Signatur: BStU, MfS, BV Schwerin, AU, Nr. 92/53, Bl. 173
Nach den Ereignissen des Volksaufstands vom 17. Juni 1953 brachte ein Arbeiter aus Güstrow auf seiner Arbeitsstelle einen Zettel mit einer regimekritischen Losung an. Das Bezirksgericht Schwerin verurteilte ihn daraufhin zu acht Jahren im Zuchthaus.
Vom 16. bis 21. Juni 1953 kam es in fast 700 Städten und Gemeinden der DDR zu Demonstrationen und Streiks. Begann der 17. Juni noch als Arbeiteraufstand, entwickelte er sich schnell zum Volksaufstand weiter. Er nahm vielerorts revolutionäre Züge an, bevor er mit Hilfe von russischen Panzern unterdrückt wurde. SED und Stasi bezeichneten die Vorkommnisse offiziell als einen vom westlichen Ausland gesteuerten "Putschversuch faschistischer Agenten und Provokateure".
Tatsächlich war der 17. Juni 1953 Ausdruck der Unzufriedenheit weiter Teile der DDR-Bevölkerung. Zunächst entzündeten sich die Proteste an sozialen Fragen. Die Menschen stellten Forderungen, die ihren Arbeits- und Lebensalltag betrafen, wie "Senkung der Arbeitsnormen und der HO-Preise". Bald forderten die Demonstranten im ganzen Land jedoch den Rücktritt der Regierung, freie Wahlen, Pressefreiheit, die Freilassung aller politischen Gefangenen und schließlich auch die deutsche Wiedervereinigung.
Im Norden der DDR gelang es der Staatsmacht so gut wie sonst nirgendwo im Land, den Aufstand des 17. Juni einzudämmen. Ordnungskräfte, Stasi und Partei hatten den Vorteil, dass sie früher als die Bevölkerung von den Ereignissen in Berlin und in den Bezirken im Süden erfuhren. So konnten sie sich auf mögliche Proteste vorbereiten. Dennoch kam es auch im Bezirk Schwerin im Juni 1953 zu Demonstrationen und Streiks. Die meisten dieser Aktionen wurden jedoch schnell wieder beendet.
Aus einem am 25. Juli 1953 ausgestellten Haftbeschluss der Kreisdienststelle für Staatssicherheit Güstrow geht hervor, dass ein 23-jähriger Arbeiter aus Güstrow auf seiner Arbeitsstelle "Zersetzungsarbeit" betrieben und am 24. Juli eine Hetzschrift angebracht habe. Darin hieß es: "Dickbauch, Spitzbart und Brille
das ist nicht des Volkeswille nied mit der Regirung und der UdSSR."
Das Bezirksgerichts Schwerin verurteilte den Arbeiter zu acht Jahren Zuchthaus. Das Urteil findet sich in der Gerichtsakte zum Fall.
[handschriftliche Ergänzung: Eingegangen am 9. Nov. 1953
[Unterschrift: [vermutlich: Bellin]] ]
I-2217/53
1 Ks 180/53
Im Namen des Volkes!
In der Strafsache
gege den Arbeiter [anonymisiert], geb. am [anonymisiert], wohnhaft gewesen in [anonymisiert], deutsch, ledig, vorbestraft, seit dem 25.07.1953 in U.-Haft,
wegen verbrechens nach Artikel 6 der Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik und Kontr.Dir.38, Abschn.II,Art.III A III
hat der I. Strafsenat des Bezirksgerichts Schwerin in der Sitzung vom 9. November 1953, an der teilgenommen haben:
Richter Mai
als Vorsitzender,
Angesteller [anonymisiert], Schwerin,
Angesteller [anonymisiert], Schwerin,
als Schöffen,
Staatsanwalt Uhlig
als Vertreter des Staatsanwalts des Bezirks,
Justizangestellte [anonymisiert]
als Schriftführerin
für Recht erkannt:
Der Angeklagte wird wegen Verbrechens gegen Artikel 6 der Verfassung der Deutschen Demokratrischen Republik in Verbindung mit der Kontr.Dir.38,Abschn.II,Art.III A III zu einer Zuchthausstrafe von
8 Jahren
unter Anrechnung der Untersuchungshaft verurteilt.
Ihm werden ferner die Sühnemassnahmen Ziffern 3-9 des Art.IX der Kontr.Dir.38 auferlegt, wobei die Beschränkung der Ziffer 7 auf 5 Jahre festgesetzt wird.
Die Kosten des Verfahrens hat der Angeklagte zu tragen.
[rundes Siegel, ein Hammer ist umringt von einem Lorbeerkranz, darum der SChriftzug: Bezirksgericht Schwerin]
[Stempel: Vorstehendes Urteil ist mit [manuell durchgestrichen: Ablauf]
[manuell durchgestrichen: des] [handschriftliche Ergänzung: dem 9. November 1953 um 12:40 Uhr]
rechtskräftig geworden.
Schwerin, den [handschriftliche Ergänzung: 16. Nov.] 195 [handschriftliche Ergänzung: 3]
[Unterschrift: [unleserlich]]
Der Beurkunder
der Geschäftsstelle des Bezirksgerichts.]
[Stempel: Sekretär des Bezirksgerichts]
Untersuchungshaft ist eine freiheitsentziehende Zwangsmaßnahme zur Sicherung des Strafverfahrens. Die Untersuchungshaft begann nach der Verkündung des Haftbefehls durch einen Richter und endete mit der Überstellung in den Strafvollzug nach Erlangung der Rechtskraft einer Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe, selten auch mit der Freilassung.
Voraussetzungen für die Anordnung der Untersuchungshaft waren ein dringender Tatverdacht sowie entweder Fluchtverdacht oder Verdunklungsgefahr (§ 112 StPO/1949, § 141 StPO/1952, § 122 StPO/1968). Der Vollzug der Untersuchungshaft war gesetzlich mit nur einem StPO-Paragraphen geregelt (§ 116 StPO/1949, § 147 StPO/1952, § 130 StPO/1968), alles Weitere in internen Ordnungen. Er erfolgte für Beschuldigte, deren Ermittlungsverfahren von der Staatssicherheit geführt wurden, in MfS-Untersuchungshaftanstalten in Berlin bzw. den Bezirksstädten der DDR.
Die Haftbedingungen waren dort von Willkür, völliger Isolation und daraus resultierender Desorientierung der Häftlinge gekennzeichnet. Für den Vollzug der Untersuchungshaft war im MfS die Linie XIV (Abt. XIV) zuständig; die Vernehmungen oblagen den Untersuchungsführern der Linie IX (HA IX).
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