftlich durch den Betroffenen oder einen in der DDR zugelassenen Rechtsanwalt einzulegen (§§ 305, 306 StPO).
Best.-Nr. 220 16 Haftbefehl – §§ 124, 127 StPO
Vordruckbetrieb Demos Osterwieck
Ag 305-83-DDR-170-1182 IV-27-13 3913
Eine selbständige Abteilung ist eine Organisationsstruktur in der MfS-Zentrale, die durch den Minister oder einen seiner Stellvertreter direkt angeleitet und durch militärische Einzelleiter geführt wurde. Die weiter untergliederten Abteilungen prägten Linien aus (z. B. Abt. XIV; Linienprinzip) oder blieben auf die Zentrale beschränkt (z. B. Abt. X). Die eng umrissenen Zuständigkeiten mit operativer Verantwortung und Federführung orientierten sich an geheimdienstlichen Praktiken (Telefonüberwachung) oder Arbeitsfeldern (Bewaffnung, chemischer Dienst).
Vorgangsart von 1953 bis 1960. In Beobachtungsvorgängen wurden Personen erfasst, die als potenziell oder tatsächlich politisch unzuverlässig oder feindlich eingestellt galten und daher vorbeugend beobachtet wurden. Dazu gehörten etwa ehemalige NS-Funktionsträger, ehemalige Sozialdemokraten, Teilnehmer an den Aktionen des 17. Juni 1953 sowie Personen, die aus dem Westen zugezogen waren. Die Vorgangsart verlor nach und nach an Bedeutung. 1960 gingen noch bestehende Beobachtungsvorgänge in den zugehörigen Objektvorgängen auf. Der Beobachtungsvorgang war zentral in der Abteilung XII zu registrieren, die betroffenen Personen in der zentralen Personenkartei F 16 zu erfassen.
Im Zusammenhang mit der Verwaltungsreform der DDR vom Sommer 1952 wurden die fünf Länderverwaltungen für Staatssicherheit (LVfS) in 14 Bezirksverwaltungen umgebildet. Daneben bestanden die Verwaltung für Staatssicherheit Groß-Berlin und die Objektverwaltung "W" (Wismut) mit den Befugnissen einer BV. Letztere wurde 1982 als zusätzlicher Stellvertreterbereich "W" in die Struktur der BV Karl-Marx-Stadt eingegliedert.
Der Apparat der Zentrale des MfS Berlin und der der BV waren analog strukturiert und nach dem Linienprinzip organisiert. So waren die Hauptabteilung II in der Zentrale bzw. die Abteilungen II der BV für die Schwerpunkte der Spionageabwehr zuständig usw. Auf der Linie der Hauptverwaltung A waren die Abteilung XV der BV aktiv. Einige Zuständigkeiten behielt sich die Zentrale vor: so die Militärabwehr (Hauptabteilung I) und die internationalen Verbindungen (Abteilung X) oder die Arbeit des Büros für Besuchs- und Reiseangelegenheiten in Westberlin (Abteilung XVII). Für einige Aufgabenstellungen wurde die Bildung bezirklicher Struktureinheiten für unnötig erachtet. So gab es in den 60er und 70er Jahren für die Abteilung XXI und das Büro der Leitung II Referenten für Koordinierung (RfK) bzw. Offiziere BdL II. Für spezifische Aufgaben gab es territorial bedingte Diensteinheiten bei einigen BV, z. B. in Leipzig ein selbständiges Referat (sR) Messe, in Rostock die Abt. Hafen.
An der Spitze der BV standen der Leiter (Chef) und zwei Stellv. Operativ. Der Stellv. für Aufklärung fungierte zugleich als Leiter der Abt. XV. Die Schaffung des Stellvertreterbereichs Operative Technik im MfS Berlin im Jahre 1986 führte in den BV zur Bildung von Stellv. für Operative Technik/Sicherstellung.
Der schriftliche richterliche Haftbefehl bildete die Grundlage für eine reguläre Verhaftung (§ 114 StPO/1949; § 142 StPO/1952; § 124 StPO/1968). Beschuldigte oder Angeklagte mussten unverzüglich, spätestens am Tage nach ihrer Ergreifung dem zuständigen Gericht vorgeführt werden (§§ 114 b, 128 StPO/1949; §§ 144, 153 StPO/1952; § 126 StPO/1968) – vor allem in den frühen 50er Jahren wurde diese Frist vom MfS teilweise überschritten und der Zeitpunkt der Festnahme entsprechend geändert. Auch wurden die Festgenommenen nicht bei Gericht vorgeführt, die vom MfS ausgewählten Haftrichter kamen zur Ausstellung des Haftbefehls in die Untersuchungshaftanstalten.
Rechtliche Voraussetzungen für den Erlass eines Haftbefehls waren ein dringender Tatverdacht und ein gesetzlich definierter Haftgrund, z. B. Fluchtverdacht oder Verdunklungsgefahr (§ 112 StPO/1949; § 141 StPO/1952; § 122 StPO/1968) sowie während des Ermittlungsverfahrens ein Antrag des Staatsanwaltes; im Hauptverfahren konnte das Gericht auch ohne Antrag einen Haftbefehl erlassen. Laut einer Richtlinie des Obersten Gerichts der DDR vom 17.10.1962 lag ein Haftgrund auch vor bei "Verbrechen im Auftrag feindlicher Agenturen, bei konterrevolutionären Verbrechen" und "bei anderen schweren Verbrechen".
Als Ordnungswidrigkeiten galten nach DDR-Recht schuldhafte Verhaltensweisen, "die die staatliche Leitungstätigkeit erschweren oder die Entwicklung des sozialistischen Gemeinschaftslebens stören" (Gesetz zur Bekämpfung von Ordnungswidrigkeiten vom 12.1.1968). Durch Ordnungsstrafen sollte der Rechtsverletzer diszipliniert werden und anderen damit als erzieherisches Beispiel dienen. Die Strafandrohung war mit maximal 500 Mark, in Ausnahmefällen 1.000 Mark, im Vergleich zum Strafgesetzbuch relativ begrenzt.
Die Staatssicherheit bediente sich dieses Repressionsinstruments in Zusammenarbeit mit der Volkspolizei vor allem seit Mitte der 80er Jahre, als auf spektakuläre Strafprozesse gegen Oppositionelle verzichtet werden sollte, um das internationale Ansehen der DDR nicht zu gefährden. Erich Mielke erklärte 1984, die neu erlassene Verordnung zur Bekämpfung von Ordnungswidrigkeiten ermögliche, "gegen Personen vorzugehen, die aus anderen rechtspolitischen Gründen strafrechtlich nicht zur Verantwortung gezogen werden sollen".
Untersuchungshaft ist eine freiheitsentziehende Zwangsmaßnahme zur Sicherung des Strafverfahrens. Die Untersuchungshaft begann nach der Verkündung des Haftbefehls durch einen Richter und endete mit der Überstellung in den Strafvollzug nach Erlangung der Rechtskraft einer Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe, selten auch mit der Freilassung.
Voraussetzungen für die Anordnung der Untersuchungshaft waren ein dringender Tatverdacht sowie entweder Fluchtverdacht oder Verdunklungsgefahr (§ 112 StPO/1949, § 141 StPO/1952, § 122 StPO/1968). Der Vollzug der Untersuchungshaft war gesetzlich mit nur einem StPO-Paragraphen geregelt (§ 116 StPO/1949, § 147 StPO/1952, § 130 StPO/1968), alles Weitere in internen Ordnungen. Er erfolgte für Beschuldigte, deren Ermittlungsverfahren von der Staatssicherheit geführt wurden, in MfS-Untersuchungshaftanstalten in Berlin bzw. den Bezirksstädten der DDR.
Die Haftbedingungen waren dort von Willkür, völliger Isolation und daraus resultierender Desorientierung der Häftlinge gekennzeichnet. Für den Vollzug der Untersuchungshaft war im MfS die Linie XIV (Abt. XIV) zuständig; die Vernehmungen oblagen den Untersuchungsführern der Linie IX (HA IX).
Ein Untersuchungsvorgang war eine bei einem strafrechtlichen Ermittlungsverfahren des MfS und ggf. dem späteren Gerichtsverfahren entstandene Akte, die den Hergang des Strafverfahrens widerspiegelt und auch häufig Informationen zur Strafvollstreckung enthält.
Untersuchungsvorgänge zeigen die offizielle wie auch die inoffizielle Ebene des Verfahrens. Sie enthalten sowohl das strafprozessual legale Material (Haftbefehl, Vernehmungsprotokolle, Anklageschrift, Verhandlungsprotokoll, Urteil u. a.) als auch Dokumente geheimpolizeilichen Charakters, etwa zu konspirativen Ermittlungsmaßnahmen operativer Abteilungen oder Berichte von Zelleninformatoren.
Ein archivierter Untersuchungsvorgang kann bis zu sieben Bestandteile umfassen: Gerichtsakte, Beiakte zur Gerichtsakte, Handakte zur Gerichtsakte, Handakte zum Ermittlungsverfahren, Beiakte zur Handakte des Ermittlungsverfahrens, manchmal auch Vollstreckungsakten und ggf. die Akte des Revisions- oder Kassationsverfahrens.
Sichergestelltes Flugblatt "Wo bleibt bei uns die Meinungsfreiheit?" Dokument, 1 Seite
Sichergestelltes Flugblatt "Freiheit der Andersdenkenden" Dokument, 1 Seite
Konfiszierte Aufzeichnungen einer Gefangenen in Stasi-Untersuchungshaft Dokument, 1 Seite
Fotografie eines Liedtexts und eines Flugblatts für einen Handschriftenvergleich 1 Fotografie