Signatur: BStU, MfS, ZAIG, Nr. 5337, Bl. 96
Die Entwicklung demokratischer Reformen in den Ostblockstaaten Ungarn und Polen wurden von der DDR-Regierung sehr genau verfolgt. Die Staatssicherheit berichtete der Partei- und Staatsführung über die halbfreien Parlamentswahlen in Polen und dem Wahlsieg der oppositionellen Solidarność.
Im Sommer 1989 war bereits seit Monaten zu erkennen, dass sich die DDR-Führung mit ihrem reformfeindlichen Kurs von den Entwicklungen der anderen Warschauer-Pakt-Staaten isolierte (vgl. 7.4.1989). Auch der SED-Spitze war das nicht verborgen geblieben, sie wiegte sich aber in dem Glauben, die DDR sei eine Insel der Stabilität, während die Reformstaaten (Ungarn, Polen und Sowjetunion) immer tiefer in Turbulenzen gerieten. Im Juni und Juli 1989 kamen mehrere Ereignisse zusammen, die zeigten, wie illusionär die Auffassung war, die DDR könne sich dem entziehen.
Im Nachbarland Polen errang die oppositionelle Solidarność bei den ersten halbfreien Wahlen am 4. und am 18. Juni 1989 einen erdrutschartigen Sieg. Bei den Verhandlungen am Runden Tisch beharrte die regierende "Koalition" aus Polnischer Vereinigter Arbeiterpartei (PVAP) und Blockparteien (Bauernpartei und Demokratische Partei) für die halbfreien Wahlen auf einem festen Kontingent von 65 Prozent der Mandate des Sejm (des Parlaments).
Für die gleichzeitigen Wahlen zur zweiten Kammer, des Senats, gab es eine solche Einschränkung der Wahlfreiheit nicht. Es wurde nach dem Mehrheitswahlrecht gewählt, was zum Sieg von Solidarność beitrug. So errang Solidarność im 1. Wahlgang am 4. Juni mit einem Stimmenanteil von 64 Prozent bereits 92 der 100 Senatssitze (über die restlichen 8 Sitze musste am 16. Juni in einer Stichwahl entschieden werden).
Der Wahlsieg von Solidarność im ersten Wahlgang am 4. Juni wurde im zweiten Wahlgang am 18. Juni 1989 noch übertroffen. Hier wurde über jene Sitze in Sejm und Senat (beides Kammern des polnischen Parlaments) entschieden, für die keiner der Kandidaten die jeweils erforderlichen 50 % der Stimmen erhielt.
Anlage 1
Zum 2. Wahlgang in der VR Polen
Nach der schweren Niederlage der PVAP und der Koalition im 1. Wahlgang am 04.06.1989 kam es im 2. Wahlgang am 18.06.1989 zu einem weiteren Rückschlag: Die Wahlbeteiligung betrug nur noch 25,31 %. (Das war die geringste Wahlbeteiligung nach dem 2. Weltkrieg. In den Wahlkreisen, in denen Vertreter von "Solidarnosc" kandidierten, war die Beteiligung höher als im Durchschnitt.)
Beide Kammern (Senat und Sejm) bilden künftig die Nationalversammlung, die u.a. den Präsidenten der VR Polen wählen wird. Als Kandidat steht Genosse Jaruzelski zur Debatte. Das Kräfteverhältnis in der Nationalversammlung lautet:
299 von PVAP und Koalition,
260 von "Solidarnosc"-Opposition.
Westliche "Osteuropa-Experten" stellten fest, daß die Wahlergebnisse die Prognosen über das Abschneiden der Opposition übertroffen haben. Der Wahlausgang in Polen werde nicht ohne Auswirkungen auf andere sozialistische Länder bleiben; oppositionelle Bewegungen dürften sich gestärkt fühlen. Die Zurückhaltung der UdSSR gegenüber den Vorgängen in Polen habe wesentlich dazu beigetragen, daß die Opposition ausreichend Aktionsmöglichkeiten erhalten habe.
Die ZAIG war das "Funktionalorgan" des Ministers für Staatssicherheit, die Schaltstelle im MfS, in der nahezu alle komplexen Stabsfunktionen konzentriert waren: die zentrale Auswertung und Information, einschließlich der Berichterstattung an die politische Führung, die Optimierung der entsprechenden Verfahren und Strukturen im Gesamtapparat des MfS, die zentralen Kontrollen und Untersuchungen und die Analyse der operativen Effektivität des MfS, die zentrale Planung und die Erarbeitung dienstlicher Bestimmungen, zudem die übergeordneten Funktionen im Bereich EDV sowie die Gewährleistung des internationalen Datenaustauschsystems der kommunistischen Staatssicherheitsdienste (SOUD). Nach der Eingliederung der Abteilung Agitation 1985 waren auch die Öffentlichkeitsarbeit und die Traditionspflege des MfS in der ZAIG als "Bereich 6" funktional verankert. Die ZAIG war im direkten Anleitungsbereich des Ministers angesiedelt; ihr waren zuletzt die formal selbständigen Abt. XII, XIII (Rechenzentrum) und die Rechtsstelle fachlich unterstellt.
Die ZAIG geht auf die nach dem Juniaufstand 1953 gegründete und von Heinz Tilch geleitete Informationsgruppe (IG) der Staatssicherheitszentrale zurück, die erstmals eine regelmäßige Lage- und Stimmungsberichterstattung für die Partei- und Staatsführung hervorbrachte. Diese entwickelte sich 1955/56 zur Abteilung Information mit drei Fachreferaten, wurde aber 1957 als Resultat des Konfliktes zwischen Ulbricht und Wollweber wieder stark reduziert. 1957 erhielt die Abteilung mit Irmler einen neuen Leiter, der jedoch bereits 1959 vom ehemaligen stellv. Leiter der HV A Korb abgelöst und zum Stellvertreter zurückgestuft wurde. Gleichzeitig wurde die Diensteinheit in Zentrale Informationsgruppe (ZIG) umbenannt; von da an lief auch die bisher eigenständige Berichterstattung der HV A über sie. 1960 wurde die Berichterstattung an die politische Führung durch einen Ministerbefehl präzise geregelt, und die ZIG erhielt mit der Neueinrichtung von Informationsgruppen in den BV und operativen HA einen soliden Unterbau.
1965 wurde die ZIG in ZAIG umbenannt und ein einheitliches Auswertungs- und Informationssystem eingeführt, das die Recherche und Selektion von Daten sowie die Organisierung von Informationsflüssen gewährleistete. In den operativen HA und BV erhielt die ZAIG mit den AIG entsprechende "Filialen". Im gleichen Jahr ging Korb in den Ruhestand, Irmler wurde wieder Leiter der Diensteinheit.
1968 wurde auch das Kontrollwesen der Staatssicherheit in die ZAIG eingegliedert, das im Dezember 1953 mit der Kontrollinspektion seinen ersten organisatorischen Rahmen erhalten hatte und 1957 mit der Umbenennung in AG Anleitung und Kontrolle erheblich qualifiziert worden war.
1969 erhielt die ZAIG auch die Verantwortung für den Einsatz der EDV. Das im Aufbau begriffene Rechenzentrum (Abt. XIII) wurde ihr unterstellt. In der ersten Hälfte der 70er Jahre bildeten sich vier Arbeitsbereiche der ZAIG heraus. Bereich 1: konkrete Auswertungs- und Informationstätigkeit und Berichterstattung an die politische Führung; Bereich 2: Kontrollwesen, die Erarbeitung von dienstlichen Bestimmungen sowie Prognose- und Planungsaufgaben; Bereich 3: Fragen der EDV; Bereich 4: Pflege und Weiterentwicklung der "manuellen" Bestandteile des Auswertungs- und Informationssystems. 1979 erhielt dieser Bereich auch die Verantwortung für das SOUD ("ZAIG/5").
Information zu Wahlen in der Volksrepublik Polen Dokument, 9 Seiten
Bericht über die Trauerfeier für Imre Nagy in Budapest Dokument, 2 Seiten
"Monatsübersicht 8/89 über aktuelle Probleme der Lageentwicklung in sozialistischen Staaten" Dokument, 34 Seiten
"Monatsübersicht Nr. 7/89 über aktuelle Probleme der Lageentwicklung in sozialistischen Staaten" Dokument, 39 Seiten