Abschrift eines Zeitungsartikels über den Flüchtlingsstrom von West nach Ost
Signatur: BStU, MfS, AS, Nr. 109/65, Bd. 9, Bl. 78-79-81
Aus verschiedenen Gründen kehrten Flüchtlinge aus der DDR wieder zurück in ihre Heimat. Die Gründe waren jedoch selten politisch motiviert.
Menschen, die aus der DDR geflüchtet waren, kehrten mitunter aus den verschiedensten Gründen nach einiger Zeit wieder zurück. Das SED-Regime hatte zu diesen Rückkehrern eine sehr zwiespältige Haltung. Einerseits befürchtete man, dass sich unter ihnen "vom Feind eingeschleuste Agenten" befänden – zumal die Gründe für die Rückkehr in die DDR selten politische waren. Andererseits waren die Rückkehrer prädestiniert, in der Öffentlichkeit die Vorzüge der DDR gegenüber der BRD zu propagieren. Gleiches galt auch für Zuziehende aus der Bundesrepublik. Aus diesem Grund errichtete die DDR zu Beginn der 50er Jahre an den Grenzübergangsstellen spezielle Baracken, die sogenannten Rückkehrerheime. In ihnen war auch die Staatssicherheit präsent, um die Rückkehrer und Neuankömmlinge zu überprüfen. Im Juni 1960 erschien in der französischen Tageszeitung "Le Monde" ein Zeitungsbericht, den die Stasi als Abschrift zu ihren Akten nahm. Er verdeutlicht die Ambivalenz von SED und MfS gegenüber den Zuzüglern.
Metadaten
Funktionäre es ableugnen, scheint dieses Gesetz immer noch in Kraft zu sein, und die Tatsache, daß es heute nicht angewendet wird, schafft die Drohung nicht aus der Welt. "Wenn es nicht bestünde, kämen noch mehr Menschen zurück", bekräftigen die Heimgekehrten.
Ein anderes, noch ernsteres Motiv, das hauptsächlich von den Frauen genannt wird: keine angesessenen Wohnungen in der Bundesrepublik, Zimmer in Untermiete für 80 bis 100 DM monatlich, Kind gezwungen, lange Monate ohne Bett im Wagen zu verbringen. Zahlreiche Familien führen bei ihrer Rückkehr in die Demokratische Republik ihr Mobiliar mit und überschreiten die Grenze mit Sack und Pack.
So bildet sich nach und nach – neben dem Strom aus dem Osten nach dem Westen – ein umgekehrter Strom aus dem Westen nach dem Osten, der die wirtschaftlichen Fortschritte der DDR erweitern und vervielfachen könnte.
Darf man daraus auf ein wachsendes Prestige des Regimes oder zumindest auf die tiefe Zugehörigkeit der Bürger, die zu ihm zurückkehren oder aus dem Westen zu ihm kommen, schließen? Offenbar nicht. Trotz der unleugbaren Fortschritte im Lebensstandard, trotz der mäßigen Mietpreise, trotz der verhältnismäßig billigen Preise für lebensnotwendige Waren - sogar für Dauergüter (der Wartburg kostet 17 000 Mark - , trotz der wirklich entscheidenden Fortschritte im Wohnungsbau (seit 1958 baut man im Verhältnis zur Kopfzahl der Bevölkerung ebensoviel Wohnungen wie in West-Berlin), trotz der Erfolge des Regimes auf außenpolitischer Ebene, namentlich bei den unterentwickelten oder entkolonisierten Ländern, trotz der Großtaten der sowjetischen Technik, trotz der Entspannung und trotz allem, was die Männer des Plans oder der Regierung tun, das Schicksal der Bevölkerung zu verbessern und es auf ein der Bundesrepublik vergleichbares Niveau zu heben, tritt die Masse dieser Bevölkerung nicht aus ihrer Apathie hervor.
”Indifferenz” ist das Wort, das man überall zu hören bekommt, wenn man die Einstellung von 99 Prozent der Bürger der DDR bezeichnet. Krasse Indifferenz, die weder durch das Wiederkäuen von Losun- gen noch durch eine Vielzahl von Demonstrationen, weder durch Propagandakampagnen — wenn sie nicht gerade, wie dies bei den Bauern der Fall ist , direkt die Interessen einer bestimmten Kategorie berühren - zu erschüttern ist. Wir müssen am 1. Mai die Fahnen hissen? Hissen wir sie eben. Wir müssen Spruchbänder für den 8. Mai ankleben? Kleben wir sie eben an. Wir müssen auf dem Marx-Engels- Platz marschieren? Marschieren wir eben. Manche Leute bezeichnen diese Indifferenz ohne Zögern als schlimmer als Aufruhr und behaupten, sie zögen einen offenen Widerstand vor. "Früher regte sich zumindest etwas, selbst in der Partei. Jetzt herrscht eine völlige starre Unbeweglichkeit . Seit der Geschichte mit Harich [Anmerkung: gemeint ist Wolfgang Harich] ist es auch in der Partei aus. Es gibt keine Diskussion, es gibt gar nichts mehr.”
Andere geben diese Indifferenz durchaus zu, vertrösten sich aber auf die Zukunft und setzen alle gegenwärtigen Schwierigkeiten auf die Rechnung der "Übergangsperiode". Aber „durch vieles Ver- sprechen, daß die letzten Kräfte dieses Mal eingesetzt werden, wird man sie schließlich wirklich erschöpfen”. Ostdeutschland überspringt Entwicklungsstufen, aber die Menschen folgen nicht nach...