Signatur: BStU, MfS, HA IX, Nr. 5897, Bl. 10
Am 19. August 1989 veranstalteten das Ungarische Demokratische Forum und die Paneuropa-Union ein Picknick an der ungarisch-österreichischen Grenze, um für den Abbau der Grenzanlagen und für ein geeintes Europa zu demonstrieren. Dabei kam es zu einer kurzen symbolischen Grenzöffnung. Einige hundert DDR-Bürger nutzten diese Möglichkeit, um über die Grenze in das österreichische St. Margareten zu gelangen. Der Stasi blieb nur die Rückführung der verlassen PKW der Geflüchteten.
Ende 1988 setzte sich in der politischen Führung der Volksrepublik Ungarn langsam eine Erkenntnis durch: Der Stacheldraht und die Minen an der Westgrenze des Landes müssten aus ökonomischen, technischen und moralischen Gründen abgebaut werden. Am 2. Mai 1989 wurde aus dem Plan Realität. Die Außenminister Alois Mock (Österreich) und Gyula Horn (Ungarn) zerschnitten demonstrativ den Eisernen Vorhang, die Meldeanlagen wurden abgeschaltet. Die Sowjetunion ließ die Ungarn gewähren.
Ungefähr einen Monat später aßen Ferenc Mészáros vom Ungarischen Demokratischen Forum (MDF) und der Präsident der Paneuropa-Union Otto von Habsburg bei einem Empfang gemeinsam zu Mittag. Bei dieser Gelegenheit kamen sie auf die Idee, das gemeinsame Gespräch über die Situation am Eisernen Vorhang bei einem Picknick an der ungarisch-österreichischen Grenze in Sopron fortzusetzen. Das MDF nahm den Vorschlag auf und machte sich an die Organisation. Als Schirmherren gewannen sie Otto von Habsburg und den ungarische Staatsminister Imre Pozsgay.
Das Konzept sah, neben einem gemeinsamen Picknick, eine symbolische Grenzöffnung und ein Rahmenprogramm vor. Die Initiatoren holten Genehmigungen auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs ein und stellten zweisprachige Plakate her, um das Vorhaben bekannt zu machen. Das hatte zur Folge, dass auch zahlreiche DDR-Bürger, die zu diesem Zeitpunkt ihren Sommerurlaub in Ungarn verbrachten, davon erfuhren.
Gegen Mittag tauchten die ersten DDR-Bürger am Ort des Geschehens auf und überschritten die Grenze in Richtung des österreichischen Ortes St. Margarethen. Die ungarischen Grenzsoldaten waren überrascht, reagierten jedoch besonnen und ignorierten die etwa 600 DDR-Bürger, die an diesem Tag in den Westen gelangten, schlichtweg. Am Straßenrand blieb eine riesige Schlange zurückgelassener Fahrzeuge stehen. Die Flüchtlinge nahmen nur mit, was sie tragen konnten.
Obwohl die Operativgruppe des Ministeriums für Staatssicherheit, der Präsenz der Stasi in Ungarn, Informationen über das Paneuropäische Picknick hatte, reagierten die Offiziere nicht. Sie hatten zum Zeitpunkt der Massenflucht keine Anweisungen aus Ost-Berlin vorliegen. Der Stasi blieb nichts weiter übrig, als den Rücktransport der verlassenen Fahrzeuge zu organisieren.
Ministerrat der Deutschen Demokratischen Republik
Ministerium für Staatssicherheit
Berlin, den 11.10.1989
Tgb.-Nr. IX/05712/89
zie-hei IX/9 [handschriftliche Ergänzung: 628] /89
Bezirksverwaltung für Staatssicherheit
Abteilung IX
Leiter
Zurückgeführte Kfz im Rahmen der Aktion "Sopron"
Ausschließlich zum dortigen Verbleib werden die in der Anlage aufgeführten Einziehungs-Entscheide zu den aus dem sozialistischen Ausland zurückgeführten Kraftfahrzeugen übersandt. Die Einziehungs-Entscheide sind aufgrund einer Vereinbarung mit der Zollverwaltung der DDR in keiner Form an andere Organe oder Personen zu übergeben.
Es wird gebeten, das Dezernat II der BDVP - sofern dessen Zuständigkeit gegeben ist - sowie in jedem Fall das Staatliche Eigentum über die Einziehung der Kraftfahrzeuge in Kenntnis zu setzen.
Leiter der Abteilung
[Unterschrift]
Wolf
(Oberst)
Anlagen:
Einziehungs-Entscheid Nr.; Name des Rechtsverletzers; Geb.-Datum
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Linie IX (Untersuchungsorgan)
Die HA IX war die für strafrechtliche Ermittlungen zuständige Diensteinheit (Strafverfolgung). Sie hatte wie die nachgeordneten Abteilung IX in den Bezirksverwaltung (BV) (Linie IX) die Befugnisse eines Untersuchungsorgans, d. h. einer kriminalpolizeilichen Ermittlungsbehörde. Ursprünglich vor allem für die sog. Staatsverbrechen zuständig, befasste sie sich in der Honecker-Ära überwiegend mit Straftaten gegen die staatliche Ordnung, vor allem mit Fällen "ungesetzlichen Grenzübertritts" und Delikten, die mit Ausreisebegehren zu tun hatten. Nach StPO der DDR standen auch die Ermittlungsverfahren der Linie IX unter Aufsicht der Staatsanwaltschaft, in der Praxis arbeitete das MfS hier jedoch weitgehend eigenständig.
Die HA IX und die Abt. IX der BV waren berechtigt, Ermittlungsverfahren einzuleiten sowie Festnahmen, Vernehmungen, Durchsuchungen, Beschlagnahmen und andere strafprozessuale Handlungen vorzunehmen sowie verpflichtet, diese Verfahren nach einer bestimmten Frist - meist durch die Übergabe an die Staatsanwaltschaft zur Anklageerhebung - zum Abschluss zu bringen (Untersuchungsvorgang). Daneben führte sie Vorermittlungen zur Feststellung von Ursachen und Verantwortlichen bei Großhavarien (industriellen Störfällen), Flugblättern widerständigen Inhalts, öffentlichen Protesten u. ä. (Vorkommnisuntersuchung, Sachverhaltsprüfung).
Die HA IX gehörte zeit ihres Bestehens zum Anleitungsbereich Mielkes, in den ersten Jahren in seiner Funktion als Staatssekretär und 1. stellv. Minister, ab 1957 als Minister. Ihre Leiter waren Alfred Karl Scholz (1950-1956), Kurt Richter (1956-1964), Walter Heinitz (1964-1973) und Rolf Fister (1973-1989).
1953 bestand die HA IX aus drei Abteilungen, die für Spionagefälle, Fälle politischer "Untergrundtätigkeit" und die Anleitung der Abt. IX der BV zuständig waren. Durch Ausgliederungen entstanden weitere Abteilungen, so u. a. für Wirtschaftsdelikte, Militärstraftaten, Delikte von MfS-Angehörigen und Fluchtfälle. Ende 1988 bestand die HA IX aus zehn Untersuchungsabteilungen sowie der Auswertungs- und Kontrollgruppe (AKG) und der AGL (Arbeitsgruppe des Ministers (AGM)) mit insgesamt 489 Mitarbeitern. Auf der Linie IX arbeiteten 1 225 hauptamtliche Mitarbeiter.
Die Linie IX wirkte eng mit den Abteilung XIV (Haft) und der Linie VIII (Hauptabteilung VIII (Beobachtung, Ermittlung)), die für die Durchführung der Festnahmen zuständig waren, zusammen. Bei der juristischen Beurteilung von Operativen Vorgängen (OV) wurde die HA IX von den geheimdienstlich arbeitenden Diensteinheiten häufig einbezogen.
Operativgruppe (OG)
Das MfS unterhielt ständige Niederlassungen in der Sowjetunion (seit 1951), Bulgarien (1961), Ungarn (1964), ČSSR (1965), Polen (1980) sowie in einigen Entwicklungsländern, die als Operativgruppen (OG) bezeichnet wurden. In den osteuropäischen Ländern umfasste eine Operativgruppe zuletzt 8 bis 14 MfS-Offiziere (in Polen: 20, in der Sowjetunion einschließlich der dort an die Operativgruppe angeschlossenen Linien I und XVIII ca. 35), die auf mehrere Städte verteilt waren und bis zu 40 IM (in Polen: 150, sowie zahlreiche Kontaktpersonen, in der Sowjetunion einschließlich der Linien I und XVIII ca. 400) führten, bei denen es sich zumeist um DDR-Bürger handelte, die längerfristig in dem Land lebten.
Die Operativgruppen war an den jeweiligen Landesgeheimdienst angebunden und kooperierte mit diesem. Eine Operativgruppe setzte sich aus Mitarbeitern mehrerer MfS-Diensteinheiten zusammen (insbesondere HA VI, HA II, ZKG); die an den Botschaften tätigen HV-A-Mitarbeiter agierten weitgehend unabhängig davon. Die Aufgabe der Operativgruppen bestand darin, DDR-Bürger im Ausland zu überwachen und Fluchtversuche in den Westen zu verhindern, in der Spionageabwehr, in Entwicklungsländern auch im Schutz von DDR-Bürgern sowie in der Beratung und Unterstützung der örtlichen Sicherheitsdienste. In der ČSSR ab 1968 und Polen ab 1980 waren sie an der Unterdrückung der Opposition beteiligt.
Viele Geheimdienste sozialistischer Länder unterhielten ihrerseits bis 1989/90 eine Operativgruppe in der DDR. Die Operativgruppen bildete nur eines von mehreren Elementen geheimdienstlicher Kooperation.
Operativgruppe war aber auch eine Bezeichnung für Struktureinheiten auf den unteren Ebenen der MfS-Diensteinheiten, zumeist mit einer eng begrenzten oder befristeten Aufgabe. Eine Operativgruppe konnte aber auch zu einer Abteilung aufgebaut werden. So entstand aus einer 1976 bis 1980 tätigen Operativgruppe der Hauptabteilung XX ab 1981 die Hauptabteilung XX/9, die Dissidenten und Oppositionelle verfolgte.
Straftaten gegen die staatliche Ordnung
Straftaten gegen die staatliche Ordnung waren Straftatbestände des 8. Kapitels des StGB/1968. Insbesondere der 2. Abschnitt ("Straftaten gegen die staatliche und öffentliche Ordnung") enthält politische Strafnormen, die für die strafrechtliche Untersuchungstätigkeit der Staatssicherheit (Untersuchungsorgan) von großer Bedeutung waren.
Das gilt vor allem für § 213 ("Ungesetzlicher Grenzübertritt"), der in der Honecker-Ära Grundlage von rund der Hälfte aller MfS-Ermittlungsverfahren war. Auch § 214 ("Beeinträchtigung staatlicher und gesellschaftlicher Tätigkeit") spielte, vor allem im Zusammenhang mit der Bekämpfung von Ausreiseantragstellern, in den 80er Jahren eine immer wichtigere Rolle.
Ähnliches gilt für § 219 ("Ungesetzliche Verbindungsaufnahme") und § 220 ("Öffentliche Herabwürdigung der staatlichen Ordnung"), die die ähnlichen, aber schwerer wiegenden Strafnormen aus dem 2. Kapitel des StGB/1968 § 100 ("Staatsfeindliche Verbindungen", ab 1979 "Landesverräterische Agententätigkeit") und § 106 ("Staatsfeindliche Hetze") weitgehend verdrängten (Staatsverbrechen).
Im Zusammenhang mit der Verwaltungsreform der DDR vom Sommer 1952 wurden die fünf Länderverwaltungen für Staatssicherheit (LVfS) in 14 Bezirksverwaltungen umgebildet. Daneben bestanden die Verwaltung für Staatssicherheit Groß-Berlin und die Objektverwaltung "W" (Wismut) mit den Befugnissen einer BV. Letztere wurde 1982 als zusätzlicher Stellvertreterbereich "W" in die Struktur der BV Karl-Marx-Stadt eingegliedert.
Der Apparat der Zentrale des MfS Berlin und der der BV waren analog strukturiert und nach dem Linienprinzip organisiert. So waren die Hauptabteilung II in der Zentrale bzw. die Abteilungen II der BV für die Schwerpunkte der Spionageabwehr zuständig usw. Auf der Linie der Hauptverwaltung A waren die Abteilung XV der BV aktiv. Einige Zuständigkeiten behielt sich die Zentrale vor: so die Militärabwehr (Hauptabteilung I) und die internationalen Verbindungen (Abteilung X) oder die Arbeit des Büros für Besuchs- und Reiseangelegenheiten in Westberlin (Abteilung XVII). Für einige Aufgabenstellungen wurde die Bildung bezirklicher Struktureinheiten für unnötig erachtet. So gab es in den 60er und 70er Jahren für die Abteilung XXI und das Büro der Leitung II Referenten für Koordinierung (RfK) bzw. Offiziere BdL II. Für spezifische Aufgaben gab es territorial bedingte Diensteinheiten bei einigen BV, z. B. in Leipzig ein selbständiges Referat (sR) Messe, in Rostock die Abt. Hafen.
An der Spitze der BV standen der Leiter (Chef) und zwei Stellv. Operativ. Der Stellv. für Aufklärung fungierte zugleich als Leiter der Abt. XV. Die Schaffung des Stellvertreterbereichs Operative Technik im MfS Berlin im Jahre 1986 führte in den BV zur Bildung von Stellv. für Operative Technik/Sicherstellung.
Einziehungsentscheid über ein an der ungarisch-österreichischen Grenze zurückgelassenes Fahrzeug Dokument, 2 Seiten
Einladung zum paneuropäischen Picknick Dokument, 1 Seite
Von DDR-Bürgern in Sopron (Ungarn) mutmaßlich zurückgelassene Fahrzeuge 3 Fotografien
Begleitton zu einem Dia-Vortrag über den Volksaufstand 1956 in Ungarn Audio, 33 Minuten, 3 Sekunden