Signatur: BStU, MfS, AU, Nr. 15/54, Bl. 202-204
In einem internen Schreiben übt die Organisation harsche Selbstkritik für ihr Versagen bei der Einschätzung des Volksaufstandes in der DDR. Das Papier war der Stasi im November 1953 in die Hände gefallen.
1953 entzündete sich an Normerhöhungen der gärende Unmut der DDR-Bürger. Aus spontanen Streiks von Arbeitern in Industriebetrieben und auf Baustellen in Ost-Berlin entwickelte sich ein Aufstand, der das ganze Land erfasste. Erst die Präsenz sowjetischer Truppen auf den Straßen des Landes brachte die Lage wieder unter Kontrolle der Staatsmacht.
Der Volksaufstand traf das MfS genauso unvorbereitet wie die SED-Führung. Weil die SED aber nicht akzeptieren konnte, dass große Teile der Bevölkerung ihre Politik ablehnten, deutete ihre Führung den Aufstand kurzerhand propagandistisch um. Es sei ein aus dem Ausland gesteuerter "faschistischer" Putsch gewesen.
Im November 1953 fielen der DDR-Staatssicherheit Dokumente des bundesdeutschen Nachrichtendienstes "Organisation Gehlen" aus der Zeit unmittelbar nach den Juni-Ereignissen in die Hände. Daraus wird unter anderem deutlich, dass die spontane Entstehung der Streikbewegung genauso wenig in das Weltbild der westdeutschen Nachrichtendienstler wie in das der DDR-Sicherheitsorgane passte.
Erst viel später ging den Mitarbeitern der "Organisation Gehlen" auf, dass sie sich wohl geirrt hatten. Ein Schreiben der Pullacher Zentrale vom 15. Juli 1953 enthält eine entsprechend harsche Selbstkritik. Der Geheimdienst habe während des Juni-Aufstandes den Kontakt zu seinen Quellen verloren. Diese Tatsache sei von den Quellenführern "gleichmütig zur Kenntnis" genommen worden. Sie hätten sich "Routinearbeiten" zugewandt, anstatt mit allen Mitteln zu versuchen, mit ihren Quellen Kontakt aufzunehmen.
(Beispiele:
Am 17.06. machten 2 P-Quellen in wichtigen Ministerien eine Vororientierung über beabsichtigte Änderungen der Plan-Tendenz um 180 Grad. eine Sowj. Angestellte berichtete, dass sich das Verhalten ihrer Vorgesetzten vollkommen verändert habe. Ein Reichsbahn-Ingenieur beruhigte die Westberliner S-Bahn-Dienststellen in offiziellem Auftrag und brachte zum Ausdruck, dass binnen Kürze alles wieder normal sein werde. [unterstrichen: Keine] dieser Meldungen wurde weitergegeben.)
Ein Bedürfnis, die Informationsgrundlage gerade wegen des Abgeschnittenseins von den Quellen durch enge Tuchfühlung mit den Sonderverbindungen bei KGU, BfJ, VPO. Ost-Büros, Gewerkschaften usw. zu verbreitern, bestand erstaunlicherweise nicht. Ebensowenig, wurde das brotlos gewordene Personal (Forscher, Tipper usw.) an die Sektorengrenzen geschickt, um persönliche Eindrücke zu sammeln (Augenbeobachtung) oder geflüchtete Demonstranten zu vernehmen.
b) Der Stand der A-Fall-Vorbereitungen erwies sich als in jeder Hinsicht unzureichend. Die vielfach gehandhabte, so bequeme Nachrichtenübermittlung bei Treffs in West-Berlin rächte sich jetzt. Zahlreiche Quellen waren noch nicht in GT-Verfahren eingewiesen. Ostberliner und westdeutsche Deckanschriften-Systeme bestanden nicht oder wurden nicht in Anspruch genommen. Sichere Schleusungsmöglichkeiten, geheime Telefonleitungen oder andere durch Absperr-Kordons unbeeinflussbare Nachrichtenübermittlungswege standen nicht zur Verfügung.
Dementsprechend schwiegen gerade die wichtigen Spitzenquellen auf dem Transport- und Wirtschaftsgebiet bis weit in den Juli hinein, während die Ü-Quellen wenigstens nach Aufhebung der Postsperre wieder in Erscheinung traten. Hier zeigte sich das groteske Bild, dass Quellen, die weitab von Berlin in der Provinz wohnten, eher meldeten als die in Berlin und Umgebung stationierten.
c) Die Erziehung zu streng auftragsgebundener Berichterstattung erwies sich als beträchtlicher Nachteil. Die Mehrzahl der Ü-Quellen streifte die Ereignisse in ihren Wohnorten nur ganz am Rande, einzelne ignorierten sie vollständig.
Insgesamt ist zu sagen, dass bei den Quellen ebenso wie beim Führungspersonal das Gefühl für die Bedeutung des Augenblicks weitgehend fehlte. Mangelndes politisches Fingerspitzengefühl und geringe Eigeninitiative beeinträchtigten die Nachrichtengebung negativ gerade in einem Augenblick, indem sie schon aus Prestigegründen (befreundete Seite und Regierungsstellen) qualitativ und quantitativ eine Spitzenleistung hätte darstellen müssen.
Als anerkennende Tatsache ist lediglich hervorzuheben, dass die systematische Erziehung zu ND-mässig richtigem Benehmen in allgemein vorbildlicher Zurückhaltung der Quellen während der Demonstrationen zur Auswirkung kam.
[Der Absatz wurde seitlich markiert]
Tipper sind eine Kategorie von inoffiziellen Mitarbeitern, die das MfS auf Personen hinweisen sollten ("tippen"), die als Kandidaten für die inoffizielle Arbeit (insbesondere im Operationsgebiet) in Frage kamen. Entsprechende Vorschläge sollte der Tipper mit konkreten "Ansatzpunkten" begründen. In der Regel verfügte er in der DDR über eine berufliche, politische oder gesellschaftliche Stellung, die ihm einen entsprechenden Überblick erlaubte. Darüber hinaus konnte der Tipper in einzelnen Fällen die Reaktion einer Person auf die Werbung zur inoffiziellen Arbeit überprüfen.
Ein Untersuchungsvorgang war eine bei einem strafrechtlichen Ermittlungsverfahren des MfS und ggf. dem späteren Gerichtsverfahren entstandene Akte, die den Hergang des Strafverfahrens widerspiegelt und auch häufig Informationen zur Strafvollstreckung enthält.
Untersuchungsvorgänge zeigen die offizielle wie auch die inoffizielle Ebene des Verfahrens. Sie enthalten sowohl das strafprozessual legale Material (Haftbefehl, Vernehmungsprotokolle, Anklageschrift, Verhandlungsprotokoll, Urteil u. a.) als auch Dokumente geheimpolizeilichen Charakters, etwa zu konspirativen Ermittlungsmaßnahmen operativer Abteilungen oder Berichte von Zelleninformatoren.
Ein archivierter Untersuchungsvorgang kann bis zu sieben Bestandteile umfassen: Gerichtsakte, Beiakte zur Gerichtsakte, Handakte zur Gerichtsakte, Handakte zum Ermittlungsverfahren, Beiakte zur Handakte des Ermittlungsverfahrens, manchmal auch Vollstreckungsakten und ggf. die Akte des Revisions- oder Kassationsverfahrens.
Zur Seite 1 wechseln
aktuelle Seite 2
Zur Seite 3 wechseln
Signatur: BStU, MfS, AU, Nr. 15/54, Bl. 202-204
In einem internen Schreiben übt die Organisation harsche Selbstkritik für ihr Versagen bei der Einschätzung des Volksaufstandes in der DDR. Das Papier war der Stasi im November 1953 in die Hände gefallen.
1953 entzündete sich an Normerhöhungen der gärende Unmut der DDR-Bürger. Aus spontanen Streiks von Arbeitern in Industriebetrieben und auf Baustellen in Ost-Berlin entwickelte sich ein Aufstand, der das ganze Land erfasste. Erst die Präsenz sowjetischer Truppen auf den Straßen des Landes brachte die Lage wieder unter Kontrolle der Staatsmacht.
Der Volksaufstand traf das MfS genauso unvorbereitet wie die SED-Führung. Weil die SED aber nicht akzeptieren konnte, dass große Teile der Bevölkerung ihre Politik ablehnten, deutete ihre Führung den Aufstand kurzerhand propagandistisch um. Es sei ein aus dem Ausland gesteuerter "faschistischer" Putsch gewesen.
Im November 1953 fielen der DDR-Staatssicherheit Dokumente des bundesdeutschen Nachrichtendienstes "Organisation Gehlen" aus der Zeit unmittelbar nach den Juni-Ereignissen in die Hände. Daraus wird unter anderem deutlich, dass die spontane Entstehung der Streikbewegung genauso wenig in das Weltbild der westdeutschen Nachrichtendienstler wie in das der DDR-Sicherheitsorgane passte.
Erst viel später ging den Mitarbeitern der "Organisation Gehlen" auf, dass sie sich wohl geirrt hatten. Ein Schreiben der Pullacher Zentrale vom 15. Juli 1953 enthält eine entsprechend harsche Selbstkritik. Der Geheimdienst habe während des Juni-Aufstandes den Kontakt zu seinen Quellen verloren. Diese Tatsache sei von den Quellenführern "gleichmütig zur Kenntnis" genommen worden. Sie hätten sich "Routinearbeiten" zugewandt, anstatt mit allen Mitteln zu versuchen, mit ihren Quellen Kontakt aufzunehmen.
4. Allen denen, die es auf der Jagd nach dem Augenblickserfolg [unterstrichen: trotz laufender Warnungen] unterliessen, für eine [unterstrichen: krisenfeste] Nachrichtenübermittlung zu sorgen, mag der 17.06.1953 als drastische Belehrung dienen:
[unterstrichen: Ein Nachrichtendienst, dessen Berichterstattung im entscheidenden Augenblick aussetzt, verliert seinen Sinn und seine Daseinsberechtigung.]
5. [unterstrichen:Konsequenzen:]
a) Erstellung der A- und E-Fall-Kalender für alle Quellen (Kontakt-Konditionen).
b) Ausbildung aller Quellen in den Methoden der geheimen Nachrichtenübermittlung (Schlüssel, Tinten, Fotoverfahren usw.)
c) Allround-Schulung aller V-Leute, besonders in politischer Hinsicht (Erkennen von Indikationen).
d) Einrichtung westdeutscher und Ostberliner (Einzugsgebiet) Deckanschriften-Systeme.
e) Werbung von jenseitigen Kurieren, welche die Verbindung mit Quellen in [unterstrichen: jeder] Situation sicherstellen.
f) Verlegung mindestens einer geheimen Telefonleitung je Filiale oder Inanspruchnahme ähnlicher Nachrichtenmittel, die eine durch Absperr-Kordons unbeeinflussbare Nachrichtenübermittlung, gegebenenfalls auch unmittelbare Gespräche mit einzelnen, besonders wertvollen Spitzenquellen gewährleisten (Sprechfunk ungeeignet, da nicht abhörsicher).
g) Geländemässige Erkundung der Sektorengrenzen und Zonengrenzen mit dem Ziel, sichere Schleusungsmöglichkeiten zu finden (hier kann wenig ausgelastetes Hilfspersonal hinzugezogen werden),
h) [unterstrichen: Werbung von Afus.]
[unterstrichen: Anmerkung:]
Bei der Verlegung geheimer Telefonleitungen ist folgendes zu berücksichtigen:
a) Sprechstellen jenseits und diesseits müssen ausserhalb einer möglichen Sicherheitszone liegen.
b) Verlegung im allgemeinen nur durch Gewässer. (Kabel muss mit Gewichten beschwert werden, damit es verschlammt. Beachten, dass Gewässer vermieden werden, in denen Baggerarbeiten stattfinden !)
c) Annäherung an Sprechstellen muss - insbesondere jenseits - mit einer jederzeit zu begründeten Gepflogenheit des Sprechers verbunden sein. Sprechstelle ist so auszuwählen, dass Benutzung zu jeder Jahreszeit möglich (auch bei strenger Kälte).
Ein Untersuchungsvorgang war eine bei einem strafrechtlichen Ermittlungsverfahren des MfS und ggf. dem späteren Gerichtsverfahren entstandene Akte, die den Hergang des Strafverfahrens widerspiegelt und auch häufig Informationen zur Strafvollstreckung enthält.
Untersuchungsvorgänge zeigen die offizielle wie auch die inoffizielle Ebene des Verfahrens. Sie enthalten sowohl das strafprozessual legale Material (Haftbefehl, Vernehmungsprotokolle, Anklageschrift, Verhandlungsprotokoll, Urteil u. a.) als auch Dokumente geheimpolizeilichen Charakters, etwa zu konspirativen Ermittlungsmaßnahmen operativer Abteilungen oder Berichte von Zelleninformatoren.
Ein archivierter Untersuchungsvorgang kann bis zu sieben Bestandteile umfassen: Gerichtsakte, Beiakte zur Gerichtsakte, Handakte zur Gerichtsakte, Handakte zum Ermittlungsverfahren, Beiakte zur Handakte des Ermittlungsverfahrens, manchmal auch Vollstreckungsakten und ggf. die Akte des Revisions- oder Kassationsverfahrens.
Bei der Werbung handelte es sich um die Herbeiführung einer Entscheidung von Personen (IM-Kandidat) zur inoffiziellen Zusammenarbeit mit dem MfS (bis 1968 auch gebräuchlicher bezeichnet als Anwerbung).
Im Operationsgebiet gab es selten auch die Werbung unter falscher Flagge, bei der ein Mitarbeiter des MfS als Angehöriger einer anderen Einrichtung getarnt in Erscheinung trat. Die Durchführung der Werbung war sorgfältig vorzubereiten und hatte in einen Werbungsvorschlag zu münden, der von übergeordneten Leitern bestätigt werden musste. Der Vorschlag sollte eine Analyse der Kandidatenpersönlichkeit, das Werbungsziel, die "Werbungsgrundlage" und das methodische Vorgehen, Zeit, Ort und Inhalt des geplanten "Werbegesprächs", Verhaltensvarianten, Art und Weise der Verpflichtung sowie alle Absicherungsmaßnahmen enthalten. Die getroffenen Festlegungen waren in einem Bericht zu dokumentieren.
Häufig gingen dem eigentlichen Werbungsgespräch Kontaktgespräche voraus, bei denen der Kandidat allmählich an die Werbung herangeführt werden sollte. Bei der Werbung sollten auch Interessen des Kandidaten eine Rolle spielen, da das MfS davon ausging, dass dieser für sich "Aufwand, Nutzen und Risiko" gegeneinander abwägen würde.
Das MfS unterschied drei kategorial unterschiedliche "Werbungsgrundlagen":
Letztere spielten häufig bei Werbung unter Druck, zum Beispiel unter Heranziehung kompromitierender Informationen (Kompromat) eine Rolle.
Bei der Werbung war dem Kandidaten möglichst das Gefühl zu geben, seine Entscheidung würde frei und wohlüberlegt fallen. Ihre Ernsthaftigkeit sollte durch die Preisgabe interner beruflicher oder privater Kenntnisse unterstrichen werden. Ziel der Werbung war im Regelfall eine förmliche Verpflichtung. Teil der Werbung war ein erster operativer Auftrag. Die vorab getroffenen Festlegungen waren im Werbungsvorschlag, die durchgeführte Werbung im Werbungsbericht zu dokumentieren.
Zur Seite 1 wechseln
Zur Seite 2 wechseln
aktuelle Seite 3
Schreiben der Organisation Gehlen zur Politischen Gesamtlage in der DDR Dokument, 2 Seiten
Propagandabroschüre zum Volksaufstand des 17. Juni 1953 Dokument, 34 Seiten
Zeugenvernehmung von Wolfgang Paul Höher im Spionageprozess gegen Werner Haase und Weitere Audio, 1 Stunde, 28 Minuten, 24 Sekunden
Plädoyer des Generalstaatsanwaltes im Schauprozesses gegen Werner Haase und Weitere wegen Spionage für die Organisation Gehlen Audio, 58 Minuten, 47 Sekunden