Signatur: BStU, MfS, AU, Nr. 487/53, Bd. 16, Bl. 12-32
Oberstleutnant Rudolf Gutsche, damals Leiter der für Beobachtung und Ermittlungen zuständigen MfS-Abteilung VIII, wurde bei Demonstrationen am 17. Juni angegriffen. An dem Angriff waren zwei junge Ost-Berliner Hilfsarbeiter maßgeblich beteiligt. Später gelang es der Stasi, sie zu identifizieren und zu verhaften. Im Prozess wurden sie zu langen Haftstrafen verurteilt.
Oberstleutnant Rudolf Gutsche, damals Leiter der für Beobachtung und Ermittlungen zuständigen MfS-Abteilung VIII, wurde bei Demonstrationen am 17. Juni angegriffen. Am späten Vormittag des 17. Juni war Gutsche mit einem anderen MfS-Offizier in seinem weinroten BMW am Alexanderplatz unterwegs, einem der Zentren des Aufstandes. Dort gab es zu diesem Zeitpunkt große Ansammlungen aufgebrachter Demonstranten. Unmittelbar nach der Einmündung zur Rathausstraße rammte ein LKW den MfS-Dienstwagen und brachte ihn so zum Stehen. Der Fahrer des LKW hatte den BMW am Nummernschild als Regierungsfahrzeug erkannt und absichtlich aufs Korn genommen.
Herbeigeeilte Demonstranten schlugen die Scheiben des Wagens ein, zerrten den Fahrer heraus und verprügelten ihn. Auch der im Wagen verbliebene Beifahrer, wahrscheinlich Gutsche, wurde geschlagen. Die beiden Stasi-Offiziere versuchten, sich mit ihren Dienstwaffen zu verteidigen, einer der beiden gab einen Schuss ab. Das versetzte die Aufständischen erst recht in Wut. Sie überwältigten Gutsche und seinen Begleiter, nahmen ihnen die Waffen ab und prügelten nun noch stärker auf sie ein. Am Ende stürzten einige Demonstranten das Auto um und zündeten es an.
An dem Angriff waren zwei junge Ost-Berliner Hilfsarbeiter maßgeblich beteiligt. Später gelang es der Stasi, sie zu identifizieren und zu verhaften. Nach Erkenntnissen der Geheimpolizei suchten sie regelmäßig ein West-Berliner Vereinslokal des westdeutschen Bundes Deutscher Jugend (BDJ) auf, in dem sie auch Mitglied gewesen sein sollen. In der Vernehmung durch die Stasi gab später einer der beiden Hilfsarbeiter zu Protokoll, von der Organisation zu seinen Taten angestiftet worden zu sein.
In dem vorliegenden Prozessbericht betonte auch der Staatsanwalt zwar später in seinem Prozessbericht, dass die beiden keine "ausgekochten und rücksichtslosen Gegner unserer Ordnung" seien. Sie seien vielmehr "haltlose und abenteuerlustige Vagabunden, die aus ihrer unfreundlichen Umgebung zu flüchten suchten und für den Gegner ein willfähriges Werkzeug wurden". Das hinderte den Ankläger jedoch nicht daran, für die Jugendlichen hohe Zuchthausstrafen zu fordern.
4. der Angeklagte [Person 4] wegen fortgesetzer friedensgefährdender faschistischer Propaganda, zum Teil in Tateinheit mit fortgesetzter Rädelsführerschaft beim Landfriedensbruch und mit besonders schwerer Nötigung zu einer Zuchthausstrafe von 10 - zehn - Jahren sowie zu den aus der Anlage ersichtlichen Sühnemassnahmen, ferner wird der LKW Bedvord 2 1/2 To [anonymisiert] eingezogen,
5. der Angeklagte [Person 5] wegen fortgesetzter friedensgefährdender faschistischer Propaganda in Tateinheit mit fortgesetzter Rädelsführerschaft beim Landfriedensbruch und mit besonders schwerer Nötigung zu einer Zuchthausstrafe von 6 - sechs - Jahren sowie zu den aus der Anlage ersichtlichen Sühnemassnahmen.
Allen Angeklagten wird die bisher erlittene Untersuchungshaft auf die erkannten Strafen angerechnet.
Die Kosten des Verfahrens tragen die Angeklagten.
Anlage zum Urteil.
1. Die Angeklagten sind dauernd unfähig, ein öffentliches Amt zu bekleiden.
2. Sie verlieren alle ihre etwaigen Rechtsansprüche auf eine aus öffentlichen Mitteln zahlbare Pension oder Zuwendung.
3. Sie verlieren das Recht zu wählen und die Fähigkeit, gewählt zu werden sowie das Recht, sich irgendwie politisch zu betätigen oder Mitglied einer politischen Partei zu sein.
4. Sie dürfen nicht Mitglied einer Gewerkschaft, noch einer wirtschaftlichen oder beruflichen Vereinigung sein.
5. Es ist ihnen auf die Dauer von fünf Jahren nach ihrer Freilassung verboten:
a) in einem freien Beruf oder selbständig in irgend einem gewerblichen Betrieb tätig zu sein, sich an einem solchen zu beteiligen oder dessen Aufsicht oder Kontrolle auszuüben,
b) in nicht selbständiger Stellung anders als in gewöhnlicher Arbeit beschäftigt zu werden,
c) als Lehrer, Prediger, Redakteur, Schriftsteller oder Rundfunk-Kommentator tätig zu sein.
6. Sie unterliegen Wohnraum- und Aufenthaltsbeschränkungen.
7. Sie verlieren alle ihnen etwa erteilten Approbationen, Konzessionen oder Sonderrechte sowie das Recht, ein Kraftfahrzeug zu halten.
Operative Beobachtung
Die Beobachtung zählte zu den konspirativen Ermittlungsmethoden, die in der Regel von operativen Diensteinheiten in Auftrag gegeben und von hauptamtlichen Mitarbeitern der Linie VIII (Hauptabteilung VIII) durchgeführt wurden. Dabei wurden sog. Zielpersonen (Beobachtungsobjekte genannt) über einen festgelegten Zeitraum beobachtet, um Hinweise über Aufenthaltsorte, Verbindungen, Arbeitsstellen, Lebensgewohnheiten und ggf. strafbare Handlungen herauszufinden. Informationen aus Beobachtungen flossen in Operative Personenkontrollen, Operative Vorgänge oder Sicherheitsüberprüfungen ein. Im westlichen Ausland wurden Beobachtungen meist von IM unter falscher Identität ausgeführt.
Eine selbständige Abteilung ist eine Organisationsstruktur in der MfS-Zentrale, die durch den Minister oder einen seiner Stellvertreter direkt angeleitet und durch militärische Einzelleiter geführt wurde. Die weiter untergliederten Abteilungen prägten Linien aus (z. B. Abt. XIV; Linienprinzip) oder blieben auf die Zentrale beschränkt (z. B. Abt. X). Die eng umrissenen Zuständigkeiten mit operativer Verantwortung und Federführung orientierten sich an geheimdienstlichen Praktiken (Telefonüberwachung) oder Arbeitsfeldern (Bewaffnung, chemischer Dienst).
1950 entstanden; 1958 Aufwertung zur HA VIII.
Untersuchungshaft ist eine freiheitsentziehende Zwangsmaßnahme zur Sicherung des Strafverfahrens. Die Untersuchungshaft begann nach der Verkündung des Haftbefehls durch einen Richter und endete mit der Überstellung in den Strafvollzug nach Erlangung der Rechtskraft einer Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe, selten auch mit der Freilassung.
Voraussetzungen für die Anordnung der Untersuchungshaft waren ein dringender Tatverdacht sowie entweder Fluchtverdacht oder Verdunklungsgefahr (§ 112 StPO/1949, § 141 StPO/1952, § 122 StPO/1968). Der Vollzug der Untersuchungshaft war gesetzlich mit nur einem StPO-Paragraphen geregelt (§ 116 StPO/1949, § 147 StPO/1952, § 130 StPO/1968), alles Weitere in internen Ordnungen. Er erfolgte für Beschuldigte, deren Ermittlungsverfahren von der Staatssicherheit geführt wurden, in MfS-Untersuchungshaftanstalten in Berlin bzw. den Bezirksstädten der DDR.
Die Haftbedingungen waren dort von Willkür, völliger Isolation und daraus resultierender Desorientierung der Häftlinge gekennzeichnet. Für den Vollzug der Untersuchungshaft war im MfS die Linie XIV (Abt. XIV) zuständig; die Vernehmungen oblagen den Untersuchungsführern der Linie IX (HA IX).
Ein Untersuchungsvorgang war eine bei einem strafrechtlichen Ermittlungsverfahren des MfS und ggf. dem späteren Gerichtsverfahren entstandene Akte, die den Hergang des Strafverfahrens widerspiegelt und auch häufig Informationen zur Strafvollstreckung enthält.
Untersuchungsvorgänge zeigen die offizielle wie auch die inoffizielle Ebene des Verfahrens. Sie enthalten sowohl das strafprozessual legale Material (Haftbefehl, Vernehmungsprotokolle, Anklageschrift, Verhandlungsprotokoll, Urteil u. a.) als auch Dokumente geheimpolizeilichen Charakters, etwa zu konspirativen Ermittlungsmaßnahmen operativer Abteilungen oder Berichte von Zelleninformatoren.
Ein archivierter Untersuchungsvorgang kann bis zu sieben Bestandteile umfassen: Gerichtsakte, Beiakte zur Gerichtsakte, Handakte zur Gerichtsakte, Handakte zum Ermittlungsverfahren, Beiakte zur Handakte des Ermittlungsverfahrens, manchmal auch Vollstreckungsakten und ggf. die Akte des Revisions- oder Kassationsverfahrens.
Signatur: BStU, MfS, AU, Nr. 487/53, Bd. 16, Bl. 12-32
Oberstleutnant Rudolf Gutsche, damals Leiter der für Beobachtung und Ermittlungen zuständigen MfS-Abteilung VIII, wurde bei Demonstrationen am 17. Juni angegriffen. An dem Angriff waren zwei junge Ost-Berliner Hilfsarbeiter maßgeblich beteiligt. Später gelang es der Stasi, sie zu identifizieren und zu verhaften. Im Prozess wurden sie zu langen Haftstrafen verurteilt.
Oberstleutnant Rudolf Gutsche, damals Leiter der für Beobachtung und Ermittlungen zuständigen MfS-Abteilung VIII, wurde bei Demonstrationen am 17. Juni angegriffen. Am späten Vormittag des 17. Juni war Gutsche mit einem anderen MfS-Offizier in seinem weinroten BMW am Alexanderplatz unterwegs, einem der Zentren des Aufstandes. Dort gab es zu diesem Zeitpunkt große Ansammlungen aufgebrachter Demonstranten. Unmittelbar nach der Einmündung zur Rathausstraße rammte ein LKW den MfS-Dienstwagen und brachte ihn so zum Stehen. Der Fahrer des LKW hatte den BMW am Nummernschild als Regierungsfahrzeug erkannt und absichtlich aufs Korn genommen.
Herbeigeeilte Demonstranten schlugen die Scheiben des Wagens ein, zerrten den Fahrer heraus und verprügelten ihn. Auch der im Wagen verbliebene Beifahrer, wahrscheinlich Gutsche, wurde geschlagen. Die beiden Stasi-Offiziere versuchten, sich mit ihren Dienstwaffen zu verteidigen, einer der beiden gab einen Schuss ab. Das versetzte die Aufständischen erst recht in Wut. Sie überwältigten Gutsche und seinen Begleiter, nahmen ihnen die Waffen ab und prügelten nun noch stärker auf sie ein. Am Ende stürzten einige Demonstranten das Auto um und zündeten es an.
An dem Angriff waren zwei junge Ost-Berliner Hilfsarbeiter maßgeblich beteiligt. Später gelang es der Stasi, sie zu identifizieren und zu verhaften. Nach Erkenntnissen der Geheimpolizei suchten sie regelmäßig ein West-Berliner Vereinslokal des westdeutschen Bundes Deutscher Jugend (BDJ) auf, in dem sie auch Mitglied gewesen sein sollen. In der Vernehmung durch die Stasi gab später einer der beiden Hilfsarbeiter zu Protokoll, von der Organisation zu seinen Taten angestiftet worden zu sein.
In dem vorliegenden Prozessbericht betonte auch der Staatsanwalt zwar später in seinem Prozessbericht, dass die beiden keine "ausgekochten und rücksichtslosen Gegner unserer Ordnung" seien. Sie seien vielmehr "haltlose und abenteuerlustige Vagabunden, die aus ihrer unfreundlichen Umgebung zu flüchten suchten und für den Gegner ein willfähriges Werkzeug wurden". Das hinderte den Ankläger jedoch nicht daran, für die Jugendlichen hohe Zuchthausstrafen zu fordern.
Gründe:
Der Angeklagte [Person 1] ist 17 Jahre alt und der Sohn eines Angestellten. Seine Eltern sind geschieden, seine häuslichen Verhältnisse sind schlecht und haben sich in gewisser Weise nachteilig auf seine Erziehung und Anleitung ausgewirkt. Schon im Jahre 1950 ist der Angeklagte wegen mehrfacher Buntmetalldiebstähle, die er gemeinsam mit dem Mitangeklagten [Person 2] ausführte, angefallen, wegen seiner Jugend sind die Verfahren jedoch eingestellt worden. Eine begonnene Maurerlehre beendete er nach einem Jahr und begann dann als Bauarbeiter in der Stalin-Allee. Hier kündigte er, weil die Arbeitsstelle nicht mehr seinen Wünschen entsprach und war ca. 4 Monate arbeitslos. Im März 1953 nahm er eine Arbeit beim Deutschen Kraftverkehr in Lichtenberg auf.
Seine Freizeit verbrachte der Angeklagte im Kreise [handschriftliche Ergänzung: von] gleichgesinnten Jugendlichen in seinem Wohnbezirk, wobei sie sich hauptsächlich mit Erzeugnissen der amerikanischen Unkultur beschäftigten. Der Angeklagte verbrachte einen grossen Teil seiner Zeit im Westsektor, u.a. im Amerikahaus, in westlichen Kinos, bei Tanzveranstaltungen und ähnlichen Darbietungen.
[handschriftliche Ergänzung: 2]
Der Angeklagte [Person 2] ist 20 Jahre alt, ebenfalls in schlechten familiären Verhältnissen aufgewachsen. Er ist unehelich geboren und die Mutter hatte es nicht verstanden, ihn zu erziehen und anzuleiten. So kam er mit seinem 13. Lebensjahr schon als Schwererziehbarer [unterstrichen: in ein Erziehungsheim.] Nach seiner Entlassung aus diesem Heim im Jahre 1947 war er 2 Jahre bei einem Landwirt tätig und kehrte dann zu seiner Mutter nach Berlin zurück. Auf Betreiben seiner Mutter begann er eine Lehre als Böttcherlehrling, die er aber kündigte, weil ihm der Lohn zu gering war. Danach wurde er [unterstrichen: wegen mehrfacher Buntmetalldiebstähle] mit dem Angeklagten [Person 1] zu einer kurzen Gefängnisstrafe verurteilt und hatte danach nur noch kurzfristige Arbeitsplätze. Meist sagte ihm die Arbeit nicht zu, oder der Mohn war ihm zu gering. Seine letzte Arbeitsstelle war vorn März 1953 bis zum Mai 1953 beim VEB Deutscher Kraftverkehr. Hier kündigte er ebenfalls und war dann arbeitslos.
[handschriftliche Ergänzung: 2]
Operative Beobachtung
Die Beobachtung zählte zu den konspirativen Ermittlungsmethoden, die in der Regel von operativen Diensteinheiten in Auftrag gegeben und von hauptamtlichen Mitarbeitern der Linie VIII (Hauptabteilung VIII) durchgeführt wurden. Dabei wurden sog. Zielpersonen (Beobachtungsobjekte genannt) über einen festgelegten Zeitraum beobachtet, um Hinweise über Aufenthaltsorte, Verbindungen, Arbeitsstellen, Lebensgewohnheiten und ggf. strafbare Handlungen herauszufinden. Informationen aus Beobachtungen flossen in Operative Personenkontrollen, Operative Vorgänge oder Sicherheitsüberprüfungen ein. Im westlichen Ausland wurden Beobachtungen meist von IM unter falscher Identität ausgeführt.
Eine selbständige Abteilung ist eine Organisationsstruktur in der MfS-Zentrale, die durch den Minister oder einen seiner Stellvertreter direkt angeleitet und durch militärische Einzelleiter geführt wurde. Die weiter untergliederten Abteilungen prägten Linien aus (z. B. Abt. XIV; Linienprinzip) oder blieben auf die Zentrale beschränkt (z. B. Abt. X). Die eng umrissenen Zuständigkeiten mit operativer Verantwortung und Federführung orientierten sich an geheimdienstlichen Praktiken (Telefonüberwachung) oder Arbeitsfeldern (Bewaffnung, chemischer Dienst).
1950 entstanden; 1958 Aufwertung zur HA VIII.
Ein Untersuchungsvorgang war eine bei einem strafrechtlichen Ermittlungsverfahren des MfS und ggf. dem späteren Gerichtsverfahren entstandene Akte, die den Hergang des Strafverfahrens widerspiegelt und auch häufig Informationen zur Strafvollstreckung enthält.
Untersuchungsvorgänge zeigen die offizielle wie auch die inoffizielle Ebene des Verfahrens. Sie enthalten sowohl das strafprozessual legale Material (Haftbefehl, Vernehmungsprotokolle, Anklageschrift, Verhandlungsprotokoll, Urteil u. a.) als auch Dokumente geheimpolizeilichen Charakters, etwa zu konspirativen Ermittlungsmaßnahmen operativer Abteilungen oder Berichte von Zelleninformatoren.
Ein archivierter Untersuchungsvorgang kann bis zu sieben Bestandteile umfassen: Gerichtsakte, Beiakte zur Gerichtsakte, Handakte zur Gerichtsakte, Handakte zum Ermittlungsverfahren, Beiakte zur Handakte des Ermittlungsverfahrens, manchmal auch Vollstreckungsakten und ggf. die Akte des Revisions- oder Kassationsverfahrens.
Signatur: BStU, MfS, AU, Nr. 487/53, Bd. 16, Bl. 12-32
Oberstleutnant Rudolf Gutsche, damals Leiter der für Beobachtung und Ermittlungen zuständigen MfS-Abteilung VIII, wurde bei Demonstrationen am 17. Juni angegriffen. An dem Angriff waren zwei junge Ost-Berliner Hilfsarbeiter maßgeblich beteiligt. Später gelang es der Stasi, sie zu identifizieren und zu verhaften. Im Prozess wurden sie zu langen Haftstrafen verurteilt.
Oberstleutnant Rudolf Gutsche, damals Leiter der für Beobachtung und Ermittlungen zuständigen MfS-Abteilung VIII, wurde bei Demonstrationen am 17. Juni angegriffen. Am späten Vormittag des 17. Juni war Gutsche mit einem anderen MfS-Offizier in seinem weinroten BMW am Alexanderplatz unterwegs, einem der Zentren des Aufstandes. Dort gab es zu diesem Zeitpunkt große Ansammlungen aufgebrachter Demonstranten. Unmittelbar nach der Einmündung zur Rathausstraße rammte ein LKW den MfS-Dienstwagen und brachte ihn so zum Stehen. Der Fahrer des LKW hatte den BMW am Nummernschild als Regierungsfahrzeug erkannt und absichtlich aufs Korn genommen.
Herbeigeeilte Demonstranten schlugen die Scheiben des Wagens ein, zerrten den Fahrer heraus und verprügelten ihn. Auch der im Wagen verbliebene Beifahrer, wahrscheinlich Gutsche, wurde geschlagen. Die beiden Stasi-Offiziere versuchten, sich mit ihren Dienstwaffen zu verteidigen, einer der beiden gab einen Schuss ab. Das versetzte die Aufständischen erst recht in Wut. Sie überwältigten Gutsche und seinen Begleiter, nahmen ihnen die Waffen ab und prügelten nun noch stärker auf sie ein. Am Ende stürzten einige Demonstranten das Auto um und zündeten es an.
An dem Angriff waren zwei junge Ost-Berliner Hilfsarbeiter maßgeblich beteiligt. Später gelang es der Stasi, sie zu identifizieren und zu verhaften. Nach Erkenntnissen der Geheimpolizei suchten sie regelmäßig ein West-Berliner Vereinslokal des westdeutschen Bundes Deutscher Jugend (BDJ) auf, in dem sie auch Mitglied gewesen sein sollen. In der Vernehmung durch die Stasi gab später einer der beiden Hilfsarbeiter zu Protokoll, von der Organisation zu seinen Taten angestiftet worden zu sein.
In dem vorliegenden Prozessbericht betonte auch der Staatsanwalt zwar später in seinem Prozessbericht, dass die beiden keine "ausgekochten und rücksichtslosen Gegner unserer Ordnung" seien. Sie seien vielmehr "haltlose und abenteuerlustige Vagabunden, die aus ihrer unfreundlichen Umgebung zu flüchten suchten und für den Gegner ein willfähriges Werkzeug wurden". Das hinderte den Ankläger jedoch nicht daran, für die Jugendlichen hohe Zuchthausstrafen zu fordern.
Wie der Angeklagte [Person 1] verbrachte er seine Freizeit ebenfalls im Kreise von gleichgesinnten Jugendlichen, die den Eingriffen westlicher Kultur unterlagen und ging ebenso wie [Person 1] Vergnügungen im Westsektor nach.
Der Einfluss der westlichen Unkultur, die bei [Person 1] und [Person 2] insbesondere die Abenteuerlust anregte, wird am besten dadurch charakterisiert, dass sich beide zur Auswanderung nach Kanada beworben hatten, weil sie dort glaubten, ein leichteres und bequemeres Leben führen zu können, obwohl z.B. [Person 1] zugeben muss, dass er nicht einmal weiss, wo Kanada liegt.
Der Angeklagte [Person 3] ist 27 Jahre alt und der Sohn eines Konditors. Er hat seine Lehre als Bäcker wegen der Einberufung zur faschistischen Wehrmacht vorzeitig beendet und wurde zur Kriegsmarine eingezogen. Sein letzter Dienstgrad war Matrose. Er geriet von April bis August 1945 in englische Gefangenschaft. Anschliessend war er bis 1947 in seinem Beruf tätig und wurde dann mehrfach straffällig. Während er seine Zeit teilweise im Gefängnis zubrachte, hatte er in der übrigen Zeit nur kurzfristige Arbeitsstellen inne. So sind z.B. in seinem Arbeitsbuch seit 1951 ca. 17 verschiedene Eintragungen vorhanden. Der Angeklagte begründet seinen häufigen Stellungswechsel mit Krankheiten und zu geringen Verdiensten. Auf der anderen Seite behauptet er aber, regelmässig Fussballsport und regelmässiges Training betrieben zu haben. Seine Vorstrafen ergeben sich u.a. aus dem Lebensmittelkarten-Diebstahl gegenüber einem fünfjährigen Kind und aus drei Diebstählen in einem volkseigenen Betrieb. Zwei weitere Verfahren wegen Körperverletzung und falscher eidesstattlicher Versicherung sind eingestellt worden.
Dadurch, dass der Angeklagte viel Zeit hatte, hielt er sich ebenfalls viel im Kreise der um [Person 1] und [Person 2] versammelten Jugendlichen in der [anonymisiert] auf, war ihnen vor allem in politischer Hinsicht gleichgesinnt und spielte in dieser Gruppe eine führende Rolle. Einen Teil seiner Freizeit verbrachte er in Gesellschaft von Prostituierten, [unterstrichen: in den Westsektoren und in Kreise eines Agenten des englischen Geheimdienstes.]
Operative Beobachtung
Die Beobachtung zählte zu den konspirativen Ermittlungsmethoden, die in der Regel von operativen Diensteinheiten in Auftrag gegeben und von hauptamtlichen Mitarbeitern der Linie VIII (Hauptabteilung VIII) durchgeführt wurden. Dabei wurden sog. Zielpersonen (Beobachtungsobjekte genannt) über einen festgelegten Zeitraum beobachtet, um Hinweise über Aufenthaltsorte, Verbindungen, Arbeitsstellen, Lebensgewohnheiten und ggf. strafbare Handlungen herauszufinden. Informationen aus Beobachtungen flossen in Operative Personenkontrollen, Operative Vorgänge oder Sicherheitsüberprüfungen ein. Im westlichen Ausland wurden Beobachtungen meist von IM unter falscher Identität ausgeführt.
Überwachung des Kulturbereichs
Die für Kultur, Kunst und Literatur zuständigen Diensteinheiten des MfS hatten die kulturpolitische Linie der Partei zu unterstützen und durchzusetzen. Geheimpolizeiliche Überwachung im Kultur- und Medienbereich bedeutete zunächst "Objektsicherung", die nach dem Mauerbau durch eine personenbezogene Überwachung ergänzt und in den 70er Jahren durch eine angestrebte "flächendeckende Überwachung" drastisch erweitert wurde. Im letzten Jahrzehnt bestimmten subtilere Formen der Einflussnahme die geheimpolizeiliche Durchdringung des künstlerisch-kulturellen Bereiches der DDR.
In den 50er Jahren intensivierte das MfS seine operative Tätigkeit im Kulturbereich immer nur dann, wenn es "ideologische Aufweichungstendenzen" unter den Kulturschaffenden, speziell den Schriftstellern, befürchtete, was in der Regel mit bestimmten außen- oder innenpolitischen Prozessen im Zusammenhang stand. Derartige Tendenzen beobachtete es im Juni 1953 nicht, dafür aber umso mehr 1956/57 nach den Systemkrisen in Ungarn und Polen. Nach 1957 intensivierte das MfS die Überwachung im Verantwortungsbereich "Kultur" (K.). Beispielsweise geriet das Verlagswesen stärker ins Visier.
Nach dem Mauerbau wurde die geheimpolizeiliche Durchdringung des künstlerisch- kulturellen Bereiches verstärkt. Die Stasi meinte dort erste Anzeichen für das Entstehen eines "politischen Untergrundes" auszumachen. Das anfänglich eher sporadische Interesse wich einer zunehmenden Aufmerksamkeit, die sich speziell auf die Abläufe im Literaturbetrieb ausrichtete. Das MfS forcierte eine "unsichtbare Front" im Innern und fungierte fortan verstärkt als Wächter und Häscher der Kulturpolitik der SED.
In der Folge nahm in den 60er Jahren das Ausmaß der personenbezogenen Überwachung stetig zu. Aus verstörenden Erfahrungen mit dem Prager Frühling (1967/68) wurde die Schlussfolgerung gezogen, dass "der Klassenfeind bei der Organisierung der Konterrevolution […] immer von dem scheinbar unpolitischen Bereich der Kunst ausgeht". Vor diesem Hintergrund sind die 1969 eingeleiteten strukturellen und organisatorischen Veränderungen zur Kontrolle und Überwachung der Sicherungsbereiche Kultur und "Massenkommunikationsmittel" (M.) zu sehen.
Der Befehl 20/69 regelte den Aufbau der "Linie XX/7" mit den Zuständigkeitsbereichen Kultur / Massenmedien in der HA XX/7 und den Abt. XX/7 in den BV. In den KD standen, den regionalen Besonderheiten entsprechend, häufig nur einzelne Mitarbeiter zur zeitweiligen Erledigung operativer Aufgaben im Sicherungsbereich Kultur zur Verfügung. Fortan richtete das MfS sein Augenmerk auf die Felder Fernsehen, Rundfunk, den ADN und die Printmedien sowie auf alle kulturellen Institutionen vom Ministerium für Kultur bis hin zum Theater in der Provinz.
Entsprechend der DA 3/69 sollten zukünftig "alle inoffiziellen und offiziellen Möglichkeiten zur zielgerichteten und ständigen Informationsbeschaffung und zur operativen Bearbeitung feindlicher Kräfte" eingesetzt und zur offensiven Abwehr der feindlichen Angriffe entsprechend der Sicherung der zentralen Objekte, Einrichtungen und Organisationen im Bereich der Kultur / Massenmedien gewährleistet werden". Dieses grundsätzliche Aufgabenprofil zur Kontrolle und reibungslosen Durchsetzung der SED-Kulturpolitik blieb bis Ende 1989 gültig.
Mitte der 70er Jahre weitete das MfS seinen Überwachungsapparat im Bereich Kultur erheblich aus, weil "die ideologisch leicht anfälligen Kulturschaffenden" von der SED-Führung und dem MfS nicht mehr nur als Saboteure der Kulturpolitik der Partei eingestuft wurden, sondern zunehmend für potentielle oder tatsächliche Gegner des Sozialismus schlechthin gehalten wurden. Infolgedessen strebte das MfS die "flächendeckende Kontrolle" der kulturellen Szene an, in der möglichst jegliche kritische Entwicklung bereits im Keim erstickt werden sollte.
Nach der Ratifizierung der KSZE-Schlussakte 1975 ließ Mielke die nach innen gerichtete Tätigkeit seines Apparates in jenen gesellschaftlichen Bereichen verstärken, die ihm für die "Politik der menschlichen Kontakte" (Kontaktpolitik) besonders anfällig schien. Betroffen waren davon auch die Künstler und Schriftsteller, die nach Einschätzung des MfS einen Hauptangriffsbereich des Klassengegners" (des Westens) darstellten. Um die internationale Reputation der DDR nicht zu gefährden, war Aufsehen möglichst zu vermeiden. Es gewannen subtile Formen der Einflussnahme und differenzierte Zersetzungsmethoden" an Bedeutung.
Diese Tendenz verstärkte sich nach dem aufsehenerregenden Protest gegen die Ausbürgerung von Biermann 1976. Im Zusammenhang mit der Gründung der Solidarność in Polen im Jahr 1980 verlagerte das MfS den Schwerpunkt seiner operativen Arbeit im Kulturbereich von der "Objektsicherung" auf die Überwachung einzelner Personen. Das Ministerium konzentrierte sich nunmehr auf die Bearbeitung von institutionell gebundenen Akteuren des Kunst- und Kulturbetriebes, die der PUT verdächtigt wurden.
Mit der DA 2/85 "zur vorbeugenden Verhinderung, Aufdeckung und Bekämpfung der PUT" versuchte das MfS, das allmählich anwachsende oppositionelle Potenzial gezielter zu "bearbeiten". Die Einflussmöglichkeiten des MfS waren sehr stark von den lokalen Gegebenheiten, der aktuellen politischen bzw. kulturpolitischen Linie der SED und der Prominenz des jeweils bearbeiteten Künstlers/Schriftstellers abhängig. Demzufolge waren die Eingriffsmöglichkeiten bei prominenten Kulturschaffenden tendenziell erheblich geringer als beispielsweise bei noch unbekannten Nachwuchsautoren, die über keine Lobby verfügten und an Orten lebten und arbeiteten, für die sich Westmedien kaum interessierten.
Seit den 80er Jahren wurde die Veranlassung der Künstler zu "gesellschaftsgemäßem Verhalten" zu einer zentralen methodischen Variante der Staatssicherheit. Hierbei ging es nicht mehr darum, kritisches Denken strafrechtlich zu verfolgen oder das Entstehen partiell kritischer Werke zu verhindern, sondern deren Veröffentlichung "nur" noch einzuschränken und die betreffenden Personen von dem Bereich zu isolieren, den das MfS mit "politischer Untergrund" beschrieb. In solchen Fällen beschränkte es sich zunehmend darauf, "vorbeugende Aufklärungsarbeit" zu leisten, ohne repressive Maßnahmen einzuleiten.
Dafür rückte verstärkt jene nachgewachsene Generation ins Blickfeld der politischen Geheimpolizei, die sich ästhetisch alternativ definierte und organisatorisch nicht in den staatlich organisierten Kulturbetrieb eingebunden war. Speziell für diesen Personenkreis wurde 1981 die "Linie XX/9" gegründet.
Eine selbständige Abteilung ist eine Organisationsstruktur in der MfS-Zentrale, die durch den Minister oder einen seiner Stellvertreter direkt angeleitet und durch militärische Einzelleiter geführt wurde. Die weiter untergliederten Abteilungen prägten Linien aus (z. B. Abt. XIV; Linienprinzip) oder blieben auf die Zentrale beschränkt (z. B. Abt. X). Die eng umrissenen Zuständigkeiten mit operativer Verantwortung und Federführung orientierten sich an geheimdienstlichen Praktiken (Telefonüberwachung) oder Arbeitsfeldern (Bewaffnung, chemischer Dienst).
1950 entstanden; 1958 Aufwertung zur HA VIII.
Ein Untersuchungsvorgang war eine bei einem strafrechtlichen Ermittlungsverfahren des MfS und ggf. dem späteren Gerichtsverfahren entstandene Akte, die den Hergang des Strafverfahrens widerspiegelt und auch häufig Informationen zur Strafvollstreckung enthält.
Untersuchungsvorgänge zeigen die offizielle wie auch die inoffizielle Ebene des Verfahrens. Sie enthalten sowohl das strafprozessual legale Material (Haftbefehl, Vernehmungsprotokolle, Anklageschrift, Verhandlungsprotokoll, Urteil u. a.) als auch Dokumente geheimpolizeilichen Charakters, etwa zu konspirativen Ermittlungsmaßnahmen operativer Abteilungen oder Berichte von Zelleninformatoren.
Ein archivierter Untersuchungsvorgang kann bis zu sieben Bestandteile umfassen: Gerichtsakte, Beiakte zur Gerichtsakte, Handakte zur Gerichtsakte, Handakte zum Ermittlungsverfahren, Beiakte zur Handakte des Ermittlungsverfahrens, manchmal auch Vollstreckungsakten und ggf. die Akte des Revisions- oder Kassationsverfahrens.
Urteil gegen einen Streikführer aus Niemegk Dokument, 6 Seiten
Urteil gegen Beteiligte einer Streikkundgebung während des Volksaufstandes in Groß Dölln Dokument, 3 Seiten
Urteil gegen zwei Landwirte wegen "Boykotthetze" Dokument, 4 Seiten
Urteil des Bezirksgerichts Dresden gegen Beteiligte am Volksaufstand Dokument, 31 Seiten