Signatur: BStU, MfS, AU, Nr. 106/57, Bl. 20-21
Im November 1956 ermittelte die Stasi gegen einen Arbeiter aus West-Berlin, weil er an einer Solidaritätsdemonstration für den Volksaufstand in Ungarn teilgenommen hatte
Am 23. Oktober 1956 forderten Studenten der Budapester Universitäten auf einer Großdemonstration bürgerliche Freiheitsrechte, ein parlamentarisches Regierungssystem und nationale Unabhängigkeit. Sie bekundeten damit ihre Sympathie für einen Arbeiteraufstand in Polen drei Monate zuvor. Zudem verlangten die Demonstranten die Rückkehr von Imre Nagy als Ministerpräsident. Er hatte das Land von 1953 bis 1955 regiert und dabei einige Reformen angestoßen.
Dieser Volksaufstand in Ungarn vom Herbst 1956 löste beim Ministerium für Staatssicherheit (MfS) Unruhe aus. Die Erinnerungen an den Volksaufstand in der DDR vom 17. Juni 1953 waren noch frisch und die ostdeutsche Geheimpolizei wollte um jeden Preis verhindern, dass die explosive Stimmung auf das eigene Land übersprang. Die SED-Parteizeitung "Neues Deutschland" sprach schon am 25. Oktober von einem "Putsch konterrevolutionärer Elemente". Die DDR-Führung versuchte die Bevölkerung durch sozialpolitisches Entgegenkommen zu beruhigen und das MfS wollte die Bürger durch Abschreckung disziplinieren.
Gegen Solidaritätsbekundungen für den Aufstand in Ungarn gingen die Machthaber sofort vor, so auch gegen einen West-Berliner Bürger. Er hatte im Westteil der Stadt an einer Solidaritätsdemonstration teilgenommen und war anschließend zum Brandenburger Tor gezogen. Dort angekommen provozierte er wahrscheinlich mit weiteren Demonstranten die Volkspolizei, die auch mit Steinen beworfen wurde. Vermutlich befand er sich unmittelbar an der Sektorengrenze gerade eben auf Ost-Berliner Territorium als er von der Volkspolizei festgenommen wurde.
Das vorliegende Dokument zeigt ein Teil der Vernehmungsprotokolle hierzu. Darin äußert er sich zu seinen Beweggründen und seinem Verhalten. Was der Mann unter dem Druck der Verhaftung überhaupt zu äußern wagte und ob seine Aussagen richtig protokolliert wurden lässt sich heute nicht mehr überprüfen.
Berlin, den 6.11.56
Vernehmungsprotokoll
über
[anonymisisert]
geb. [anonymisisert]
wohnhaft: Berlin-Charlottenburg
Beruf: [anonymisisert]
nicht organisiert.
Frage: An welcher Demonstration beteiligten Sie sich?
Antwort: Ich wollte am heutigen Tage zu meinen Freund [anonymisisert] in die Winterfelstraße Nr. 7. Kurz vor dem Rudolf-Wild-Platz blieb ich im Gedränge stehen, da dort eine Kundgebung stattfand, die den Faschisten in Ungarn gewidmet war. Es sprach der Bürgermeister Suhr. Anschließend sprach Willi Brandt der aufrief "Auf zum Brandenburger Tor".
Frage: Welche konkreten Angaben zu dieser Demonstrationen können Sie machen?
Antwort: Die Demonstration sollte ein Schweigemarsch sein, wurde jedoch zur brüllenden Meute die sich zum Brandenburger Tor wälzte. Auf Transparenten stand "Ungarns Studenten sind unsere Brüder, gebt Ungarn frei, freie Wahlen, Friede auf Erden, und Anderes". Von der Meute wurde im Chor geschrien: "Raus aus Ungarn, runter mit dem roten Fetzen, schwarz-rot-gold aufs Tor, Volkspolizisten ihr seid unsere Brüder, Volkspolizisten, ihr seid auch nur Knechte, kommt zu uns, ihr Schweine, Russe raus aus Deutschland, die Zone frei, Freiheit wollen wir haben, nieder mit dem Kommunismus, helft Ungarn, Deutschland, Deutschland über alles".
[Unterschrift anonymisiert]
Eine selbständige Abteilung ist eine Organisationsstruktur in der MfS-Zentrale, die durch den Minister oder einen seiner Stellvertreter direkt angeleitet und durch militärische Einzelleiter geführt wurde. Die weiter untergliederten Abteilungen prägten Linien aus (z. B. Abt. XIV; Linienprinzip) oder blieben auf die Zentrale beschränkt (z. B. Abt. X). Die eng umrissenen Zuständigkeiten mit operativer Verantwortung und Federführung orientierten sich an geheimdienstlichen Praktiken (Telefonüberwachung) oder Arbeitsfeldern (Bewaffnung, chemischer Dienst).
Staatsverbrechen waren im StEG/1957 (§§ 13-27) und in Kapitel 2 des StGB/1968 (§§ 96-111) beschriebene politische Straftaten, die in die Zuständigkeit des MfS als strafrechtliches Untersuchungsorgan (HA IX) fielen, weil eine staatsfeindliche Absicht und/oder eine staatsgefährdende Wirkung unterstellt wurden.
Zu den Staatsverbrechen zählten diktaturspezifisch kodifizierte "klassische" politische Straftaten wie Hochverrat und Spionagedelikte sowie als Meinungs- und Organisationsdelikte definierte Handlungen (Staatsfeindliche Hetze, Staatsfeindliche Gruppenbildung), die in demokratischen Staaten als Ausübung von Grundrechten gelten würden, außerdem unterschiedliche Handlungen oder Unterlassungen, bei denen den Tätern eine staatsfeindlich motivierte Schädigungsabsicht unterstellt wurde (Diversion, Sabotage).
Die als Staatsverbrechen bezeichneten Straftatbestände stehen überwiegend in sowjetischer Rechtstradition und gehen letztlich auf Artikel 58 des StGB der RSFSR ("Konterrevolutionäre Verbrechen") zurück. Bis Februar 1958 wurden sie von DDR-Gerichten in Ermangelung konkreter strafrechtlicher Regelungen pauschal mit Hilfe von Artikel VI der Verfassung von 1949 ("Boykott- und Kriegshetze") geahndet.
Staatsverbrechen galten als schwere Straftaten; bei einigen Tatbeständen (Hochverrat, Spionage, Terror, Diversion, Sabotage) umfasste der Strafrahmen bis 1987 auch die Todesstrafe.
Ein Untersuchungsvorgang war eine bei einem strafrechtlichen Ermittlungsverfahren des MfS und ggf. dem späteren Gerichtsverfahren entstandene Akte, die den Hergang des Strafverfahrens widerspiegelt und auch häufig Informationen zur Strafvollstreckung enthält.
Untersuchungsvorgänge zeigen die offizielle wie auch die inoffizielle Ebene des Verfahrens. Sie enthalten sowohl das strafprozessual legale Material (Haftbefehl, Vernehmungsprotokolle, Anklageschrift, Verhandlungsprotokoll, Urteil u. a.) als auch Dokumente geheimpolizeilichen Charakters, etwa zu konspirativen Ermittlungsmaßnahmen operativer Abteilungen oder Berichte von Zelleninformatoren.
Ein archivierter Untersuchungsvorgang kann bis zu sieben Bestandteile umfassen: Gerichtsakte, Beiakte zur Gerichtsakte, Handakte zur Gerichtsakte, Handakte zum Ermittlungsverfahren, Beiakte zur Handakte des Ermittlungsverfahrens, manchmal auch Vollstreckungsakten und ggf. die Akte des Revisions- oder Kassationsverfahrens.
Beginn einer freiheitsentziehenden Maßnahme, Ergreifung eines Beschuldigten oder Angeklagten aufgrund eines richterlichen Haftbefehls (§ 114 StPO/1949, § 142 StPO/1952, §§ 6 Abs. 3, 124 StPO/1968). Zu unterscheiden von der vorläufigen Festnahme und der Zuführung.
Signatur: BStU, MfS, AU, Nr. 106/57, Bl. 20-21
Im November 1956 ermittelte die Stasi gegen einen Arbeiter aus West-Berlin, weil er an einer Solidaritätsdemonstration für den Volksaufstand in Ungarn teilgenommen hatte
Am 23. Oktober 1956 forderten Studenten der Budapester Universitäten auf einer Großdemonstration bürgerliche Freiheitsrechte, ein parlamentarisches Regierungssystem und nationale Unabhängigkeit. Sie bekundeten damit ihre Sympathie für einen Arbeiteraufstand in Polen drei Monate zuvor. Zudem verlangten die Demonstranten die Rückkehr von Imre Nagy als Ministerpräsident. Er hatte das Land von 1953 bis 1955 regiert und dabei einige Reformen angestoßen.
Dieser Volksaufstand in Ungarn vom Herbst 1956 löste beim Ministerium für Staatssicherheit (MfS) Unruhe aus. Die Erinnerungen an den Volksaufstand in der DDR vom 17. Juni 1953 waren noch frisch und die ostdeutsche Geheimpolizei wollte um jeden Preis verhindern, dass die explosive Stimmung auf das eigene Land übersprang. Die SED-Parteizeitung "Neues Deutschland" sprach schon am 25. Oktober von einem "Putsch konterrevolutionärer Elemente". Die DDR-Führung versuchte die Bevölkerung durch sozialpolitisches Entgegenkommen zu beruhigen und das MfS wollte die Bürger durch Abschreckung disziplinieren.
Gegen Solidaritätsbekundungen für den Aufstand in Ungarn gingen die Machthaber sofort vor, so auch gegen einen West-Berliner Bürger. Er hatte im Westteil der Stadt an einer Solidaritätsdemonstration teilgenommen und war anschließend zum Brandenburger Tor gezogen. Dort angekommen provozierte er wahrscheinlich mit weiteren Demonstranten die Volkspolizei, die auch mit Steinen beworfen wurde. Vermutlich befand er sich unmittelbar an der Sektorengrenze gerade eben auf Ost-Berliner Territorium als er von der Volkspolizei festgenommen wurde.
Das vorliegende Dokument zeigt ein Teil der Vernehmungsprotokolle hierzu. Darin äußert er sich zu seinen Beweggründen und seinem Verhalten. Was der Mann unter dem Druck der Verhaftung überhaupt zu äußern wagte und ob seine Aussagen richtig protokolliert wurden lässt sich heute nicht mehr überprüfen.
In der Demonstration waren überwiegend Jugendliche.
Frage: Welche weiteren Provokationen sollten vorgenommen werden?
Antwort: Es wurde dann aufgerufen, morgen um 12.00 Uhr eine Schweigeminute in Betrieben, Verwaltungen und Verkehr durchzuführen.
Frage: Aus welchem Grunde haben Sie daran teilgenommen?
Antwort: Ich nahm daran teil, um für die Wiedervereinigung Deutschlands zu demonstrieren. Irgendwie muß doch einmal etwas passieren. Wir wollten unseren Willen zeigen, um in "Frieden und Freiheit" zu leben.
Frage: Haben Sie mit Steinen gegen unsere Volkspolizisten geworfen.
Antwort: Ich gebe zu mit Steinen gegen die Volkspolizisten geworfen zu haben. Wir wollten damit erreichen, daß einer aus dem demokratischen Sektor kommt und zu den Dingen Stellung nimmt. Warum und wiese es dazu kam, kann ich garnicht genau sagen, da es meiner Ansicht nach eine "Halbstarken-Idee" war. Ich sehe ein, daß ich da einen Fehler begangen habe.
Ich habe das Vernehmungsprotokoll selbst gelesen. Der Inhalt des Protokolls entspricht in allen Teilen den von mir gemachten Aussagen. Meine Worte sind darin richtig wiedergegeben.
[Unterschrift anonymisiert]
Sachbearbeiter
[Unterschrift: Finke]
(Leutnant)
Eine selbständige Abteilung ist eine Organisationsstruktur in der MfS-Zentrale, die durch den Minister oder einen seiner Stellvertreter direkt angeleitet und durch militärische Einzelleiter geführt wurde. Die weiter untergliederten Abteilungen prägten Linien aus (z. B. Abt. XIV; Linienprinzip) oder blieben auf die Zentrale beschränkt (z. B. Abt. X). Die eng umrissenen Zuständigkeiten mit operativer Verantwortung und Federführung orientierten sich an geheimdienstlichen Praktiken (Telefonüberwachung) oder Arbeitsfeldern (Bewaffnung, chemischer Dienst).
Staatsverbrechen waren im StEG/1957 (§§ 13-27) und in Kapitel 2 des StGB/1968 (§§ 96-111) beschriebene politische Straftaten, die in die Zuständigkeit des MfS als strafrechtliches Untersuchungsorgan (HA IX) fielen, weil eine staatsfeindliche Absicht und/oder eine staatsgefährdende Wirkung unterstellt wurden.
Zu den Staatsverbrechen zählten diktaturspezifisch kodifizierte "klassische" politische Straftaten wie Hochverrat und Spionagedelikte sowie als Meinungs- und Organisationsdelikte definierte Handlungen (Staatsfeindliche Hetze, Staatsfeindliche Gruppenbildung), die in demokratischen Staaten als Ausübung von Grundrechten gelten würden, außerdem unterschiedliche Handlungen oder Unterlassungen, bei denen den Tätern eine staatsfeindlich motivierte Schädigungsabsicht unterstellt wurde (Diversion, Sabotage).
Die als Staatsverbrechen bezeichneten Straftatbestände stehen überwiegend in sowjetischer Rechtstradition und gehen letztlich auf Artikel 58 des StGB der RSFSR ("Konterrevolutionäre Verbrechen") zurück. Bis Februar 1958 wurden sie von DDR-Gerichten in Ermangelung konkreter strafrechtlicher Regelungen pauschal mit Hilfe von Artikel VI der Verfassung von 1949 ("Boykott- und Kriegshetze") geahndet.
Staatsverbrechen galten als schwere Straftaten; bei einigen Tatbeständen (Hochverrat, Spionage, Terror, Diversion, Sabotage) umfasste der Strafrahmen bis 1987 auch die Todesstrafe.
Ein Untersuchungsvorgang war eine bei einem strafrechtlichen Ermittlungsverfahren des MfS und ggf. dem späteren Gerichtsverfahren entstandene Akte, die den Hergang des Strafverfahrens widerspiegelt und auch häufig Informationen zur Strafvollstreckung enthält.
Untersuchungsvorgänge zeigen die offizielle wie auch die inoffizielle Ebene des Verfahrens. Sie enthalten sowohl das strafprozessual legale Material (Haftbefehl, Vernehmungsprotokolle, Anklageschrift, Verhandlungsprotokoll, Urteil u. a.) als auch Dokumente geheimpolizeilichen Charakters, etwa zu konspirativen Ermittlungsmaßnahmen operativer Abteilungen oder Berichte von Zelleninformatoren.
Ein archivierter Untersuchungsvorgang kann bis zu sieben Bestandteile umfassen: Gerichtsakte, Beiakte zur Gerichtsakte, Handakte zur Gerichtsakte, Handakte zum Ermittlungsverfahren, Beiakte zur Handakte des Ermittlungsverfahrens, manchmal auch Vollstreckungsakten und ggf. die Akte des Revisions- oder Kassationsverfahrens.
Beginn einer freiheitsentziehenden Maßnahme, Ergreifung eines Beschuldigten oder Angeklagten aufgrund eines richterlichen Haftbefehls (§ 114 StPO/1949, § 142 StPO/1952, §§ 6 Abs. 3, 124 StPO/1968). Zu unterscheiden von der vorläufigen Festnahme und der Zuführung.
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