Werner Stiller war Offizier der Hauptverwaltung A. Seit 1978 lieferte er Informationen an den Bundesnachrichtendienst. Anfang 1979 floh er mit geheimen Unterlagen in den Westen. Für die Staatssicherheit hatte das weitreichende Folgen.
Werner Stiller, geboren 1948, absolvierte von 1966 bis 1971 ein Physikstudium an der Leipziger Karl-Marx-Universität. Um seine Karriere voranzutreiben, wurde er Mitglied der Staatspartei SED. Als junger, karrierebewusster Mann mit Spezialkenntnissen wurde er für das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) interessant.
Kurz vor dem Ende seines Studiums wurde er vom Hauptamtlichen Inoffiziellen Mitarbeiter (HIM) "Leo Haustein" angesprochenen, dessen Aufgabe es war, unter Studenten nach Nachwuchs für den Auslandsgeheimdienst der Staatssicherheit, die Hauptverwaltung A (HV A), zu suchen. Werner Stiller war dafür offen und wurde schließlich 1970 als Inoffizieller Mitarbeiter "Stahlmann" angeworben und an seinen Führungsoffizier "Werner" übergeben.
Für die Geheimpolizei fertigte er in der Folge Personeneinschätzungen, erledigte Personen- und Objektermittlungen, legte Tote Briefkästen (TBK) an und knüpfte auf der Leipziger Messe Kontakte zu Ausstellern. Dabei bewährte er sich in den Augen seines Führungsoffiziers "Werner". Es folgte eine Anstellung bei der Physikalischen Gesellschaft der DDR, die offiziell die Förderung des internationalen Wissensaustausch anstrebte, aber auch eine Plattform für die HV A war, um "Kontaktarbeit ins Operationsgebiet" durchzuführen, also westliche Wissenschaftler für das MfS zu werben. Wenig später wechselte Stiller direkt in die Hauptverwaltung A. Dort bekam er eine Stelle in der für Wissenschaft und Technik zuständigen Abteilung XIII.
In seinen Memoiren beschreibt Stiller, wie sehr ihn die Arbeit im Geheimdienst und das Leben in der DDR schon bald frustrierten. Er fasste den Entschluss, Kontakt zum Bundesnachrichtendienst (BND) aufzunehmen und mit dessen Hilfe die DDR zu verlassen. Mehrere Anläufe scheiterten jedoch. Anfang 1978 knüpfte er Kontakt zu Helga Michnowski, die als Kellnerin im Interhotel in Oberhof arbeitete. Über ihren in Coburg lebenden Bruder stellte er Kontakt zum BND her. Stiller und Michnowski lieferten von nun an über codierte Schreiben Informationen an den westdeutschen Geheimdienst.
Die Mitarbeiter des BND kommunizierten mit Hilfe von verschlüsselten Funksprüchen mit ihrem Informanten aus der HV A. Dies wiederum erregte schon bald Aufsehen bei der Hauptabteilung III, zuständig für Funkaufklärung und Funkabwehr. Die Spionageabwehr richtete daraufhin eine Fahndungsgruppe ein, die nach dem unbekannten "Schakal" suchte. Zudem fing die Postkontrolle des MfS (Abteilung M) einen verschlüsselten Brief "Schakals" an eine Deckadresse des BND ab. Trotzdem konnte Stiller Ende 1978 mikroverfilmte Unterlagen über einen Interzonenzug in den Westen schmuggeln.
Aufgrund mehrerer von ihr in den Westen abgesandten Postsendungen geriet die Staatssicherheit schließlich auf die Spur Helga Michnowskis, die unter dem Namen "Borste" bearbeitet wurde. Die Ermittlungen der Spionageabwehr der Staatssicherheit ergaben ein sich langsam verdichtendes Bild zweier Agenten, die aus der DDR in den Westen berichteten. Zeitgleich bereitete der BND die Ausschleusung Stillers, Michnowskis und ihres Sohnes vor.
Der westdeutsche Geheimdienst ließ Stiller gefälschte Ausweisdokument zukommen, die nach seiner Darstellung jedoch an der Grenze aufgefallen wären. Deshalb beschloss Stiller baldmöglichst auf eigene Faust zu fliehen. Am 18. Januar 1979 ging er nach Dienstschluss in sein Büro in "Haus 15" in der Stasi-Zentrale in Berlin-Lichtenberg und entwendete Unterlagen aus dem Tresor der Sekretärin seines Abteilungsleiters.
Mit Hilfe dieser Unterlagen gelang ihm am späten Abend die Flucht aus der DDR über die Agentenschleuse des Bahnhofs Friedrichstraße. Von West-Berlin aus flog er dann in die Bundesrepublik. Stillers Freundin Helga Michnowski war am gleichen Tag mit ihrem Sohn nach Polen gereist und wurde nach einigen Pannen mit Hilfe der bundesdeutschen Botschaft in Warschau ebenfalls in den Westen ausgeschleust. Seine Ehefrau, von der er sich da bereits entfremdet hatte, aber auch seine Tochter und seinen Sohn ließ Stiller in der DDR zurück.
Die Flucht Werner Stillers erzeugte im Ministerium eine tiefe Unsicherheit und zog eine intensive Fehlersuche nach sich. Die Spionageabteilung (HV A), die Spionageabwehr (HA II) und das Untersuchungsorgan (HA IX) des MfS setzten alles daran, die Hintergründe von Stillers Flucht aufzudecken und seiner habhaft zu werden. Eine Vielzahl von Unterlagen geben Einblicke in die umfangreichen Aktivitäten innerhalb des MfS. Sie dokumentieren aber auch, dass es bis zum Ende der DDR der Stasi nicht gelang, Stiller zu finden. Ein DDR-Staatsanwalt schloss den noch offenen Vorgang im Jahr 1990.
Das Leben Werner Stillers ist nach seiner Flucht und vor allem nach Ende der DDR in zahlreichen Büchern und Filmen beschrieben worden. Stiller hatte dem BND nicht nur zahlreiche Geheimpapiere und Einsichten in Funktionsweise des MfS geliefert, sondern trug auch maßgeblich zur Identifizierung eines Fotos des bis dahin im Westen quasi unbekannten Chefs der HV A, Markus Wolf, bei. Stiller, Michnowski und ihr Sohn wurden mit neuen Idenditäten ausgestattet. Der ehemalige Stasi-Offizier lebte in den USA, später in London, Frankfurt (Main) und Ungarn. 2016 starb er.